UDC 811.112.2
Ch. GANSEL Universität Greifswald, Deutschland
RISIKO- UND ANGSTKOMMUNIKATION IN DER CORONA-PANDEMIE: MULTIMODALE KOMMUNIKATION UND IHRE PERSUASIVE FUNKTION
For citation: Gansel Ch. Risiko- und Angstkommunikation in der Corona-Pande-mie: multimodale Kommunikation und ihre persuasive Funktion. German Philology in St Petersburg State University, 2022, iss. 12, pp. 304-327. https://doi.org/10.21638/spbu33.2022.116
Gegenstand des Beitrags ist die durch die Coronapandemie seit 2020 indizierte angstbezogene Kommunikation in deutschen journalistischen Medien. Angstkommunikation wird in dem Beitrag als Resonanzverstärker betrachtet, der von allen funktionalen Systemen der Gesellschaft bearbeitet werden kann, jedoch von einem Individuum nur selbst als Emotion im Bewusstsein zu verarbeiten ist. Der Beitrag untersucht nicht die Evozierung von Angst in einem Individuum, sondern sucht theoretisch zu erfassen, wie Angst kommuniziert wird. Dabei spielen das symbolisch generalisierte Medium der journalistischen Medien sowie die darauf bezogene Codierung von Kommunikation eine besondere Rolle. Angstbezogene Kommunikation gründet sich in der Informationsselektion und der beständigen Unterscheidung von Information und Nichtinformation in den journalistischen Medien. Sie wird zur Meinungsbildung zielgerichtet eingesetzt und soll politische Entscheidungen helfen zu legitimieren. Es werden Befunde zu sprachlichen Strategien der angstbezogenen Kommunikation herausgearbeitet und mit Beispielen belegt. Zu den Strategien gehören die Verwendung von Neologismen in bestimmten Bedeutungen, Bedeutungsverschlechterungen, die Wahl von Fotos in der Text-Bild-Interaktion sowie Metaphern.
Schlüsselwörter: angstbezogene Kommunikation, System der Massenmedien, Eigenlogik, Selektion, Neologismen, Bedeutungsverschlechterung, Metapher.
Ch. GANSEL University of Greifswald, Germany
RISK AND FEAR COMMUNICATION IN THE CORONA PANDEMIC: MULTIMODAL COMMUNICATION AND ITS PERSUASIVE FUNCTION
The subject of this article is the fear-related communication in German journalistic media indexed by the COVID pandemic since 2020. Fear communication is considered in the article as a resonance amplifier that can be processed by all functional systems of society, but can only be processed by an individual as an emotion in consciousness. The article does not examine the evocation of fear in an individual, but seeks to grasp theoretically how fear is communicated. The symbolically generalized medium of journalistic media and the coding of communication related to it play a
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special role. Fear-related communication is based on information selection and the constant differentiation between information and non-information in the journalistic media. It is used purposefully to form opinions and to help legitimize political decisions. Findings on linguistic strategies of fear-related communication are elaborated and substantiated with examples. The strategies include the use of neologisms in certain meanings, degradations of meaning, the choice of photos in text-image interaction as well as metaphors.
Keywords: anxiety-related communication, mass media system, self-logic, selection, neologisms, deterioration of meaning, metaphor.
1. Systemtheoretischer Medienbegriff und angstbezogene Kommunikation
Die öffentliche politische und massenmediale Kommunikation im Rahmen der Corona-Pandemie wird in verstärktem Maße als Risiko-und Angstkommunikation, die zur Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte, Impfbefürworter und Impfskeptiker oder Impfgegner führe, wahrgenommen. Bei Angst nun handelt es sich um einen Begriff aus der Psychologie, der eine emotionale Verfasstheit beschreibt: Angst ist
ein in der Regel mit physiologischen Erscheinungen wie schnelle Atmung, Schwitzen, Zittern, Herzklopfen einhergehender unangenehmer emotionaler Zustand, der vor allem dann auftritt, wenn Meidungsmotivationen frustriert werden, d.h. wenn das Individuum bei Vorhandensein eines Zieles mit negativer Valenz keine Möglichkeit hat, sich der Situation zu entziehen. Unter diesen Bedingungen kann Angst gelernt und generalisiert werden [Wörterbuch Psychologie 1983: 32].
Zu fragen ist in diesem Beitrag, worauf die Beobachtung von angstbezogener Kommunikation während der Corona-Pandemie in Deutschland beruht.
Das Bundesinnenministerium erarbeitete im März 2020 unter Mitarbeit externer Wissenschaftler ein Szenarienpapier mit dem Titel „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen" zunächst als Verschlusssache. Am 01. April 2020 wurde es auf der Webseite „FragDenStaat" der Öffentlichkeit zugänglich gemacht [Szenarienpapier...]1. Im Punkt vier
1 Das Szenarienpapier „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen" ist seit einiger Zeit nicht mehr verfügbar. Anfragen zu dem Papier und somit Hinweise zu seiner Existenz finden sich auf https://fragdenstaat.de oder https://bundestag.de (beide gesehen am 20.08.2022). So wird auf fragdenstaat.de beispielsweise die folgende Anfrage einsehbar: „Das Szenarienpapier „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekom-
des Papiers werden „Schlussfolgerungen für Maßnahmen und offene Kommunikation" dargelegt: „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden". Als mögliche Vorgaben zur Erreichung dieses kommunikativen Ziels, werden bildlich gesprochene Szenarien für eine Argumentation entwickelt, die an die „Urangst" anschließen sollen oder die Folgen einer Covid-Erkrankung ins Bewusstsein rücken. Ein zweiter Punkt geht auf die Kommunikation in Hinsicht auf Kinder in der Pandemie ein:
'Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden': Falsch. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z. B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z. B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann [Szenarienpapier...].
Zu schlussfolgern ist aus diesem Papier, dass ein Erfordernis allem Anschein nach darin bestand und besteht, die Bevölkerung argumenta-tiv in einen Angstzustand zu versetzen, um entsprechende Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung der Pandemie durchzusetzen. Die Anforderungen an diese Art der Kommunikation sind an Institutionen gerichtet, die das Pandemiemanagement betreiben, an die Politik sowie die journalistischen Massenmedien in Print, Hörfunk oder digital.
Ein solcher Ansatz impliziert im Sinne Niklas Luhmanns [vgl. Luh-mann 1988: 216-218], dass Kommunikation etwas Unwahrscheinliches ist. Luhmann geht davon aus, dass Kommunikation aufgrund ihrer Komplexität eher unwahrscheinlich ist, denn sie kann nur kontextgebunden (1) verstanden werden. Unwahrscheinlich ist es, in der Kommunikation mehr Adressaten zu erreichen, als sie in der konkreten kommunikativen Situation zugegen sind (2); unwahrscheinlich ist auch der Erfolg, ob Kommunikation, wenn sie verstanden wurde, auch angenommen oder befolgt wird (3) beispielsweise im Handeln nach bestimmten Direktiven, wie sie in der Pandemie als Hygieneverordnungen herausgegeben wurden. Im Laufe kommunikativer und gesellschaftlicher Evolution, so [Luhmann 1988: 219], sind Unwahrscheinlichkeiten der Kommunikation überwunden und in „Wahrscheinlichkeiten transformiert" worden. Aussichtsreiche Kommunikationen konsolidieren sich in spezifischen
men" wurde unter Mitwirkung des BMI im März 2020 durch externe Wissenschaftler erarbeitet. Welche externen Wissenschaftler sind für das Papier verantwortlich?"
und typischen Kommunikationen von sozialen Systemen. Beobachtbar ist dieser Prozess seit dem 18. Jahrhundert, in dem Wissenschaft, Recht, Erziehung, Wirtschaft, Politik oder Kunst ihre Eigenlogiken für Kommunikationen ausprägen. Wirtschaft kommuniziert im symbolisch generalisierten Medium „Geld", Wissenschaft im Medium „Wahrheit", Politik im Medium „Macht".
