F. Löser
MEISTER ECKHART AUF DER SPUR. ZU ÜBERLIEFERUNG UND TEXTVERSTÄNDNIS DER DEUTSCHEN PREDIGTEN ANHAND VON PREDIGT 87
Wüehse ein berc von dem ertriche als hoch als zwo mile und schribe man dar üf in stüppe oder in sant buochstaben, sie bliben ganz, daz sie wint noch regen enzerstarte (DW III, Pr. 60: 26,3-5).
Diese schöne Vorstellung seiner Predigt 60 hat Eckhart so fasziniert, dass er sie ein zweites Mal in einer anderen Predigt (61) angeführt hat:
[Diu schrift wil,] daz zwo mile oder dri von dem ertriche ensi kein regen noch sloze noch wint. Ez ist da also stille, schribe man da buochstaben in sant, sie bliben unverseret ganz. (DW III, Pr. 61: S. 41,3-5). Josef Quint hat zur zweiten Stelle zweierlei bemerkt. Erstens: Von den wenigen Textzeugen der Predigt überliefere die Handschrift K2: in schop ader in sant, wobei schop schon Sievers S. 432,65 richtig als aus stop (=stoup) verderbt ansah.1 Dieses stoup würde, so Quint, dem stüppe in der oben aufgeführten Parallelstelle entsprechen und könnte ursprünglich sein.2
Hier hat Quint recht. Die inzwischen entdeckte Eckhart-Handschrift aus London (Lo4)3 bestätigt für unsere zweite Stelle exakt diese Lesart:
Dy schrift wel, das czwo myle adir me von dem ertriche sin, da sy wedir rein [Regen] noch slozen [Hagelkörner] noch wind, wan es ist da also stille, das man da schribet buchstabe in stoüb [!] adir in sand vnd bliben gancz (Lo4, f. 153rb).
1 K2: Kassel, Murhardsche und Landesbibl., Cod. theol. 94; Sievers = Sievers 1872.
2 DW III, S. 41f. Anm. 2.
3 Lo 4=London, Victoria and Albert Museum, cod L 1810-1955.; dazu: Löser 1986; von beiden Handschriften (K2 und Lo4) wird noch die Rede sein.
Quints kritischer Text, gestützt an dieser kritischen Stelle nur auf eine Berliner Handschrift und ein Nürnberger Fragment, wird also, ganz wie er vermutete, mit dem neuen Textzeugen zu revidieren sein, denn Eckhart spricht auch hier von buochstaben in stoup oder in sant.
In einem zweiten, sehr viel bedeutsameren Punkt hat Quint freilich geirrt. Er betrifft die Angabe des Textes, es handle sich bei dem ganzen Exempel um ein Zitat aus einer „Schrift" (Diu schrift wil). Hierzu meint Quint, er „sehe es auch für die vorliegende Stelle als möglich an, dass, wie oben [in der zuerst zitierten Stelle aus Predigt 60] kein Schriftzitat und auch kein meister-Zitat, sondern einer der für Eckhart so charakteristischen konstruierten Vergleiche vorliegt, der sekundär durch den Schreiber des Prototyps unserer handschriftlichen Überlieferung als (Schrift-)Zitat deklariert wurde."4
Tatsächlich hat Eckhart hier einen seiner dominikanischen Kollegen zitiert, der zu Eckharts Lebzeiten gewissermaßen für Regen und Wind „zuständig" war, nämlich Thomas von Cantimpre. Eckharts Angabe der „Schrift" wird denn auch - wie andernorts - die schrift von nature meinen, also den Liber de natura rerum des Thomas. Ich zitiere ihn der leichteren Verständlichkeit halber in seiner deutschen Bearbeitung durch Konrad von Megenberg:
Dv scholt auch wizzen, daz dez lufies reich, da daz wolchen stet vnd der regen wirt vnd der wind wät vnd da alles weter geschicht, niderr ist dann die hohsten perg, die auf erden sint, wan man vindet perg so hoch, da nie chain [31v ] regen auf chom, noch chain wint, noch tawe, noch ander werch dez weters. Daz habent die alten maister an etleichen hohen per gen versucht, also daz si namen einen padswamp vnd fäuhten den mit wazzer vnd hielten in für den munt, wenn sie so hoch chomen an den pergen, daz sie niht mer fäuhts lufts heten, der daz hertz erch ult, vnd schriben mit den vingern an der erden auf den pergen. Wenn si danne über ein iar hin wider chomen, so funden si di geschrift gantz sam an dem ersten tag. Daz mOht niht gesein, wär regen oder wint dar auf gewesen.
4 DW III, S. 41 Anm. 2.
5 Luff/Steer 2003: 110 aus Kap. II. 16 Von dem regen.
Die schöne Vorstellung Eckharts, sein - wie Quint meint -„konstruierter Vergleich", geht also auf Thomas von Cantimpre zurück und dieser seinerseits hat sie bei antiken Meistern gefunden. Für den Philologen bedeutet sie:
- Eckhart hat den Text nicht „konstruiert"; er zitiert Thomas; und er gibt, korrekt, den Zitatcharakter zu erkennen.
- Eckharts Buchstaben sind nicht jenseits der Zeit geschrieben, sie waren Wind und Regen ausgesetzt. Schreiber und Redaktoren haben sie verändert (z. B. in K2 den stoub weggefegt). Sie haben sie aber auch bewahrt (z. B. die Angabe der schrift). Unsere Aufgabe ist es, aus den scheinbaren 'Niederungen' der Überlieferung den hohen Berg zu besteigen und Eckharts Buchstaben zu rekonstruieren, soweit dies überhaupt möglich ist. Im konkreten Fall hat Quint in einem Fall die richtige Spur verfolgt, im anderen die falsche. Und er hat ausgesprochen gut daran getan, es bei seiner Vermutung zu belassen und die Angabe Diu schrift wil nur in eckige Klammern zu setzen, statt sie [wie er andeutet] gegen die Überlieferung zu streichen. Er hätte damit Eckharts ehrlichen und wertvollen Hinweis (dem ich nachgehen und das Zitat entschlüsseln konnte) gestrichen.