Die Wahl von Angstthemen in der Kommunikation bezeichnet [Luhmann 2008: 157] als einen „Resonanzverstärker", der quer zu den funktionalen Systemen der Gesellschaft seine Wirksamkeit entfaltet und so Kommunikation wahrscheinlicher macht, jedoch „von den Funktionssystemen aus nicht zu kontrollieren" sei [Luhmann 2008: 157]. Denn Angst ist psychischen Systemen als ein emotionaler Zustand eigen, und diesen kann Politik nicht beherrschen. Er hebt jedoch gleichfalls hervor, dass „gerade bessere Funktionsleistung <...> mit mehr Angst korrelieren (kann), ohne sie beheben zu können" [Luhmann 2008: 157]. Ausgehend von den benannten Szenarien ist es also die Emotion der Angst, auf die sich die Politik in der Kommunikation in der Pandemiesituation stützt, um ihre Ziele zu erreichen.
Das oben zitierte Szenarienpapier wählt mit Bezug auf Kommunikation bewusst Angstthemen, die Besorgtheit der Regierung zum Ausdruck bringen sollen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass diese Sorge der Politik in sprachlichen Äußerungen vehement mit dem Verb sich sorgen benannt wird (formelhaft: X sorgt sich, X macht sich (große) Sorgen, X sagt, die Sorge ist berechtigt).
Angst als psychische Realität ist dabei nicht von Belang, wichtig ist ihre „kommunikative Aktualität" [Luhmann 2008: 161]. So drückt die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel vielfach in ihren Reden ihre Sorge über die pandemischen Entwicklungen und die Gefahren für die Bevölkerung und das überlastete Gesundheitswesen aus und wird in der Presse — wie auch weiterhin der Gesundheitsminister — mit ihrer Sorge entsprechend zitiert. Diese Sorge bleibt zumeist unwidersprochen, denn die Gefahren, die von dem Virus ausgehen, sind bekannt. Luhmann dazu: „Wenn Angst kommuniziert wird und im Kommunikationsprozeß nicht bestritten werden kann, gewinnt sie eine moralische Existenz. Sie macht es zur Pflicht, sich Sorgen zu machen, und zum Recht, Anteilnahme an Befürchtungen zu erwarten und Maßnahmen zur Abwehr der Gefahren zu fordern" [Luhmann 2008: 161]. Auf diese Weise kann die Pandemiekommunikation über Angst mit Moral aufgeladen werden. Mit Bezug auf die ökologische Kommunikation formuliert Luhmann:
In der öffentlichen Rhetorik wird Angst zum Prinzip der Selbstbehauptung hochstilisiert. Wer Angst hat, ist moralisch im Recht, besonders wenn er für andere Angst hat und seine Angst einem anerkannten, nicht pathologischen Typus zugerechnet werden kann. Trotz dieser deutlichen semantischen Konturen läßt sich kein System für Angstbewältigung ausdifferenzieren [Luhmann 2008: 160].
Damit ist gemeint, dass Angst nur im Bewusstsein eines Individuums selbst bewältigt werden kann.
Nun ist es nicht von der Hand zu weisen, dass in der Pandemiesitua-tion jedes Individuum von Angstrhetorik umgeben ist und diese in unterschiedlicher Weise wahrnimmt und verarbeitet. Eine wesentliche Rolle spielen dabei journalistische Medien. Wie für andere Medien — Film oder Videospiele — gilt für Beiträge in der Tages- oder Online-Presse, dass in der Pandemiekommunikation in Bild und Text Emotionen wie Furcht, Scham, Hass oder Schuld angesprochen werden können. Geht man wie Eckoldt [vgl. Eckoldt 2007: 202] davon aus, dass journalistische Medien im symbolisch generalisierten Medium Aufmerksamkeit operieren, so könnte die Angstkommunikation im Sinne der Nachrichtenwerttheorie als attrahierende negative Größe mit Aufmerksamkeit steigerndem Wert interpretiert werden. Der Gewinn von Aufmerksamkeit bzw. die Rezipientenbindung an das Medium selbst kann dabei nicht allein in Betracht gezogen werden. Vielmehr ist die Leistung der Massenmedien für die Gesellschaft zu beleuchten. Luhmann sieht diese in der „Formung öffentlicher Meinung" [Krause 2005: 50]. Wenn nun angstbezogene Kommunikation ein Resonanzprinzip ist, „das Bestimmtes vergrößert und anderes abdunkelt" [Luhmann 2008: 160], ist sie mit einer persuasiven Funktion verbunden — bezogen auf das Pandemiegesche-hen ist es die Funktion, Entscheidungen in der Vorgabe durch Gesetze oder Verordnungen zu legitimieren. Die Angst vor Erkrankung und Tod soll Akzeptanz für das Infektionsschutzgesetz, Hygieneverordnungen oder Kontaktbeschränkungen fördern.
2. Linguistischer Modalitätsbegriff: Text-Bild-Interaktion
In linguistischer Perspektive kann nun nicht die Angst, die sich in Personen als Gefühl ausbreitet, untersucht werden. Dazu wären Rezipi-entenbefragungen erforderlich. Geprüft werden soll anhand von Kommunikaten in der Tages- und Onlinepresse, welcher Typ von Rhetorik
angstbezogene Kommunikation befördert und für Wahrnehmung zur Verfügung steht.
Dass Multimedialität dabei gerade in der massenmedialen Kommunikation eine zentrale Rolle spielt, erscheint offensichtlich. Sie wird hier im Sinne von Stöckl [Stöckl 2004] und Zebrowska [Zebrowska 2013: 92] gefasst als „eine Strukturierung von Texten mit unterschiedlichen semiotischen Ressourcen". Die häufigste Kombination von unterschiedlichen Zeichensystemen findet sich in der Verbindung von „statische(m) Bild und Text", wie [Zebrowska 2013: 91] herausstellt, und ist in der Berichterstattung zur Pandemie in den journalistischen Massenmedien unübersehbar präsent. Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Angst in Hinsicht auf die mangelnde Wahrnehmbarkeit des Klimawandels stellen Lickhardt und Werber [Lickhardt, Werber 2013: 370] fest, „dass gerade der sinnliche Entzug des Phänomens besonders unheimlich und bedrohlich wirkt". Allerdings ist nicht zu übersehen, dass sowohl der Klimawandel als auch die Corona-Pandemie massenmediale Darstellungen hervorrufen, die sehr wohl bedrohlich wirken können, indem das entsprechende Phänomen in einer „medialisierten Übergröße" [Lickhardt, Werber 2013: 372] präsentiert wird. Bildliche, fotographische Darstellungen heraufziehender dunkler und bedrohlicher Wolken über abgeernteten Feldern symbolisieren prototypisch die ökologischen Gefährdungen [vgl. Gansel 2020: 71]. Die übergroße sowie teilweise recht ästhetische Modellierung des Corona-Virus als Kugel mit seinen Spikes im Hintergrund von TV-Nachrichtensendungen oder hundertfach wiederholte Abbildungen einer Spritze samt Impfstoff, der Blick in eine Intensivstation oder ein Foto der Verabreichung einer Injektion erscheinen als Strategien der Verbildlichung von Gefahren für die Gesundheit oder ihres Schutzes und stehen im Dienst einer persuasiven Funktion, nämlich, die Notwendigkeit einer Injektion als vornehmlich einzigen Schutz gegen das Virus plausibel zu machen und die Impfbereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen.
Derartige Fotos erscheinen äußerst gängig und begegnen einem bei jedem Blick in google-Nachrichten in den vergangenen 20 Monaten. Um ein Beispiel zu geben: in den google-Nachrichten erscheint am 15. Januar 2022 ein Focus-Online Artikel vom 14. Januar 2022 / 16:23 mit den Überschriften „Erst Frankreich-Variante, dann ,Deltracron'. Kommt jetzt noch die Super-Mutation? Das sagen die Corona-Experten". Darunter die übliche übergroße Virusabbildung mit weiterhin umherschwirrenden Viren in einer gelb-orange-roten ringförmigen Umgebung. Unter-
halb des Bildes die dazugehörige Unterschrift: „Virologen schätzen das Risiko einer komplett veränderten Mutation als gering ein" [Kommt jetzt noch.]. Damit ist eigentlich alles gesagt und im Text kommen mehrere Virologen zu Wort, die eine eher zuversichtliche Zukunft in Hinblick auf eine endemische Situation auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse zeichnen. Aber schon im folgend aufgeführten Artikel warnt ein Oberarzt vor gefährlichem Omikron-Trugschluss: „Der Booster ist unverzichtbar" [Kommt jetzt noch.]. Das dazugehörige Video wird mit einem personalisierten Foto sowie einer prototypischen COVID-19-Virus-Abbil-dung illustriert.
Auch die Tageszeitung Nordkurier für das Bundesland MecklenburgVorpommern nutz diese prototypischen Fotos in Verbindung mit ihren redaktionellen Beiträgen. Die Ausgabe vom 20. Dezember 2021 überschreibt ihren Beitrag mit der Überschrift „Impfpflicht: Körperverletzung oder eine notwendige Maßnahme?" [Impfpflicht.: 4]. Dazu wird das prototypisch konventionalisierte Foto einer Spritze gesetzt, die sich in einen Oberarm bohrt, ein Mensch, der die Spritze verabreicht mit Handschuhen und in Schutzbekleidung. In der Ausgabe vom 11. Januar 2022 ist eine sehr große Überschrift mit dem verharmlosenden Ausdruck „Piks" zu lesen: „Mit dem Piks gegen Omikron: Wie gut schützt die (Booster-)Impfung?" [Kaukemüller 2022: 18] Ergänzt wird der Text durch ein Foto mit dem bereits beschriebenen Sujet. Beide Fotos erscheinen in der Größe von 12 mal 13 Zentimetern. Der Text wird um das Foto herum angeordnet. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, welche Benennungen die Injektion mit einem bisher unbekannten und neuen Medikament in den benannten Ausgaben erfährt: Körperverletzung — Maßnahme — Piks. Während das Lexem Körperverletzung negativ konnotiert ist, wirkt das Lexem Maßnahme im Sinne einer Obligation und Verpflichtung. Das Lexem Piks, das im deutschen Sprachgebrauch langläufig gebraucht wird, wirkt verharmlosend und steht im Kontrast zum Foto, denn Schutzkleidung und Handschuhe sprechen für Gefährlichkeit. In der Ausgabe des Nordkurier vom 18. Januar 2022 wird der Beitrag „Ein impfender Minister auf Werbetour" [Becker 2022: 3] mit einem Foto verbunden, das die folgende Bildunterschrift trägt: „Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach griff gestern im Impfzentrum in Schwerin selbst zur Spritze und setzte fachgerecht einen Piks in den Oberarm". DUDEN-online notiert zur Bedeutung des Substantivs „Piks" = „(kleiner, wenig schmerzhafter) Einstich in oder durch die Haut". In der lexikalischen Bedeutung erscheint also lediglich das Stechen salient.
Die Vermutung, dass das „Coronawörterbuch" des Instituts für Deutsche Sprache das Lexem auflistet, da sich möglicherweise in der Corona-Pan-demie eine Abwandlungsvariante herausgebildet hat, wird enttäuscht.
Eine Recherche in COSMAS II ergab, dass das Lexem Piks im Zusammenhang mit Blutspenden oder Diabetes bereits in den Jahrzehnten vor den 1990er Jahren Verwendung fand. Im Zusammenhang mit Impfungen taucht es in der Mitte der 1990er Jahre auf. Der erste Beleg im Zusammenhang mit einer Impfung findet sich in der Süddeutschen Zeitung:
Bei Säuglingen sollte der Arzt die Impfnadel besser am Bein als am Arm ansetzen. Denn wird ein Impfstoff in den Oberschenkel gepritzt, hat er dort weniger lokale Nebenwirkungen. Dies ist das Ergebnis einer Studie an der Universität Mainz unter Leitung von Heinz-Josef Schmitt. 110 Säuglinge wurden dort dreimal im Abstand von jeweils vier Wochen gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten sowie gegen Erkrankungen durch den Erreger Haemophilus influenzae geimpft. 71 Prozent der kleinen Patienten hatten nach dem dritten Piks in den Arm eine leicht gerötete Haut an der Einstichstelle; bei Kindern, die die Injektionen in den Oberschenkel bekamen, waren es nur 30 Prozent. Minimale Schwellungen am Arm gab es viermal häufiger als am Bein. Bei allen Kindern hatte die Impfung die gewünschte Wirkung (Süddeutsche Zeitung, 16.11.1995, S. 29, Ressort: UMWELT; Impfung bei Säuglingen besser ins Bein)2.
In der Frankfurter Rundschau vom 17.03.1997, S. 17, Ressort: FRANKFURTER STADT-RUNDSCHAU findet sich der Beitrag „Spritze auf dem Spielplatz / Noch drei Monate Ungewißheit / Gesundheitsamt. Ein Piks macht Eltern Angst: Wurde ihr Sohn mit HIV-Virus infiziert?" Die Verwendung von Piks geht also auf den Kontext zurück, dass „kleine Patienten" geimpft werden und hier die Impfung gegenüber diesen verharmlost wird, um Angst zu vermeiden. Im zweiten Beleg ist der Piks dann jedoch mit Gefahr verbunden. Inzwischen werden Kleinkinder mit einer Vier- oder Sechsfachimpfung gegen etliche Kinderkrankheiten und Infektionsmöglichkeiten versehen. Auch in diesem Zusammenhang sind in den Texten der Korpora zur Schriftsprache in COSMAS II Verwendungen des Lexems „Piks" üblich. Das Jahr 2020 zeigt in der Cosmas-Recherche, die sich auf Massenmedien bezieht, die meisten Belege — 144 Treffer in 128 Texten. Allerdings sagt Piks, das nun met-
2 Verfügbar unter: https://cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2-web/ (gesehen am 15.01.2022).
onymisch generell für Impfung steht, in seiner Bedeutung nichts über den Inhalt des Impfstoffes aus und blendet zudem aus, dass man an einem Piks nicht stirbt, eine Impfung gelegentlich doch zum Tode führen kann. So wird in der Sprache der Corona-Pandemie Piks auch weiterhin verharmlosend mit Bezug auf Kinder und Erwachsene verwendet. Dies steht in Verbindung damit, dass eine offene und kritische Diskussion über die neue Impfstofftechnologie mit mRNA-Impfstoffen bzw. VektorImpfstoffen und über Impfnebenwirkungen kaum oder gar nicht stattfindet. Die Verharmlosung wird nunmehr also zur Besänftigung, zum Angstabbau genutzt.
Im Nordkurier vom 22. Dezember 2021 [Peters 2021: 12] wird der Beitrag „Deutlich mehr Corona-Patienten auf den Intensivstationen als geplant" durch den Blick in eine Intensivstation (medizinisches Personal in Schutzkleidung, gebeugt über eine nicht sichtbare Person umgeben von Apparaten) illustriert. Die Unterschrift zum Bild lautet: „Eigentlich sind viel weniger Intensivbetten für Corona-Patienten vorgesehen, als gegenwärtig in den hiesigen Krankenhäusern belegt sind" [Peters 2021: 12]. Das präsupponierte Weltwissen, dass nämlich während der Pandemie etwa 4.800 Krankenhausbetten in Deutschland abgebaut wurden, führt zu der Implikatur, dass es durchaus mehr Betten hätte geben können. Es entsteht jedoch der Eindruck einer Überbelegung und Überlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen durch die Pandemie, was einem gängigen Narrativ folgt.
3. Selektivität und Strategien in der Rhetorik der Angst 3.1. Zur Eigenlogik der journalistischen Massenmedien
Im folgenden Abschnitt dieses Beitrags geht es um Aspekte der Selektivität einer Rhetorik der Angst, wie Luhmann sie beschreibt und wie sie in Hinblick auf massenmediale journalistische Kommunikation erläutert werden soll. So formuliert er: „Selektiv ist die Rhetorik der Angst auch insofern, als sie die Entwicklung zum Schlimmeren betont und die vielen bemerkenswerten Fortschritte <...> verschweigt" [Luhmann 2008: 160]. Dass Selektivität nicht nur für angstbezogene Kommunikation, sondern generell in der Kommunikation der Massenmedien ein zentraler Aspekt ist, soll nachfolgend gezeigt werden.
Für die Massenmedien der Gesellschaft als funktionales System sind vor diesem Hintergrund zunächst das symbolisch generalisierte Medi-
um und die darauf bezogene binäre Codierung zu bestimmen. Zu diesem Zweck werden Luhmanns Erkenntnisse zur Wirklichkeitskonstruktion in den Massenmedien herangezogen. Der folgende erste Satz aus Luhmanns Werk „Die Realität der Massenmedien" wird oft zitiert: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien" [Luhmann 2009: 9]. In diskurslinguistischen Arbeiten wird dieser Satz durchaus ernst genommen. Allerdings heißt es ein paar Sätze weiter bei Luhmann:
Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt [Luhmann 2009: 9].