Mein Anliegen ist es seit langem darauf hinzuweisen, dass wir in der dünnen Luft der Eckhart-Philologie am sichersten dort gehen, wo wir den Fußspuren der Alten folgen. Damit meine ich nicht nur die früheren glänzenden Editoren (wie Josef Quint) und die Handschriftenkenner wie Adolf Spamer oder die wahren hochalpinen Wegbereiter wie Kurt Ruh, sondern - viel früher schon - die Schreiber und Redaktoren, die Eckhart bewahrten oder veränderten. Daß sich ihre Fußspuren am ,Eckhart-Berg' finden und mit Gewinn verfolgen lassen, hoffe ich im folgenden zeigen zu können. Ich wähle dazu ,Fehltritte', wie ich meine, einer ,Bergsteigergruppe', zu der ich einst gehörte. Diese ,Fehltritte' beziehen sich auf die erste Predigt, die in Georg Steers Verantwortung vorgelegt wurde. Es handelt sich dabei um die erste Predigt in DW IV, 1 (dort die Nummer 87). Es ist dies eine recht prominente Predigt, handelt es sich dabei doch um keine andere als die erste Predigt der bekannten Sammlung des ,Paradisus anime intelligentis'.
Dazu noch eine Vorbemerkung, die mir wichtig ist: Ich war von 1983 bis 1988 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fortgang der Eckhart-Edition beteiligt und werde auf dem Titelblatt des ersten Teilbandes von Band IV der Deutschen Werke (DW IV,1) auch als solcher genannt. Im Vorwort hebt Georg Steer meine Aufarbeitung der Melker Eckhart-Überlieferung (die außerhalb des Editionsprojektes geschah) und meine Entdeckung bisher unbekannter Eckhartpredigten (die ebenfalls außerhalb des Editionsprojektes
geschah) dankend hervor. Hierfür danke ich ihm sehr. Auch wird gesagt, Wolfgang Klimanek und ich seien „gleichermaßen an den Arbeiten zur Klärung der Überlieferungsverhältnisse, der Texterstellung und der Kommentierung beteiligt" gewesen.6 Dies trifft freilich nur bis 1988 zu, denn bis dahin habe ich an der Edition mitgearbeitet. Die erste Lieferung wurde fast zehn Jahre später ausgegeben (1997). Für die Erstellung des dort vorgelegten kritischen Textes wurde ich nach 1988 nicht mehr zurate gezogen. Hätte man mir die Texte vorgelegt, weiß ich nicht, ob ich damals nicht auch zu anderen Schlüssen gekommen wäre als heute. Denn inzwischen sind unter den ,Hochalpinisten' am ,Mount Eckhart' einige Routen doch sehr viel gesicherter als sie es 1997 oder gar 1988 noch waren.
Nun also zur Predigt 87 (Par. an. Nr. 1): Bezugstext (bis Z. 38) im Anhang 2.
Die Predigt wirkt auf den ersten Blick breit überliefert. Sie wird durch nicht weniger als elf Textzeugen tradiert, die auf den Seiten 1 bis 4 der Edition ausführlich beschrieben werden, deren Text dort teils vollständig (vgl. Anhang 1) dokumentiert ist. Das Stemma7 auf Seite 6 suggeriert Sicherheit:
XY
Me8
Eine Sicherheit, die nicht vorhanden ist. Blickt man näher hin, zeigt sich, dass die meisten dieser Textzeugen entweder nur Fragmente
6 DW IV,1, S. XVIII.
7 O: Oxford, Bodleian Library, cod. Laud. Misc. 479; H2: Hamburg, Staats- u. Univbibl., cod. theol. 2057;
K1a, K2: Kassel, Murhardsche u. Landesbibl., cod. theol. et phil. 4°88 und cod. theol. 94;
Me2, Me3 (a+b), Me8: Melk, Stiftsbibl., cod. 705, cod. 1569, cod. 856;
Brei: Bremen, Staatsbibl., cod. c 18 Perg.;
Lo4: London, Victoria and Albert Museum, cod. L 1810-1955.
sind, die nur kleine Teile des Textes überliefern, oder dass sie aus Handschriften stammen, die Eckhart nur in mittelbarer Bezeugung tradieren, die seinen Text in Traktate eingearbeitet haben, oder die Eckhart in anderem (Kurz-)Kontext (von Dicta) verwenden. Von den scheinbar elf Textzeugen bleiben, wenn man diese Traktat- und Exzerpthandschriften (K1a und deren 'Abkömmling' St6, Bre1, Me3a, Me3b, Me8) abzieht, insgesamt fünf Handschriften, verteilt auf zwei Stemmaäste, vertreten durch die Handschriften O und H2 auf der einen, Lo4, K2 und Me2 (die ihrerseits stark bearbeitet ist) auf der anderen Seite. Die Entscheidung zwischen X- und Y-Ast fällt mitunter schwer. Die wichtigsten Unterschiede sind die folgenden:
1. Gleich zu Beginn zeigt sich - schon in den ersten beiden Zeilen - eine Reihe von gravierenden Unterschieden, die das Bibelwort betreffen: Der Text, vorgelegt nach X, bietet (Z. 3 - 4): Disiu wort sprichet Jeremias: 'nemet war, die tage koment, sprichet der herre, und ich wil erwecken die gerehten wurzeln Davides'. Die Lesarten von Y lauten dagegen nicht Disiu wort sprichet Jeremias, sondern: Der prophet spricht K2; DEr prophete Jeremias schribet Lo4; Dar vmb spricht got durch den weissagen Jeremiam Me2. Gemeinsam haben also die Y-Lesarten, dass Jeremias hier - anders als in X1 [!] - ausdrücklich als Prophet (in Me2 verdeutscht als weissage), bezeichnet wird. Dabei wird Y aber auch durch die zum X-Ast gehörige Hs. K1a (Jeremie prohete) gestützt. Im Prophetenwort selbst besteht der erste Unterschied darin, dass X behauptet, die Tage kumint, während Y sind komen wählt. Im zweiten Teil des Zitates sind die Unterschiede noch deutlicher. Gott sage, so X1, er wil ir weckin di gerechtin worzelin dauidis. Auch davon weichen die anderen Handschriften erheblich ab: wel irwecken dy frücht adir den samen dauid Y1 ; den sam Dauits wil erwekchen Me2; vsze deme abpetgrunde miner craft gebere den almehtegen sun K1a, St6. Der Unterschied besteht hier also darin, dass die 'Paradisus'-Fassung (X1) von der „gerechten Wurzel Davids" spricht, die Y-Fassung dagegen vom „Samen Davids" bzw. (wie Y1) von „Frucht" oder „Samen" Davids. Die X1-Handschriften (und mit dieser Version der kritische Text Steers) beenden damit das Prophetenwort. In Y aber findet sich noch ein längerer Text: Vnd dy frucht sal wise sin vnd sal vinden orteil vnd machen gerechtikeit in ertriche. Eine durchaus vergleichbare Variante bieten die Handschriften K1a und St6: der do eyne wisheit ist vnd gereht vnd gerehtekeit wirket vf ertriche. Der kritische Text Georg Steers orientiert sich hier erneut an der Lesart von X1. Steers Meinung nach folgt X dem lateinischen Text [germen iustum] korrekt, während sich
„Y von ihm [diesem lateinischen Text] wie von der X-Übertragung" offensichtlich „bewusst entfernt" (DW IV,1: 14). Steer interpretiert den folgenden längeren Text dann so: „der Vollständigkeit halber" werde in Y „noch der weitere Wortlaut des Verses Jeremias 23,5, allerdings wiederum in einer ungenauen Übersetzung, hinzugefügt" (DW IV,1: 14)
2. Ein weiterer, sehr bedeutungsvoller, Unterschied findet sich in Z. 10 der Predigt, wo es heißt: Ez ist ein j#merlich dinc, daz der mensche von dem ist, âne den er niht s #lic gesîn enmac. „S#lic gesîn" entnimmt der kritische Text auch hier X1. In Y heißt es: behegelich mag gesin, in K1a und St6 (zum X-Ast gehörig) überhaupt nur gesin mag. Es geht hier also darum, ob der Mensch ohne Gott nicht saelic sein, nicht behegelich sein, oder schlicht nicht „sein" kann. Auch hier folgt, zum wiederholten Mal, die kritische Edition den X1-Handschriften. Die ganz unauffällige Notiz der Y-Lesart im Variantenapparat aber besitzt höchste theologische Relevanz.