Dieses Paradox erklärt Luhmann in seinen Überlegungen eben nicht mit dem Konzept der Manipulation, sondern mit einem Effekt der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft und beschreibt das „Eigenverhalten" des Systems. In der Suche nach einem „geneigten Publikum" [Luhmann 2009: 12] konstruieren die Massenmedien eine Realität in dem Sinne, „was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint" [Luhmann 2009: 12; Hervorhebung im Original]. Dabei ist von Vorteil, dass in massenmedialer Kommunikation die Interaktion unter Anwesenden durch die „Zwischenschaltung von Technik" [Luhmann 2009: 10] ausgeschlossen ist. Eine spontane Reaktion auf Äußerungen, wie es in der Face-to-Face-Situation erfolgen kann, ist nicht möglich3. Dies, so [Luhmann 2009: 11], sichert
hohe Freiheitsgrade der Kommunikation. Dadurch entsteht ein Überschuß an Kommunikationsmöglichkeiten, der nur noch systemintern durch Selbstorganisation und durch eigene Realitätskonstruktionen kontrolliert werden kann. Andererseits sind zwei Selektoren am Werk: die Sendebereitschaft und das Einschaltinteresse, die zentral nicht koordniniert werden können. Die Organisationen, die die Kommunikation der Massenmedien produzieren, sind auf Vermutungen über Zumutbarkeit und Akzeptanz angewiesen [Luhmann 2009: 11].
3 Die in der journalistischen Kommunikation gegenwärtig übliche Form, Artikel bewusst für die Kommentierung durch und zur Anregung der Diskussion der Leserschaft zur Verfügung zu stellen, um eine Meinungsspektrum zu erfassen, ist eine Form, die mit Interaktionssituationen der Face-to-Face-Kommunikation nichts gemein hat.
Von seinem Ansatz her, massenmediale Beobachter zu beobachten, „wie sie Realität konstruieren" [Luhmann 2009: 15] beschreibt Luhmann die Selbst- und Fremdreferenz der Massenmedien. Die Fremdreferenz zeige sich in der Wahl von Themen, die die Gesamtgesellschaft betreffen und Grundlage für die Kommunikation sind. Anders formuliert: In Ermangelung eigener selbstbezüglicher Inhalte wählen die Massenmedien Gegenstände der Beobachtung in der Gesellschaft aus und thematisieren diese in ihren Ressorts wie Politik, Wirtschaft oder Sport. Das Verhältnis von Fremd- und Selbstreferenz erfordert einen beständigen Abgleich, wie Luhmann notiert: „Auf thematischer Ebene kommt es deshalb zu einer laufenden Abstimmung von Fremdreferenz und Selbstreferenz innerhalb der systemeigenen Kommunikation" [Luhmann 2009: 21-22; Hervorhebung im Original].
Die aktuelle Situation in der Corona-Pandemie zeigt, wie die Themenwahl erfolgt. Ein Ereignis in seinem Verlauf über zwei Jahre bestimmt die Themenwahl der Medien in hohem Maße und ist zudem dazu angetan, ein immerwährendes Gefahrenpotential zu zeichnen und aufrechtzuhalten, indem diese insbesondere als darstellungswürdige Themen gesehen werden. Da man nicht alles umfassend beobachten kann, was in der Gesellschaft passiert, ist das Weglassen von Informationen gängige Praxis. Auch für einen Bericht zu einer Bundespressekonferenz muss selektiert werden, was an Informationen aufgenommen werden kann, und dies sind solche, die im Narr ativ der Gefahren für die Gesundheit und die Überlastung des Gesundheitssystems zu verharren vermögen. So zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Pressekonferenz von Drosten, Wieler und Lauterbach vom 14. Januar 2022: „Durch die Anti-Corona-Maßnahmen sind die Kontakte in Deutschland auf etwa 50 Prozent des ,vorpandemischen Zeitalters' reduziert. Trotzdem gibt es keinen Grund zur Entwarnung', sagte Lauterbach". Mit Bezug auf Wieler wird festgehalten: „Durch die Masse an Infektionen müsse man sich darauf einstellen, dass die Zahlen der Krankenhauseinweisungen und der Todesfälle wieder stiegen. Bisher hätten die Todesfälle noch nicht wieder zugenommen: ,Das wird sich aber ändern'" [Schmoll 2022]. Alles in allem sind es die negativen Aussagen, die direkt zitiert werden und mögliche in eine positive Richtung gehende Ansätze konterkarieren.
Das symbolisch generalisierte Erfolgsmedium der Massenmedien für Kommunikation ist für Luhmann klar „Information". Diese Einordnung findet in der wissenschaftlichen Rezeption von Luhmanns Werk zur Realität der Massenmedien hinreichend Kritik, wenn dagegengehalten
wird, dass in jedem funktionalen System in der Gesellschaft Informationen verarbeitet und kommuniziert werden müssen. Dies erfolgt jedoch auf der Grundlage jeweils anderer generalisierter Medien wie Macht in der Politik oder Glaube in der Religion [Vgl. Eckoldt 2007]. Verbindet man jedoch, wie Luhmann es auch beschreibt, Information mit dem Aspekt der Selektion und nur mit Selektion macht es Sinn4. Auf das symbolisch generalisierte Medium Information bezieht Luhmann die binäre Codierung: „Der Code des Systems der Massenmedien ist die Unterscheidung von Information und Nichtinformation" [Luhmann 2009: 28]. Es muss etwas als nichtinformativ reflektieren, weil es sonst „keine eigene Reduktion von Komplexität, keine eigene Selektion organisieren könnte" [Luhmann 2009: 28]. Dies bedeutet weiterhin, dass das System mit Zeitbezug operiert und in der Zeit entscheiden muss, was als informativ oder nichtinformativ gilt. Auf diese Weise werden Nachrichten als aktuell wahrgenommen.
Im Folgenden geht es darum, Strategien für Informationsselektionen mit Bezug auf angstbezogene Kommunikation zu ermitteln und zu reflektieren. Der aktuelle massenmediale journalistische Gebrauch von Sprache in den vergangenen zwei Jahren gibt Aufschluss über Möglichkeiten des Wahrnehmens und Unterscheidens in den gewählten sprachlichen Formen sowie über die Veränderung von Bedeutungen5. Das Lexem Querdenker ist ein Beispiel für die Strategie der Abwandlung von Bedeutung. Es werden weiterhin Strategien in den Blick genommen, die in besonderem Maße dazu geeignet erscheinen, ein Gefühl der Furcht, der gesteigerten Angst zu evozieren. Dazu gehören neben Umdeutungen oder Bedeutungsverschlechterungen der Ausdruck von Wahrscheinlichkeiten, Zahlen und Vagheit, Kontraste oder hyperbolisch gebrauchte bildliche Ausdrücke. Ein erster Abschnitt dazu wird dem Lexem Querdenker gewidmet.
4 Unter Kommunikation versteht Luhmann [vgl. Luhmann 1988:196-201] die dreifache Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen, die bestimmte Anschlusskommunikationen nach sich zieht. Da die Selektion grundsätzlich für den Kommunikationsbegriff verwendet wird, mag es irritieren, dass Luhmann für die Massenmedien auf Selektion zurückgreift. Eine Themenwahl mit Bezug auf eine bestimmte Leserschaft kann jedoch nur auf Selektion unter Rücksicht auf die Nachrichtenwerte beruhen.
5 Interessante Aufschlüsse zur Entstehung neuer Lexik gibt das Pandemiewörter-buch der Abteilung Lexikographie des Instituts für Deutsche Sprache.
3.2. Querdenker
Zunächst sei die aktuelle Bedeutung des Lexems Querdenker festgehalten, die das Lexikon der Neologismen in der Coronapandemie des Instituts für Deutsche Sprache notiert: „Person, die die allgemein gültigen Verhaltensregeln zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie sowie weitere staatliche Regelungen im Zusammenhang mit der Pandemie (politisch und weltanschaulich unterschiedlich motiviert) ablehnt" [Neologismenwörterbuch.]6. Als Belegstelle wird eine Aussage des Ministerpräsidenten Hessens Volker Bouffier vom November 2020 aufgeführt, der warnte, die Proteste pauschal zu verurteilen. Kritisch beurteilt er jedoch Menschen, die mit Gewalt operieren und deshalb präventiv vom Verfassungsschutz beobachtet werden sollten.