3. Ein rein mengenmäßig größerer Unterschied findet sich in Zeile 18. Nach dem Satz Aller j#merlîchest ist daz, daz er [der Mensch] von dem ist, der sîn êwige s#licheit ist findet sich in Y ein sehr viel längerer Text:
Vnnd so krang ist worden das er von siner eygen craft nummer wedir czü gote komen mag Vnd oüch nicht weis wy er wider czü öm komen sal. das clait er dauid vnd spricht Jch ben verre von gote wan ich in den sünden geborn ben vnd ben so krang worden das ich von myner craft nicht wider czü gote komen mag Vnd habe dy oügen vorlorn das ich nicht weis wo ich wedir czü öm komen mag. Ein gut man der spricht in hern Jacobs [Johans K2] buch Bricht [spricht K2] ein mensche wider den andern da mag er eyn menschen czü vinden der öm das helffe bessern. Bricht aber der mensche wider den der ist so hö vnnd so vn messig das man kein menschen darczü vinden kan der das gebessern moge wan noch der werdikeit des hern an dem man missetüt so müs sin dy besserunge Y1.s
8 Ich verzichte hier - der besseren Übersichtlichkeit halber - auf die Individuallesarten von K2 außer zweien (vgl. Anhang 2 mit Text und Lesarten). Der Beginn von Vnnd so krang bis Jacobs buch fällt in Me2 in den Bereich einer größeren Lücke. Der Rest des Textes beweist, dass auch hier ursprünglich der Y-Text vorlag: wann so ettwer wider einn andern tuet
Steer hält auch diese Textpassage für einen der „auffälligsten Zusätze" von Y, die er insgesamt als „Ergänzungen oder als Verdeutlichungen des X-Textes" (DW IV, 1, S. 6) bzw. als „eine schlichte Interpolation" interpretiert (ebd., S. 14).
Für solche Zusätze und Zeichen der „entschiedenen Re-digierungsabsicht des Y-Bearbeiters" (S. 16) hält Steer auch die weiteren Unterschiede in den Zeilen 20, 24-27 und 32-35 des Textes. Ich zitiere ihn aus DW IV,1 S. 15:
4. „Nach der Wiederholung des Leitzitates (Set, dy tage sind komen, spricht got, das got geborn wel [wolde K2] werden von dem samen dauidis) wird vom Y-Bearbeiter eine zusätzliche Berufung auf die Schrift für nötig befunden (Z. 20 nach Davides): das es (es / ist dasz K2) got selbir gesprochen hat, das ist ein groz ding: mogelicher ist das daz hymel vnd erde [135ra] sich wandele dan dy wort vnsers hern gewandelt mogen werden (Lo4)."
5. „Den Satz Z. 32 Wir suln beiten, der himelische vater muoz unser gebet enpfahen oder niht glaubt der Y-Redaktor überhaupt durch eine Paraphrase über die Haltung der Gottergebenheit des Menschen ersetzen zu müssen: Wiszt ir wy der mensche ettiswan gedenken vnd beten sal. Er sal vor sich vnd vor wen er beten wel mit allen sin sünden vnd gebrechen legen in dy wunden vnsers hern ihesu Christi vnd sal sich unwirdig dünken vnd sal sich beveln der wirdigen martir vnsers hern ihesu Christi vnd sal sich opphern (oppher Lo4) deme hymmilische vater vnd (an Lo4) sine heylige sune. antwedir der hymmilische vater der müsz sy beide enphan adir nicht."
6. „Eine massive Umdeutung nimmt der Y-Redaktor an der Exegese von Matth. 10,42 vor. Die annähernd wörtlichen Textparallelen zu Pr. 93, Z. 13f. (Aber nü genüeget unserm herren lichticliche: Umbe einen trunk kaltes wazzers gibet er sin himelriche an einem reinen herzen) und In Gen. I n. 157, LW I, S. 306,1-4 (et est sensus quod deus quiescit in quolibet opere bono quantumvis minimo, puta in calice aquae frigidae, si tamen deus et amor ipsius operatur in nobis opus. Non enim censum attendit deus, sed affectum, secundum Gregorium) machen deutlich, dass einzig in der
so nymbt er einn gueten frewnt zw im der im das hilft verrichten. So aber ein mensch wider got tuet der so vnmesleich hach ist das man chainn menschen vinden mag der es pessern müg. Wann nach des herren wirdichait wider den man tuet mues dy pessrung sein Me2.
X-Version der Text der Predigt in der ursprünglichen Gestalt bewahrt ist und nicht in der Y-Version:
X Y
Z. 24-27: Wan daz ist war, daz got gibet sin himelriche umbe einen kalten trunk wazzers und an einem guoten herzen. Da mite ist ez genuoc. Und ich nime ez uf min sele: Wer einen guoten gedank opfert in der ewigen minne, da got inne mensche ist worden, der wirt behalten. Lo4, 135ra: ouch ist das war: Wer eyn trünk kaldes wassers gebit sime eben cristen in der ewigen libe da got mensche ynne worde ist, dem werden alle sine sünde vor geben. Vnd ich nemes uff myne sele. Wer eynen guten gedanken vnserm hern gote opphert in der ewigen libe der wirt behalden."