Nun hat das Lexem Querdenker eine längere Geschichte und hat das Lexem Wutbürger abgelöst. Das Etikett „Wutbürger" wurde 2010 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt und ist im DeReKo (Referenzkorpus für deutsche Sprache) erst seit 2007 präsent. Die Verwendung vor allem in der Presse im Rahmen der Berichter stattung zu den Protesten gegen das Projekt „Stuttgart 21" erreichte 2011 mit 1.223 Treffern in 889 Texten ihren Höhepunkt7. Ab dem Frühjahr 2020 setzte sich zur Abwertung von Protestbewegungen das Etikett „Querdenker" durch. Im DeReKo ist das Lexem Querdenker seit 1972 belegt und hier noch mit einer positiven Konnotation versehen, wie die Belege offenbaren: „ein menschenfreundlicher Querdenker, ein rastloser In-Frage-Steller, ein bunter Störenfried — eine hilfreiche Erscheinung" (Die Zeit vom 27. Juli 1972, S. 42). In einem Beitrag der Nürnberger Zeitung vom 26. Februar 1990 wird Ralph Giordano, seinerzeit gerade mit
6 Vor dem Hintergrund dieser Definition verwundern stereotyp vorkommende Sätze in der Berichterstattung über Protestdemonstrationen z. B. gegen eine Impfpflicht nicht. „Die meisten Demonstranten trugen keine Schutzmaske, auch Abstände wurden nicht eingehalten". Oder „Die Polizei forderte Teilnehmer auf, eine Maske zu tragen". Jegliche Demonstration, so die nun schon konventionelle Implikatur, kann als Querdenker-Demo bezeichnet werden, wenn Demonstrierende keine Masken tragen, und die Beziehung zur rechten Szene ist ausgemacht. Im Nordkurier vom 18.01.2022 heißt es im Beitrag „Mehr Demos als vor der Pandemie" von Robin Peters mit Bezug auf Mecklenburg-Vorpommern: „Eine Unterwanderung der Aktionen von Rechts- oder Linksextremen konnte der Staatsschutz zuletzt nicht ausmachen. Menschen mit unterschiedlichstem Hintergrund oder politischer Einstellung hätten sich nach ihrer Einschätzung an den Demonstrationen beteiligt" (S. 12).
7 Die Daten und die in der Fußnote notierten Belegstellen sind verfügbar unter https://cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2-web/ (abgerufen am 24.10.2021).
dem Preis der Heinz-Galinski-Stiftung geehrt, als „Querdenker und unbequemer Geist" gewürdigt. Im August 2020 zeigt sich in Spiegel Online (25. August 2020, Für die traurigen und die Müden) ein anderes Bild, das mit Würdigung nichts mehr zu tun hat: „Am Wochenende werden in Berlin wieder Nazis gegen Schutzmaßnahmen demonstrieren und Verschwörungstheorien verbreiten. (Natürlich nicht nur Nazis, sondern auch Leute, die kein Problem damit haben, neben Nazis zu demonstrieren.)". Der unbequeme Geist spielt in der Bedeutung des Lexems keine Rolle mehr und ebenso nicht ein positiv bedachter Störenfried, es hat im Sinne des Bedeutungswandels eine Bedeutungsverschlechterung durchgemacht. Diese wird dadurch verstärkt, dass es durchaus üblich ist, eine Nähe der Demonstranten zur AfD zu konstatieren. Der Kommentar des Autors in Klammern bringt das salient gesetzte Sem in einem nächsten Schritt der Bedeutungskonstituierung auf den Punkt: „wer neben Nazis demonstriert = Nazi" und damit wird eine Protestbewegung einseitig stigmatisiert. Diese einseitige Bewertung impliziert, dass keine weiteren Erklärungen erforderlich sind: Proteste gegen die Corona-Maßnahmen der Politik sind negativ zu bewerten, weil sie von Querdenkern ausgerichtet werden, die sich mit Nazis gemein machen und Verschwörungsideologien anhängen. Statistische Erhebungen zur Zusammensetzung der Demonstrierenden existieren nicht. Dennoch wird die Deutungshoheit beansprucht.
Eine solche durch die Massenmedien konventionalisierte Sichtweise verstellt zum einen den Blick auf Demonstrationsteilnehmer aus der Ärzteschaft, der Pflege, die besonders von einer bereits geltenden Impfpflicht betroffen sind, oder der Elternschaft, die sich um ihre Kinder sorgt. Zum anderen werden Inhalte des Protests wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit mit Benennungen wie Impfgegner oder Impfskeptiker abgewehrt, denn eine Nichtinanspruchnahme einer Injektion von Corona-Impfstoffen muss nicht bedeuten, dass grundsätzlich Impfungen abgelehnt werden. Das Impfen wird durchgängig in den Medien als Ausweg aus der Pandemie propagiert. Befürchtungen, durch eine Impfpflicht den Arbeitsplatz zu verlieren oder als ungeimpfte Person aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt zu werden, scheinen berechtigt, werden jedoch in geringem Maße thematisiert. Vielmehr wird nach obskuren Begründungen für eine Impfskepsis gesucht, wie beispielsweise in dem Artikel „Ursprünge der Impfskepsis. Eine deutsche Besonderheit" von Christian Jakob, der am 20.12.2021 auf taz-online erschien. Im Vorspann heißt es: „In den deutschsprachigen Ländern herrscht Misstrauen ge-
genüber der Impfung. Das ist auf die Romantik zurückzuführen". Stefan Matuschek hält mit seinem Beitrag dagegen mit einer Form der Beobachtung dritter Ordnung, indem er beobachtet, wie der Journalist Jakob die Welt beobachtet: „Impfgegner: Der Romantik-Popanz":
Nun hat dieselbe Impfkampagne ein anderes Klischee wiederbelebt: die Romantik als deutsches Verhängnis, als kollektiver Erbschaden des irrationalen Antimodernismus. Diese nationalcharakterliche Eigenheit, heißt es jetzt in journalistischen Reflexionen, sei für die relativ geringe Impfquote in den deutschsprachigen Ländern verantwortlich. Aus der Romantik stamme die wissenschafts- und technikfeindliche Naturschwärmerei, die mehr an die Selbstheilung eines ganzheitlichen Bewusstseins glaube als an Laborprodukte der spezialisierten Spitzenforschung und Pharmaindustrie. In der Popularität von Naturheilverfahren und Homöopathie lebe der Irrationalismus der deutschen Romantik fort, der nun eine effiziente Corona-Politik untergrabe [Matuschek 2021].
Letztlich entbehrt eine derartige Herleitung der Ablehnung von Injektionen, deren Wirksamkeit in der Politik kritisch reflektiert werden müsste, jeglicher Plausibilität. Sie scheint aber Aufmerksamkeit zu erregen und die selbstbeobachtende Reflexion durch Akteure des Systems selbst anzuregen.
3.3. Vagheiten, Zahlen, Vermutungen, Drohungen
Besonders auffällig erscheinen in der Kommunikation der Corona-pandemie Unklarheiten, aktuell je nach Lage der Dinge wechselnde Verordnungen über 2G, 2G+, 3G (geimpft und genesen; geimpft, genesen und getestet; geimpft, genesen und ungeimpft getestet), die über den Zugang zum gesellschaftlichen Leben und zu Institutionen entscheiden. Was einmal gilt, kann überholt sein, so wie die Entscheidung des RobertKoch-Instituts in Abstimmung mit dem Gesundheitsministerium vom 14.01.2022, den Genesenenstatus nach einer durchlebten Infektion nach drei Monaten aufzuheben, vorher galten sechs Monate. Der Nordkurier berichtet erst am 18. Januar 2022 darüber unter dem Titel „Achtung Genesene: Status gilt nur noch drei Monate". Im Vorspann heißt es: „Omikron verbreitet sich in Windeseile — und Politik und Behörden versuchen, die Regeln an die Corona-Variante anzupassen. Nun wurden die Vorgaben für Genesene geändert". Diese Veränderung wird zwar mit wissenschaftlichen Erkenntnissen begründet, jedoch nicht erklärt, was der Autor des Artikels auch in indirekter Rede wiedergibt: „Hintergrund
sei, dass wegen Omikron ein sehr viel größeres Risiko bestehe, dann bereits erneut zu erkranken oder Überträger zu sein" [Meyer 2022: 17]. In einer Zwischenüberschrift des Artikels heißt es „Neue .Spielregeln' für die Impfpflicht durch Omikron?" und es schließt an: „Das RKI erläutert zugleich: ,Diese Vorgaben werden regelmäßig überprüft und können sich gemäß Stand der Wissenschaft ändern"'. Und in der Tat — zwei Tage später gilt eine vollständige Impfung nur mit Booster, Erst- und Zweitimpfungen gelten als Grundimmunisierung. Derartige Veränderungen können nun zu Irritation, Verstörung und Beunruhigung führen. Beunruhigend ist allerdings auch, dass der Redakteur des Artikels den Begriff Spielregeln nutzt. Spielregeln gelten in der Regel für eine gewisse Zeit und deren Änderung muss den Spielpartnern angezeigt werden, ansonsten wird ja unter falschen Voraussetzungen gespielt respective gehandelt. In dieser Hinsicht findet sich nicht die leiseste Anmerkung des Redakteurs, dessen Aufgabe eigentlich darin besteht zu informieren, was er mit dem Achtungszeichen getan hat. Dennoch erscheint der Begriff Spielregeln im Zusammenhang mit einer Berichterstattung in der Pandemie unangemessen, es geht nicht um ein Spiel, sondern um eine ernste Angelegenheit, die Millionen Menschen betrifft. Weiterhin wird in dem Artikel Christian Drosten zitiert, der auf einen breit in der Bevölkerung verankerten Impfschutz verweist. Dem Autor ist es wichtig zu ergänzen und Drosten in einem indirekten Zitat wiederzugeben „sonst würden zu viele Menschen sterben" und der Artikel schließt im Zusammenhang mit Coronazahlen des Tages mit dem Satz ab: „Binnen 24 Stunden wurden 30 Todesfälle verzeichnet" [Meyer 2022: 17].
Das Ziel derartiger Kommunikation ist letztlich die Impfung und die Bereitschaft dazu zu erhöhen auch nach einer Genesung von einer SARS-CoV-2-Virus-Infektion und Erkrankung sowie eine Impfpflicht zu legitimieren8. Der letzte Satz des Artikels führt zu einem weiteren Ge-nauigkeits- bzw. Vagheitsproblem, das mit der Aufführung von Zahlen in Verbindung steht.
Der Neologismus Coronasterblichkeit beschreibt laut Neologismenlexikon zur Coronapandemie des IDS den „Anteil der Todesfälle unter allen Personen, die mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert sind" [Neologismenwörterbuch.]. Was bedeutet diese Definition? Bedeutet Infektion gleich Erkrankung oder Schwererkrankung oder ist gemeint, dass
8 Am 23.01. vermelden die Nachrichten von einem Vorschlag zur Impfpflicht, der drei Impfungen vorsieht und der Nichtnachweis dieser mit einer Geldstrafe geahndet wird.
Menschen an anderen Grunderkrankungen sterben und zufällig bei ihnen eine Infektion mit dem Virus festgestellt wurde? In der massenmedialen Kommunikation während der Pandemie hatte sich in der täglichen Dokumentation der Todesfälle diesbezüglich die Formel „an oder im Zusammenhang mit" dem Virus etabliert. Zu beobachten ist aktuell im Januar 2022, dass diese Formel seltener, variiert unter Weglassung von „an" oder nicht mehr gebraucht wird (s. den oben zitierten Artikel im Nordkurier vom 18.01.2022 [Matuschek 2021: 17]), sondern es wird formuliert „Die Zahl der Todesfälle stieg um x auf y". Dabei wird die umstrittene Formel nicht mehr gewählt und nun auch nicht mehr hinterfragt, denn sie ließ gleichfalls im Unklaren, was an oder mit dem Virus bedeutet und wie eine differenzierte Zahlenbilanz aussieht. Bereits im September 2021 hieß es in einem Beitrag von Nils Metzger auf ZDFheute [Metzger 2021].
RKI-Statistik. Zu viele Menschen als Corona-Tote gezählt? „Corona bei 80 Prozent der offiziellen Covid-Toten wohl nicht Todesursache", titelt die „Welt". Die Beweislage ist dünn. Trotzdem könnten die Corona-Statistiken verbessert werden. <...> AfD-Politiker und Querdenker sahen sich daraufhin in ihrer Meinung von einer angeblich vom Robert-Koch-Institut (RKI) herbeigerechneten Pandemie bestätigt. Auch FDP-Politiker WolfgangKubicki schrieb auf Facebook* von einem weiteren Schlag für die Glaubwürdigkeit' des RKI9.
In dem vom 30.08.2021 stammenden Beitrag in Welt-online, auf den verwiesen wird, heißt es mit Bezug auf einen Mediziner: „'Bei einem Großteil der vom RKI gemeldeten Corona-Toten sei offen, woran sie gestorben sind — die Sterbestatistik werde zunehmend verzerrt"'. Es wird vom ZDF-Redakteur ein eher kritisches Blatt zitiert in der Selbstbeobachtung des Systems. Zugleich wird in beiden Medien abgeschwächt durch die Modalpartikel wohl. Gegen zunehmend verzerrt in der Welt setzt das ZDF die Merkmalszuweisung ist dünn. Das konzessive Adverb kündigt die Meinung an, dass Verbesserung gut wäre. Mit Bezug auf die AfD und Kubicki wird notiert, wem derartige kritische Beiträge, wie der in der Welt, nützen könnten [vgl. X].
Die dänische Boulevardzeitung „Ekstra Bladet" titelte laut RTDE vom 14. Januar 2022 in einer selbstbezüglichen Selbstbeobachtung „Wir haben versagt" und meint damit, dass nicht hinterfragt wurde,
* Meta is determined as an extremist organization in Russian Federation.
9 Hervorhebungen Ch. Gansel.
was es eigentlich bedeutet, dass Menschen mit Corona und nicht wegen Corona im Krankenhaus behandelt werden müssten. Man sei „nicht wachsam genug" gewesen. Doch diese Frage sei nun einmal entscheidend. So habe sich <...> nun herausgestellt, dass bei 27 Prozent der entsprechenden Patienten „Corona" nicht die Hauptdiagnose gewesen sei [Waren „wie hypnotisiert"...].
Mit einer ähnlichen Prozentzahl wird in den Folgetagen in BildTV operiert.
Nun wird in den vorangegangenen Belegen der komplizierte — weil von Behörden übernommene — und undurchsichtige Umgang in den Medien mit Zahlen — weil in einer Beobachtung zweiter Ordnung — in der Pandemieberichterstattung einsichtig. Zahlen erwecken in den selektiven journalistischen Operationen einen faktischen und wissenschaftlichen Eindruck. Sie sind für die Leserschaft nicht mehr durchschaubar und auch die Vorstellung, die Leserschaft könne sich auf der Grundlage benannter Studien selbst ein Bild machen, erscheint als Zumutung, also muss das genommen werden, was erscheint.