Soweit die von Steer aufgelisteten und interpretierten Divergenzen (meine Nummern 4-6).
Hier können und sollen nicht alle Unterschiede zwischen den beiden Bearbeitungsstufen X und Y in der gesamten Predigt kommentiert werden. Ich muss mich damit begnügen, den ersten Teil der Predigt, der auch inhaltlich eine Einheit bildet, zu kommentieren. Ich beziehe mich also auf den Text bis Z. 38.
7. In diesem Zusammenhang findet sich noch ein, nachzutragender, gravierender Textunterschied. Er betrifft ein Bibelzitat in den Zeilen 30f; dort wird in der X-Fassung, nachdem kurz zuvor (Z. 29) Paulus zitiert wurde, noch einmal Paulus zitiert, eingeleitet mit den Worten: Sant | Paulus sprichet ouch: er ist uns gegeben ze einem vorveht#re der vür uns sigevehten sol in aller unser not. In der Y-Fassung ist hier nicht von Paulus die Rede, sondern der Satz wird eingeleitet mit dem Hinweis (wie in Variante 30f. angegeben): Andirs wo spricht dy schrift. Das Zitat ist in Y also dezidiert nicht als Paulus-Zitat (wie das erste), sondern als anderes Schriftzitat ausgegeben.
Die Unterschiede lassen sich, verkürzt dargestellt, so auf den Punkt bringen:
- Die Version X ist insgesamt deutlich kürzer als die Version Y.
- In der Version X sind Bibelzitate oft anders dargestellt als in der Version Y. Die Version X verwendet dabei auch lateinische Bibelzitate, die Version Y verwendet nur die Volkssprache.
Wie kommt es zu diesen Unterschieden? Ich denke, ein Blick auf die Handschriften selbst, und auf die Redaktoren der Predigten bzw. auf die Bearbeiter und Schreiber, kann dabei helfen, diese Unterschiede
zu verstehen. Ich führe sie jedenfalls auf historisch fassbare Bearbeitungsstufen, so wie sie sich in den Handschriften selbst spiegeln, zurück. Die Handschriften O und H2 überliefern beide die so genannte Sammlung des „Paradisus anime intelligentis", K1a und St6 (wahrscheinlich eine Abschrift von K1a) überliefern das Predigtwerk des Nikolaus von Landau. Die Handschriften aus Melk stammen allesamt von dem Melker Laienbruder Lienhart Peuger. Die Handschrift Lo4 und die Handschrift K2 stammen aus Mitteldeutschland. Über die Handschrift Lo4 ist weiter nichts bekannt. Die Handschrift K2 hingegen wurde von dem namentlich bekannten Schreiber Philipp Babinhusen geschrieben.
Alle diese Schreiber lassen sich untersuchen, bzw. sie sind in großen Teilen bereits untersucht worden. Ich gehe im Stemma von links nach rechts vor und widme mich den einzelnen Schreibern und Redaktoren, bevor ich mit diesem dann gesammelten Wissen zu unseren Anfangsbeispielen zurückkehre und ihre Bedeutung in der Textgeschichte zu entschlüsseln versuche:
XY
Mos
1. Meister Eckhart im Paradies? Der Eckhart des ' Paradisus' -Redaktors und der Vorlage von O und H2
1.1 Forschungsstand:
Die Predigt-Sammlung des ,Paradisus anime intelligentis' galt bislang als singulär. Was man über sie weiß, hat Kurt Ruh in einem Artikel des 'Verfasserlexikons' zusammengefasst (Ruh (VL), Sp. 298-302):
1. Überlieferungssituation: „Nur O und H, Zwillingshss., wie es scheint, auf gemeinsamer Vorlage beruhend", seien als ,Paradisus'-Texte anzusprechen; sie gehörten dem 5. Jahrzehnt des 14. Jh.s an. „Die Predigten der neu entdeckten Londoner Hs. (Löser)" dagegen und das Nikolaus-von-Landau-Corpus seien [...] aus einer Vorstufe
abzuleiten. Diese sei vor 1341, dem Datum der Nikolaus-Sammlung, anzusetzen und dadurch charakterisiert, daß sie die „Kürzungen der 'P.a.i.'-Hss. nicht teilt. Sie scheint zudem (wie Löser, S. 214, wahrscheinlich macht) einen breiteren Bestand gehabt zu haben, als ihn O, H aufweisen."
2. Lokalisierung: „Dieser neue Befund", so Ruh, führte zur These, das ,Paradisus'-Original sei als ,Antwort' auf die Bulle ,In agro dominico' vom 27. März 1329, in der 28 Sätze Meister Eckharts verurteilt worden waren, zu verstehen und dürfte daher „bald nach 1329 in Köln entstanden sein (Steer)." Demgegenüber setzt Ruh „die ursprüngliche Sammlung aus Gründen der Aktualität, zumal hinsichtlich ihres Programms im ersten Jahrzehnt des 14. Jh.s an mit dem Erfurter Dominikanerkloster, Sitz Meister Eckharts in der Zeit seiner Provinzialats (1303-1311), als Ort der Erstredaktion. Ihr folgte dann, wiederum nach Ausweis der Sprache, in Erfurt, in den 40er Jahren die in O, H überlieferte gekürzte Sammlung."
3. Inhalt: Die Sammlung enthalte 64 Predigten. Davon gehörten, durch ausdrückliche Zuschreibung, 31 Meister Eckhart, 6 Eckhart Rube, je 5 Giselher von Slatheim und Johannes Franke, je 3 Hane dem Karmeliten, Hermann von Loveia und Florentius von Utrecht, je 2 Albrecht von Treffurt und Helwic von Germar, je eine Bruder Erbe und einem Barfüßer Lesemeister; Nr. 56 sei wohl durch ein schlichtes Versehen als einzige ohne Zuweisung geblieben. „Von den namhaft gemachten Predigern sind alle", so Ruh, „außer Hane dem Karmeliten, Dominikaner, die meisten aus Thüringen, einige als Lektoren in Erfurt bezeugt. Die übrigen, etwa Johannes Franke, darf man als Gastprediger des Erfurter Klosters betrachten, wohl auch den Karmeliter Hane. Offensichtlicht liegt eine Sammlung von Predigten vor, die zur Hauptsache in der großen Zeit des Erfurter Konvents, der Zeit Meister Eckharts, alldort gehalten und aufgezeichnet worden sind."