Auf Zeit-Online vom 05. Januar 2022 wird Christian Drosten mit dem Satz zitiert: „Was richtig schützt gegen Omikron ist die DreifachImpfung" [Drosten 2022], deshalb sei sie besonders wichtig. Und weiter heißt es mit Bezug auf das Corona-Update des Drosten-Podcast bei NDR-Info: „'Boostern mache den Unterschied', sagt Christian Drosten. Erst dann gebe es ein signifikant niedrigeres Infektionsrisiko. Omikron werde auch hier ,das Geschäft übernehmen"'. Und weiter heißt es:
Eine Studie aus Dänemark aus dem Dezember zeige, wie wichtig BoosterImpfungen seien. Erst die dritte Impfdosis senke demnach das Risiko, sich mit Omikron anzustecken, signifikant, sagte Drosten. „Die doppelte Impfung wird für die Verbreitungskontrolle wahrscheinlich weniger beitragen bei Omikron. Da sind wir ziemlich ungeschützt", sagte der Leitende Virologe der Berliner Charité. „Die Dreifach-Impfung macht den Unterschied". Drosten verwies hier auf eine Studie des Imperial College London mit Stand kurz vor Weihnachten. Derzufolge ist das Hospitalisierungs-Risiko bei einer Infektion mit der Omikron-Virusvariante um bis zu 30 Prozent geringer als bei der Delta-Virusvariante. Bei Menschen mit zwei Impfungen sinke das Risiko um 34 Prozent, bei denen, die eine Auffrischung erhalten haben um 63 Prozent. „Der Gewinn nicht geimpft zu zweifach geimpft ist nur zehn Prozent mehr, aber der Gewinn von zweifach geimpft zu dreifach geimpft ist dann fast eine Verdopplung". Infizieren sich Ungeimpfte mit der Omikron-Virusvariante, sinkt der Studie aus London zufolge das Risiko einer Hospitalisierung um
24 Prozent. Drosten zufolge sei dies, angesichts der „vielen Ungeimpften, die wir leider in Deutschland haben", zwar eine gute Nachricht. Jedoch sei zwangsläufig mit ganz unterschiedlich schweren Verläufen zu rechnen und keine Entwarnung angebracht. Drosten warnte eindringlich davor, zu dem Schluss zu kommen, es sei besser, eine Infektion durchzumachen als sich impfen lassen [Drosten 2022; Hervorhebung Ch. G.]10.
Die aus einer Studie entnommenen Zahlen erweisen sich als durchaus stimmig für das Verständnis des Textes. Aber was bedeuten die Zahlen letztlich für ein Individuum, das eine Impfentscheidung treffen soll. Schon wenige Wochen später wird über unterschiedliche Nachrichtenkanäle und Informationen des RKI klar, dass auch mit einer dritten Injektion versehene Personen nicht von einem Impfdurchbruch verschont bleiben, vielleicht von schweren Erkrankungen11. Die Zahlen und Vergleiche könnten für eine Leserschaft beruhigend wirken. Sie werden indes in dem Text als eine Größe notiert, die mit einem folgenden adversativen jedoch in Relation gesetzt werden, das zu einer Warnung führt, die Drosten ausgesprochen habe.
Ein weiteres Beispiel sei notiert, das in der Talkshow Markus Lanz am 19.01.2022 eine Rolle spielte und nicht nur bei Lanz für Verwirrung sorgte, sondern auch bei der WELT. Die WELT berichtet auf ihrer Online-Ausgabe am 20.01.2022 über die Talkshow unter dem Titel „Markus Lanz sichtlich irritiert — Lauterbachs verwirrende Aussagen zum Schnelltest" [Lübberding 2022]. Es ging in der Talkshow um die Frage, ob positive Schnelltests genauso wie positive PCR-Tests in die Statistik als COVID-19-Fall eingehen. Der Gesundheitsminister antwortet:
10 Relevante Beispiele für die Analyse im Beispieltext wurden recte gesetzt und unterstrichen.
11 Das Lexikon der Neologismen zur Sprache in der Corona-Pandemie definiert das Lexem Impfdurchbruch wie folgt: „a) durch die Verabreichung eines (mangelhaften) Vakzins ausgelöste Erkrankung; b) Infektion einer Person mit einem bestimmten Erreger trotz vorheriger Vakzination" und gibt dazu den aktuellen Beleg: „Eine vollständige Corona-Impfung bedeutet nicht, dass die geimpfte Person sich nicht mehr mit dem Virus infizieren kann. Auch Geimpfte können erkranken — dann spricht man von sogenannten Impfdurchbrüchen. (www.merkur.de; 10.09.2021)". Passend zum Vagheitszustand in den Bedeutungsbeschreibungen ist auch Definition von Co-ronavakzine: „Impfstoff, der die Produktion von Antikörpern gegen das SARS-CoV-2-Virus anstößt". Wenn Vakzine die Antikörperproduktion anstoßen, warum sind dann Tests zur Ermittlung der Höhe der Antikörper im Blut eines Menschen nicht aussagekräftig, fragen sich Patienten, die in dieser Hinsicht belehrt worden sind. Die Definition widerspricht den Gegebenheiten in den Aussagen von Hausärzten und Medizinern.
„Wenn ein Schnelltest an das Gesundheitsamt gemeldet wird, ist er gültig und zählt" und bestätigt damit die sächsische Sozialministerin Köpping. Die WELT dazu in dem Beitrag: „Auf Anfrage von WELT stellte eine Pressesprecherin des RKI fest, dass positive Schnelltests weiterhin keine Rolle spielen. Demnach fließen nur positive PCR-Tests in die Statistik ein" [Lübberding 2022]. Wie ist diese Diskrepanz nun aufzulösen, fragt sich die Leserin und Autorin dieses Beitrags.
Festgelegt hatte der Gesundheitsminister bereits, dass eine Zweifachimpfung nur noch als Grundimmunisierung gilt, mit der Booster-Impfung sei man „gegen alle Corona-Varianten — zumindest vor schwerer Krankheit und Tod — geschützt" und diese sei unabdingbar, woran sich die Impfpflicht orientieren müsse. An der Impfung führe kein Weg vorbei. Und der Minister warnt: „Das Varianten-Alphabet wird nicht mit Omikron enden". Weiterhin spricht er von einem möglichen mutierten Delta-Typ, von der Wahrscheinlichkeit, dass Ungeimpfte, die an Omi-kron erkranken, gegen Delta nur einen 50-prozentigen Schutz hätten. Und schließlich eine Drohung Lauterbachs im Original: „Das VariantenAlphabet wird nicht mit Omikron enden" [Wie viele Eigentore...].
In diesem Sinne wird zur Corona-Entwicklung Christian Drosten am 23. Januar 2022 in einem Interview im Deutschlandfunk befragt und auch hier nehmen die Wahrscheinlichkeiten kein Ende: „Es ist keinesfalls sicher, dass Omikron im abgemilderten Zustand bleiben wird", es gäbe verschiedene Möglichkeiten der Entwicklung zu einer stärkeren Variante; man müsse derzeit befürchten, dass es eine Rekombination von Delta und Omikron gäbe; dass Omikron den Immunschutz der Bevölkerung umgehe; leider die stärksten Eigenschaften von Omikron und Delta vereinen; es könnte sein, dass; Ungeimpfte hätten keinen Immunschutz, Immunsystem könne durch Serotyp ausgetrickst werden; alles spreche für zusätzliche Impfung usw. [Corona-Entwicklung...]12.
Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht spricht von „Panikmache", der Virologe Klaus Stöhr formuliert, dass Lauterbach „irrlichtert". Es ist zu konstatieren, dass gerade Wahrscheinlichkeiten von den Medien gern aufgenommen werden und sprachliche Mittel der Modali-sierung und dabei insbesondere solche, die Modalität der Möglichkeit signalisieren wie Modalverben, Modalpartikel, vage Temporaladverbien oder adversative Adverbien. Dabei werden häufig Kontraste aufgebaut,
12 Es sei angemerkt, dass die hier angedeuteten Verlautbarungen Drostens Tage vor dem Interview im Deutschlandfunk mit Bezug auf seinen aktuellen Podcast bei NDR-Info für Darstellungen für unterschiedliche Medien selektiert wurden.
die auf der einen Seite beruhigen, sodann jedoch negative Möglichkeiten zur Beunruhigung anschließen. Die folgenden Belege sind aus OnlineAusgaben von Focus, BR24 oder Tagesspiegel oder dem Nordkurier als Printausgabe entnommen: gehen momentan/derzeit (noch) zurück, dürfte sich jedoch bald ändern; ein Todesfall von über 60 Jahren — zwei Zeilen weiter dann — ein Patient oder eine Patientin im Alter zwischen 60 und 79 Jahren, bei dem oder der eine Ansteckung nachgewiesen oder vermutet wurde; sicher nachgewiesene und wahrscheinliche Omikron-Fälle; Daten nicht valide, schreibt das RKI einschränkend; milder Verlauf (aber mild ist nicht das, was man allgemeinsprachlich darunter versteht, wie später irgendwann erklärt wird, mild = mit Fieber im Bett liegen); Omikron gegenüber Delta etwas abgeschwächt. („Etwas. Unterschied bei schweren Verläufen unklar". Drosten); ein Wermutzstropfen ist <.> Ansteckungsrate, so dass Gesundheitssystem doch überlastet werden könnte; jetzt mögen <...>, „aber jetzt schreibt Omikron die Regeln" (Drosten); die Dunkelziffer dürfte höher liegen, da über die Feiertage nicht getestet wurde; dritte Booster-Dosis erhöht die Schutzwirkung deutlich — auch wenn sie im Vergleich zu Delta geringer ausfällt; die nächsten Wochen könnten für Ungeimpfte sehr gefährlich werden; kein Anlass zur Entwarnung; zu frühe Lockerungen gefährden; vor schwerer Erkrankung schütze wohl schon. Die aufgeführten Belege erscheinen stereotyp und bilden das „Rauschen" derartiger Kommunikation in den Medien ab.