4. Anlage und Zweckbestimmung: „Sicher nur beiläufig" sei die Gliederung nach dem Kirchenjahr (Pr.1-31); noch unverbindlicher sei der Heiligenzyklus (Pr. 32-64). „Es ging dem Sammler", so Ruh, „keineswegs um Bereitstellung von Predigten im Ablauf des Kirchenjahres [...] sondern um Dokumentation. Das besagt die ganz ungewöhnliche namentliche Bezeugung in einem besonderen, sorgfältigen Register, das auch die Thematik der Predigten erwähnt. Auch der Rang wird nicht vergessen. 'Meister' sind Eckhart und Hane, die übrigen 'Lesemeister', Lektoren, [...] die gelehrte Elite der eben erst, 1303, gegründeten Ordensprovinz Saxonia. Das heißt so viel, daß diese Sammlung dokumentatorischen Charakter trägt; es
geht, so scheint es, darum, die illustre Schar bedeutender Männer des Ordens, die in der Glanzzeit des Hauses in Erfurt tätig waren oder mit Erfurt in näherer Beziehung standen, in einem Erinnerungsbuch zu bewahren."
5. Programm: „Der Titel, völlig singulär in dieser Zeit, lateinisch und deutsch - beide Formen sind authentisch -, zeigt es an: den Vorrang des intellectus, der vernunft als oberstem Vermögen übersinnlicher Erkenntnis vor der Caritas, der geistigen, vom Willen getriebenen Gottesliebe. Das ist in dieser Zeit einer der Hauptgegensätze der beiden Bettelorden. Der Sammler hebt es selbst im Register hervor: 'In dieser Predigt [Nr.41] disputiert Bruder Giselher von Slatheim. gegen die Barfüßer und beweist, daß das Werk der Vernünftigkeit in Bezug auf das ewige Leben edler ist als das Werk des Willens, und es entkräftet meisterhaft die Argumente der Barfüßer.' Von daher erklärt sich auch die überraschende Präsenz eines Barfüßer Predigers (Nr.62): er trägt die bekämpfte Alternative vor, wozu im Register zu lesen ist: 'Aber die Brüder und Prediger des Predigerordens glauben kein Wort von dem, was er hier aufsetzt.'" Aber auch in der Perspektive dieses Programms stehe Eckhart im Vordergrund.
Soweit - im wesentlichen - der bisherige Forschungsstand. Dazu lässt sich jetzt die Sammlung der 'Kölner Klosterpredigten' vergleichen.9 Sie stammt von den Dominikanern in Köln, enthält Texte des ausgehenden 13. Jahrhunderts mit einem „Spätling" vielleicht um 1330; die Hs. selbst ist aus dem 14. Jahrhundert.
1.2 Die Prediger:
Was die Ordnung und Anlage der Sammlung betrifft, so fällt der ,einfachere' Charakter der >Kölner Klosterpredigten< auf: Ein Rückentitel von jüngerer Hand spricht von Sermones sacre variorum. Eine Ordnung, etwa nach dem Jahr oder den Tagen der Heiligen, ist hier nicht feststellbar. Die Sammlung läßt vielmehr die Texte der einzelnen Autoren beieinander (oder zumindest nahe beieinander).10 Eine andere Ordnung (auch etwa eine thematische) ist
9 Vgl. zum Folgenden künftig: Löser 2009.
10 Fünf Predigten des Prior Rufus machen den Anfang, dann kommen Einzeltexte einzelner Autoren, zwei Texte des Godefridus de Kelse, die zwei einzelne umrahmen, zwei Texte von Albertus Magnus, zwei namenlose, dann die 22 des Magister Gerhard mit dem eingelagerten Text Ulrichs von Straßburg.
nicht erkennbar. Die Anlage der Sammlung ist offenbar an den Autoren orientiert. Ein möglicher Schluß bei derart geschlossenem Auftreten von Einzelblöcken: Der Sammlung standen verschiedene Quellen, kleinere Sammlungen etwa von Einzelautoren zur Verfügung. Zum Vergleich die >Paradisus<-Sammlung: Teil I (bis Predigt 31) folgt (wohl eher beiläufig) dem Kirchenjahr. Die Mehrzahl der Predigten ist nur als de tempore ausgewiesen (so jedenfalls Ruh (VL): 300). Teil II (der Heiligenzyklus) scheint noch >unverbindlicher< geordnet. In den Überschriften »außer 3 Marienpredigten und einer über Johannes den Täufer lautet die Zuweisung jeweils nur de sanctis. Es ging dem Sammler«, so Ruh, »keineswegs um Bereitstellung von Predigten im Ablauf des Kirchenjahrs, [...] sondern um Dokumentation« (Ebd.). Wenn dies zuträfe, 1 so würde es die Sammlung des >Paradisus< mit den >Kölner Klosterpredigten< verbinden. Dem >Paradisus<-Redaktor ging es aber um mehr. Die Ordnung ist thematisch orientiert; und freier zu reihende sermones de sanctis im Teil II bieten sich für eine solche thematische Ordnung besser an als Jahrespredigten. Der vielleicht interessanteste Teil der Sammlung, das Inhaltsverzeichnis, macht dies deutlich: Incipiunt themata secunde partis. Diese Themen folgen offenbar nicht willkürlich aufeinander, sondern wurden geordnet, was beispielsweise die Reihe der Texte 37 bis 44 zeigen mag:
dri wirdikeit unsir vrowin - drigirleige minne - dri edilkeit der libe - daz fornuft dri edilkeit hait - daz diz werc der fornufi edilir ist dan diz werc des willen - lidinde fornuft - [von] der lidindin fornuft oder der mugilichin fornuft - wi di zwo crefte der sele, fornuft und wille, Got nemin sullen. (Par. an.: 4f.). Es ergibt sich ein Ordnungsmuster von der Dreizahl und den Adel der Liebe zum Adel der Vernunft, die Überlegenheit der Vernunft über die Liebe und die Aufgliederung der vernunft in intellectus agens und possibilis. Von diesen Predigten stammen nur zwei von Meister Eckhart, die anderen von verschiedenen anderen Predigern; so drängt sich die Frage auf, ob tatsächlich erst ein Redaktor die offensichtliche Ordnung in der Abfolge sekundär so angelegt haben
11 Ich halte das inzwischen erfolgte Votum Sturleses für eine ursprünglich liturgische Ordnung der Predigten Eckharts (mithin der Vorlage des >Paradisus<-Redaktors) mit meiner oben formulierten These von 1998 (Zeitpunkt der Tagung, auf der sie vorgetragen wurde) weiterhin für vereinbar. Vgl. Sturlese 2005: 397-399.
kann. Erschiene es nicht denkbar, daß Texte der Sammlung schon von ihrer Genese her aufeinander bezogen sind, etwa wenn sich eine Gruppe von Predigern mit einem übergreifenden Thema (gestellt von Eckharts Predigten!) unter verschiedenen Aspekten befasst hat? Mit Sicherheit lässt sich sagen: Die Sammlung des >Paradisus< orientiert sich an den Themen, das Inhaltsverzeichnis stellt diese Themen -womöglich später angelegt und gar nicht unbedingt immer den tatsächlichen Predigtinhalt richtig gewichtend? - in den Vordergrund. Die Anordnung spiegelt den themenorientierten Ansatz. Die >Kölner Klosterpredigten< sind schlichter nach dem Autorprinzip gereiht.