Einen letzten möglichen Aspekt in Hinsicht auf die Selektion von Äußerungen aus dem politischen Bereich durch journalistische Darstellungen sollen Sprachbilder darstellen. Sie dienen dazu, das Virus zu personifizieren: Omikron legt die „Spielregeln" fest, „übernimmt das Geschäft" (Drosten), nur die Impfung kann „Omikron seinen Schrecken nehmen" (Drosten), Omikron umgeht die Schutzwirkung der Impfstoffe. Das Virus wird als Feind dargestellt, der bekämpft werden muss. Das Infektionsgeschehen wird mit Wellen, Hügeln, Mauern, steile Wand mit Bezug auf die grafischen statistischen Infektionskurven verbildlicht.
4. Abschluss
Zeit-Online veröffentlichte am 19. Januar 2022 einen Gastbeitrag von Hendrik Streeck, der Mitglied des neu gegründeten Corona-Ex-pertenrats der Bundesregierung ist. Bezeichnend ist die Anmerkung der Redaktion am Schluss des Beitrags, der die in diesem Beitrag angesprochene Problematik der Selektivität nochmals unterstreicht: „Kor-
rekturhinweis: In einer früheren Version des Artikels war eine Textstelle leider missverständlich verkürzt worden. Wir haben den Fehler korrigiert" [Streeck 2022; Hervorhebung im Original. — Ch. G.].
Was in Streecks Gastbeitrag beeindruckt, ist der Vorspann, der zudem nicht nur auf die Inhalte, sondern auf die folgende Sprache und den Sprachduktus verweist: „Das Virus wird endemisch. Um zu einem normalen Leben zurückzufinden, brauchen wir klare politische Entscheidungen — und innere Ruhe". Und damit hat Streeck absolut Recht. Die angesprochene Ruhe spiegelt sich in dem in voller Sachlichkeit gestalteten Text wider, in einer Klarheit des Ausdrucks, Empathie und dem Verzicht auf Parteilichkeit und Angst- sowie Panikmache. Er wirkt überzeugend in der Argumentation des Virologen, von der zu hoffen ist, dass sie in der Expertenkommunikation ernst genommen wird und nicht von den journalistischen Medien in ihrer Selbstbezüglichkeit und in der Stützung mancher nicht mehr nachvollziehbarer Entscheidungen der Regierung zerpflückt wird. Es sei abschließend eine Passage zitiert, in der die kommunikative Misere, die sich in den deutschen Medien in der Kommunikation um die Coronapandemie zeigt, auf den Punkt gebracht wird:
Die Debatten wurden aggressiver. Manche Kritiker und Verteidiger der Maßnahmen überschlugen sich mit Schuldzuweisungen und Diffamierungen. Unsere Gesellschaft war nicht daran gewöhnt, über eine potenziell tödliche Gefahr rational zu diskutieren — und pragmatisch Lösungen zu erarbeiten. Zu viel Ideologie, zu wenig Expertise. Ein Missverhältnis zwischen Mut und Maß [Streeck 2022].
Quellen
I. Becker A. E'in impfender Minister auf Werbetour. Nordkurier vom 18.01.2022, S. 3.
II. Corona-Entwicklung. Christian Drosten im Gespräch mit Christiane Knoll. https://www.deutschlandfunk.de/interview-christian-drosten-100.html (gesehen am 22.01.2022).
III. Drosten Ch. Was richtig schützt gegen Omikron, ist die Dreifachimpfung. https://www.zeit.de/gesundheit/2022-01/christian-drosten-impfung-omikron-variante-coronavirus-pandemie?utm_referrer= https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (gesehen am 21.01.2022).
IV. Impfpflicht: Körperverletzung oder eine notwendige Maßnahme? Leserbriefe. Nordkurier vom 20.12.2021, S. 4.
V. Kaukemüller J. Mit dem Piks gegen Omikron: Wie gut schützt die (Boos-ter-)Impfung? Nordkurier vom 11.01.2022, S. 18.
VI. Kommt jetzt noch die Super-Mutation? Das sagen die Corona-Experten. https://www.focus.de/gesundheit/coronavirus/erst-frankreich-variante-dann-deltrakron-kommt-jetzt-noch-die-super-mutation-das-sagen-die-covid-experten_id_38112645.html (gesehen am 22.01.2022).
VII. Lübberding F. Markus Lanz sichtlich irritiert — Lauterbachs verwirrende Aussagen zu Schnelltests. https://www.welt.de/politik/deutschland/artic-le236357861/Markus-Lanz-sichtlich-irritiert-Lauterbachs-verwirrende-Aussagen-zu-Schnelltests.html#Comments. (gesehen am 22.01.2022).
VIII. Matuschek S. Der Romantik-Popanz. https://www.zeit.de/kultur/2021-12/ impfgegner-deutsche-romantik-verklaerung (gesehen am 22.01.2022).
IX. Metzger N. RKI-Statistik. Zu viele Menschen als Corona-Tote gezählt? ht-tps://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-tote-rki-statistik-haeuss-ler-100.html (gesehen am 19.01.2022).
X. Meyer S. Achtung Genesene: Status gilt nur noch drei Monate. Nordkurier vom 18.01.2022, S. 17.
XI. Neologismenwörterbuch zur Sprache in der Coronapandemie. https:// www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp# (gesehen am 15.01.2022).
XII. Peters R. Deutlich mehr Corona-Patienten auf den Intensivstationen als geplant. Nordkurier vom 22.12.2021, S. 12.
XIII. Schmoll H. Drosten: Irgendwann muss man das Virus „laufen lassen". https://m.faz.net/aktuell/politik/inland/drosten-ueber-omikron-irgend-wann-muss-man-das-virus-laufen-lassen-17732042.html (gesehen am 18.01.2022).
XIV. Streeck H. Leben mit Corona. Und hier wäre ein Ausweg. Gastbeitrag. ZEIT-Online vom 19.01.2022, 16.45 Uhr. https://www.zeit.de/2022/04/ corona-endemie-infektionen-normalitaet/komplettansicht (gesehen am 22.01.2022).
XV. Szenarienpapier. „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen". https:// www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/ corona/szenarienpapiercovid19.pdf?_blob=publicationFile&v=6 (gesehen am 20.01.2022).
XVI. Waren „wie hypnotisiert" — Dänische Zeitung entschuldigt sich für Co-rona-Berichterstattung. Verfügbar unter: https://de.rt.com/europa/129943-wir-haben-versagt-daenische-zeitung/ (gesehen am 22.01.2022).
XVII. „Wie viele Eigentore kann man schießen?" Debatte um Verkürzung des Ge-nesenen-status. RTDE vom 19.01.2022. https://de.rt.com/inland/130169-wie-viele-eigentore-kann-man/ (gesehen am 22.01.2022).
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5. Luhmann N. Die Realität der Massenmedien. 4. Auflage, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, 151 S.
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9. Wörterbuch Psychologie. 2700 Stichwörter. 3. Aufl. Köln, Pahl-Rugenstein, 1983, 996 S.
10. Zebrowska E. Text — Bild — Hypertext. Frankfurt am Main, Peter Lang, 2013, 252 S.
Christina Gansel
Außerplanmäßige Professorin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Arbeitsbereich Germanistische Sprachwissenschaft, Institut für Deutsche Philologie, Universität Greifswald, Doctor philosophiae habilitatus Adresse: Deutschland, D-17487, Greifswald, Rubenowstraße, 3
Christina Gansel
Extraordinary Professor, Scientific Associate, Department of German Linguistics, University of Greifswald, Institute for German Philology, Doctor of Philological Sciences
Address: 3, Rubenowstraße, Greifswald, D-17487, Germany E-mail: [email protected]
Received: January 23, 2022 Accepted: April 26, 2022