Auf einer einfacheren Ebene werden allerdings Berührungspunkte der Ordnungsstrukturen erkennbar; jede der Sammlungen hat gewissermaßen einen >Hauptprediger<. Bei den >Kölner Klosterpredigten< ist dies mit 22 von 40 Predigten Meister Gerhard, beim >Paradisus< mit 31 von 64 Predigten Meister Eckhart. Prior Rufus ist in der Kölner Sammlung mit fünf Texte vertreten, Eckhart Rube im >Paradisus< mit sechs (dazu kommen dann Giselher von Slatheim und Johannes Franke mit je fünf). Albert der Große und Godefridus de Kelse folgen in der Kölner Sammlung mit je zwei Texten; im >Paradisus< stehen an dieser Stelle mehrere Prediger, die jeweils mit drei und zwei Texten dokumentiert sind. Einzelne Predigten finden sich hier wie dort. Von der Menge der Texte her gesehen gibt es in beiden Sammlungen einige >Minderprediger<, eine klare >Nummer zwei< und eine zentrale Figur, die alles überragt: Hier Gerhard, dort Eckhart.
In beiden Sammlungen steht mitten unter den Dominikanern ein Franziskaner. Aber in den >Kölner Klosterpredigten< wird dessen Bezeichnung nachträglich ausradiert, weil ein späterer Benutzer unter den Ordensbrüdern wohl der Meinung war, ein minir brudir habe hier nichts verloren. Das heißt, das Prinzip wurde nicht verstanden, oder war gar nicht so zu verstehen wie im >Paradisus<, denn in den >Kölner Klosterpredigten< wird die franziskanische Predigt nicht kommentiert. Dies geschieht nur im >Paradisus<, wo bekanntlich im Inhaltsverzeichnis die Irrtümer des Franziskaners als Kontrastfolie zu den Dominikanern präsentiert werden:
abir di brudere und lesemeistere in predigere ordine inhaldin nicht einis wortis daz her sezzit und sprichit daz daz allir hohiste werc und diz groiste der seligin in himmilriche daz si minne. ez ist bekentnisse, sprechin di predigere, und habin wor. (Par. an., Pr. 62: 6f.).
Im Inhaltsverzeichnis des >Paradisus< wird aber (was gerne übersehen wird) auch hervorgehoben, daß ein bestimmter dominikanischer Prediger die Argumente des Franziskaners widerlegt habe. Die Predigt des Franziskaners bildet also die Kontrastfolie vor allem für d i e s e n Prediger. Dabei handelt es sich, was mir höchst beachtenswert erscheint, gerade um jenen Predigerbruder, der in Köln und in Erfurt tätig war, jemand also, der die Kölner Sammlung der 'Kölner Klosterpredigten' und die Aufnahme einer franziskanischen Predigt in die > Kölner Klosterpredigten< gekannt und dadurch die >Paradisus<-Sammlung beeinflusst haben kann, in deren Inhaltsverzeichnis es heißt: in disir predigade [Nr. 41] dispitirit brudir Gisilher von Slatheim, der lesimeister was zu Kolne und zu Ertforte, widir di barfuzin und bewisit daz diz werc der fornuft edilir ist dan diz werc dez willen in deme ewigin lebine, und brichit di bant der barfuzin id est argumenta meisterliche. (Par. an.: 5). Giselher, in Erfurt und Köln tätig, also widerlegt di barfuzin. Medium der Auseinandersetzung sind dabei aber weniger die Predigttexte selbst. Es ist das Inhaltsverzeichnis, vom Redaktor der Sammlung angelegt, das die Streitpunkte hervorhebt und das die Themen der Sammlung formuliert.
Ein derartiges Inhaltsverzeichnis fehlt den > Kölner Kloster-predigten<. Diese Sammlung deutet zwar durch recht genaue Überschriften schon den Weg an. Was aber fehlt, ist eine Wiedergabe der Predigtthemen. Die >Kölner Klosterpredigten< sind an einer recht genauen Einordnung der Autoren interessiert. Neben dem einfachen Bruder steht in diesen Überschriften der magister, der prior, der byschof und der provincial. Das Inhaltsverzeichnis des >Paradisus< ist aber auch in diesem Punkt noch präziser. Von Giselher heißt es ausdrücklich: der lesimeister was. Thomas von Apolda wird nur als der prediger (Nr. 6) geführt, Hane als meister Hane der calmellita (Nr. 30); Eckhart heißt meister Ekart oder (besonders häufig am Beginn der Sammlung) meister Eckart der alde. Dies könnte bedeuten, daß er damit vom jüngeren Eckart Rube abgegrenzt werden soll. Das Inhaltsverzeichnis des >Paradisus< differenziert also sehr genau und es wurde von einem Bruder mit hervorragender Kenntnis der Ämter der einzelnen Prediger angelegt. Bei den Predigern handelt es sich um Lektoren des Ordens. Diese werden, was man bisher nicht berücksichtigt hat, auch zeitlich genau eingeordnet. Von Giselher von Slatheim hatte es gerade geheißen, daß er lesimeister was [!] zu Kolne und zu Ertforte (Nr. 41). Ähnlich heißt es von Eckhart Rube: der lesemeister in predigir ordine w a z (Nr. 9). Helwic von Germar wird genauso vorgestellt:
der lesemeister waz zu Erforte (Nr. 43). Und von Florentinus von Utrecht heißt es, zu Beginn der Sammlung beim Eintrag zur zweiten Predigt, daß er undir lesemeister was zu Erforte zu den predigerin.12
Insgesamt von vieren der Prediger wird also gesagt, daß sie Lesemeister waren. Das kann nur heißen, daß sie entweder nicht mehr am Leben waren, oder aber das Lektorenamt nicht mehr bekleideten, als das Inhaltsverzeichnis angelegt wurde.
Dem stehen vier Prediger gegenüber, bei denen der Hinweis auf ein ehemaliges Lektorenamt fehlt: Johannes Franke wird als lesemeister der predigir, lesemeister und lector geführt (Nr. 5, 18, 29). Dazu kommen brudir Erbe der prediger und lesemeister (Nr. 11), brudir Albrecht von Driforte der lesemeistir (Nr. 38) und brudir Herman fon Loveia lector (Nr. 13, ähnlich Nr. 17 und 40). Nun kann zur gleichen Zeit - also zum Zeitpunkt der ursprünglichen Anlage des >Paradisus<-Registers - in einem Konvent nur ein Bruder als Lector (das heißt als Leiter des Studiums) amtieren. Albrecht von Driforte gehört offensichtlich nach Erfurt.13 Herman von Loveia dagegen ist schon um 1300 [!] als Zeuge für die Wahrheit der Gesichte im >Legatus divinae pietatis< der Gertrud von Helfta nachweisbar und zwar in seiner Eigenschaft als lector ordinis Fratrum Preaedicatorum in Lipzia .14 Und Johannes Franke, wenn man die schon eingangs erörterten möglichen Beziehungen bedenkt, wäre eben doch in Köln zu lokalisieren. Fehlt nur noch Bruder Erbe, der als Lektor in einem vierten Haus (Magdeburg?) zu lokalisieren wäre. Liest man das Inhaltsverzeichnis so gleichzeitig als Liste ehemaliger und aktueller [!] Lektoren des Ordens an vier Häusern, dann käme der dominikanischen Sammlung des
12 Dazu eine Bemerkung: Strauch hatte argumentiert, Preger lasse Florentius „das Amt eines Unterlesemeisters, das es nie gegeben hat, bekleiden." Undir bedeute - gut thüringisch übrigens - „unser" (Par. an.: VIII, Anm. 2). Damit war ein Argument für die Zusammenstellung der Sammlung, mindestens jedoch des Inhaltsverzeichnisses, in Erfurt gewonnen. Nun ist spätestens in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts aber das Amt eines sublector selbstverständlich nachzuweisen (vgl. den Beleg bei Senner 1995: 128). Anläßlich seiner zweiten und dritten Predigt (Pr. 31 und Pr. 63) wird Florentius allerdings ausdrücklich als lesemeister geführt, nicht als >Unterlesemeister<. So bleibt wohl doch keine andere Möglichkeit: undir Lesemeister im Inhaltsverzeichnis meint „unseren" Lektor in Erfurt, freilich einen ehemaligen (was!).
13 Vgl. Strauch, Par. an.: VIIIf.
14 Hinweis so schon bei Strauch, Par. an.: IX und Anm. 6.
>Paradisus< überregionale Bedeutung zu, und zwar eine größere als den >Kölner Klosterpredigten<.
Ein weiterer Unterschied zwischen den Sammlungen ist evident. Im Inhaltsverzeichnis des >Paradisus< werden nahezu ausnahmslos Predigten von Lektoren dokumentiert. Die Sammlung ist am akademischen Lehrbetrieb interessiert, und die Sprache des Redaktors spiegelt diese Leitvorstellung: Giselher dispitirt [...] wider di barfuzin, er brichit ire bant [...] id est argumenta (s.o.). Auf die ,Latinisierung' des ,Paradisus\ etwa in einigen Predigten Eckharts, habe ich schon früher hingewiesen: Warumbe enwürket diu natüre des apfelboumes niht win, und warumbe enwürket der winstock niht epfel? sagt Eckhart. In der Redaktion des >Paradisus< lautet der zweite Halbsatz: et e contrario (Pr. 84, DW III: 460,5f.). In einer anderen Predigt findet sich in der >Paradisus<--Redaktion der Zusatz et sic probat primum (Pr. 60, DW III: 11,2). In einer dritten Predigt tradiert die sammlungsexterne Überlieferung: Da von sprichet der meister in dem buoche, daz da heizet ein lieht der liehte. Der Redaktor des >Paradisus< weiß dagegen: Philosophus dicit in libro qui dicitur lumen luminum. (Pr. 80, DW III: 382,5). Bei einer solchen 'Akademisierung der Sprache' nimmt es nicht wunder, daß der Redaktor auch solche Predigten ausgewählt hat, die eine Nähe zum Lehrbetrieb erkennen lassen. So hat schon Kurt Ruh betont, Eckharts im >Paradisus< prominent überlieferte > Quasi stella matutina<-Predigt mache »einen gelehrten Eindruck. Paris, der dortige Universitätsbetrieb, die Disputationen, die Konkurrenzkämpfe zwischen den Ordenstheologen sind nah und gegenwärtig« (Ruh 1985; 21989: 71). Anders ist dies in den >Kölner Klosterpredigten<; zwar findet sich auch hier einmal eine Reminiszenz an den Schulbetrieb Dit wort sprach bischof Albret. [...] wilt sich ein scholere zume eirsten male setzen bi sinis meisters siden, alse he leren sal, dat is ein zeighen, dat he kume zu eren sule werden. he sal sich zu vuzen setzen. (Strauch 1911: 42). Der Text ist als Erinnerung eines Albert-Schülers inszeniert. Aber der Lehrbetrieb interessiert nicht als solcher. Es geht um die Schule des Heiligen Geistes: darumbe wolde der heilige geist kumen an der morgenstunde, dat wir quemen zu siner scholen [...] dat wir in geiner ander sholen inbegerin, dat is dat wir in geine genugde an ertschen dingen in suken. (Ebd.).
Die >Paradisus<-Sammlung mag in einzelnen Ausnahmefällen auch Predigten enthalten, die im Rahmen der cura monialium entstanden; als solche und als ganze wendet sie sich an die gelehrten Mitbrüder und diskutiert die Themen, die hier von Interesse sind. Die >Kölner Klosterpredigten< hingegen dokumentieren schlicht
Predigten von Ordensmitgliedern (hier ist kein Bruder als Lektor oder Lesemeister benannt); und diese Texte haben sich eindeutig an Nonnen gerichtet.
Der vergleichende Blick zeigt die bewusste Anlage und den gelehrten (z. T. auch latinisierenden) Charakter der 'Paradisus'-Sammlung. Man kann also die Vorlage der Handschriften O und H2 noch schärfer in den Blick nehmen. Die Auffindung der Eckharthandschrift Lo4 vor nunmehr 23 Jahren hat auch die Welt des >Paradisus< verändert, ohne daß diese Änderung freilich so recht ins Bewusstsein der Forschung gedrungen wäre.15
1.3 Rückverweise:
Nach dem Abschluss von DW III blieb im Zusammenhang mit der Sammlung des 'Paradisus anime intelligentis' ein „spezifisches Eckhartproblem", das Ruh angesprochen hat und das die Fortführung der Edition in Band IV,1 betraf (Ruh 1984: 316):
„Von den 31 Meister Eckhart im 'Paradisus' zugesprochenen Predigten hat Josef Quint nur 13 [es sind 18] in seine kritische Ausgabe aufgenommen, die verbleibenden 18 [13]16 muß er als unecht eingestuft haben. Auf der anderen Seite scheinen die Forscher, die sich näher mit der Sammlung befaßt haben [...], nie an der Echtheit aller Predigten des Corpus ernsthaft gezweifelt zu haben. Ein Echtheitsbeweis ist im einzelnen [aber] nie geführt worden."
Zu den Predigten des 'Paradisus', die Quint nicht aufnahm (und die teils in DW IV, 1 inzwischen ediert sind), gehören die in Lo4 überlieferten Predigten 1, 16, 46 und 47. Auf zwei dieser Predigten (47 u. 16) möchte ich kurz näher eingehen: Schon im ersten Predigttext der Hs. Lo4, der jetzigen Nr. 96 der kritischen Edition (Nr. 47 des Par. an. also), fand sich eine Textstelle, die im Hinblick auf die Echtheitsfrage der Predigt wichtig war. Ich gebe sie im Wortlaut des Strauchschen Druckes, der der Hs. O folgt (Par. an.), und im Wortlaut von Lo4 (buchstabengetreu, mit Auflösung der Abkürzungen und Schreibung von f als s):
15 Vgl. zum Folgenden: Löser 1986: 209ff.
16 Die beiden Zahlen sind bei Ruh irrtümlich vertauscht worden. 18 Predigten sind von Quint ediert, 13 blieben bisher unediert. Die einzige anonym überlieferte Predigt der Sammlung (Nr. 56; nicht Nr. 57) möchte Ruh (Ruh 1985; 21989: 61) „ aus der Perspektive des Sammlers" ebenfalls Meister Eckhart zusprechen.
Par. an. Nr. 47, S. 107,20-23 'alle vollincumenheit der sele lit dar ane daz si habe glichnisse Godis, engle und allir creature.' glichnisse und vollincuminheit allir creature ist geschaffin an den englin geisteliche, er si geschaffin wordin an den creaturen.
Lo 4, f. 124vb
Alle volkomenheit der sele lyt dar an das sy habe glichnisse gotis engele heyligen vnd aller creaturn al ich ouch mer gesprochen habe das glichnisse vnd volkomenheit aller creaturn ist geschaffen an den engeln geistlich ee sy geschaffen worden an den creaturn.
Bei dem in O und H2 fehlenden Rückverweis handelt es sich im Sinne der Differenzierung M. Pahnckes - wie man leicht sehen kann - um eine „unbestimmte Beziehung": „der Redner [...] hat [...] den betreffenden Gedanken öfters vorher ausgesprochen und bezieht sich also auf mehrere früher gehaltene Predigten zurück, nicht auf eine bestimmte."17 Für eine Chronologie der Predigten ist solch ein Rückverweis mithin kaum auswertbar, für den Echtheitsnachweis einer Predigt ist er verwendbar; dann müssen sich allerdings im sicher echten Werk Eckharts mehrere Textparallelen dazu identifizieren lassen. Tatsächlich ließen sich folgende derartige Parallelen nennen: Par. an. Nr. 21 = DW II Nr. 37, S. 221,2-4: Got wolte in sie [die Seele] gedrücket haben natüre aller creatüren; do enwas si niht vor der werlt. Got hat alle dise werlt geistliche gemachet in einem ieglichen engel, e disiu werlt gemachet würde in ir selben. Ich nenne diese Parallele an erster Stelle, weil sie einer Predigt des 'Paradisus' entstammt und so ein enger Zusammenhang mit der Predigt Par. an. Nr. 47 gegeben ist. Dazu kommt DW III Nr. 81, S. 403,10-12: Als ich ouch me gesprochen han, daz alle bilde und glichnisse aller creatüren e geschaffen wurden an den engeln, e dan si liphaftic gemachet wurden an den creatüren18.
Eine Reihenfolge der Predigten ließ sich, zumal da die letztgenannte Stelle auch in die Form eines Rückverweises gekleidet ist, nicht mehr rekonstruieren. Wohl aber waren die (fast wörtlichen) Übereinstimmungen eng genug, um den Schluß zu erlauben, daß der unbestimmte Rückverweis der Predigt Par. an. Nr. 47 einen von Eckhart häufiger zitierten Gedanken traf. Damit waren inhaltliche Parallelen gefunden, die den Schluß auf die Echtheit der Predigt auch ohne das Vorhandensein der Rückverweisformel selbst nahe gelegt hätten.
17 Pahncke 1905: 20; vgl. Pahncke 1909: 10f. und Pahncke 1913.
18 Weiter wären mit Quint (DW III: 412 Anm. 32 zu Nr. 81) Sermo LV, 4, LW IV: 460, 3ff. und - vager - Par. an. Nr. 55: 120, 28ff. mit Quellenhinweis und Pfeiffer Nr. LXXV: 236,1ff. zu nennen.
Der Echtheitsnachweis qua Rückverweis aber war nur dann wirklich stringent, wenn als sicher gelten durfte, daß die Rückverweisformel so und an dieser Stelle der Predigt tatsächlich von Meister Eckhart selbst stammte. Dabei konnte die sprachliche Wendung als ich me gesprochen han für sich genommen nicht schon als Signum Meister Eckharts gelten: Sie ist so formuliert zwar sehr häufig bei Eckhart belegt19, findet sich aber beispielsweise auch (in der Ausgabe F. Vetters) zweimal unter den Rückverweisen der Predigten Taulers20.
Weiter bestand, wie Spamer (Spamer 1909: 311) kritisch gegenüber Pahnckes Handhabung der Rückverweise anmerkt, „die möglichkeit, die in jedem einzelnen fall nachzuprüfen wäre, ob nicht die verweise secundär vom schreiber erst eingesetzt worden sind, um die verschiedenen ihm vorliegenden stücke in seiner hs. zu einer gewissen einheit zu binden." Dies konnte durch weitere Handschriftenheuristik ausgeschlossen werden:
Im Falle der Predigt Par. an. Nr. 47 fand sich in B7, der Handschrift, die neben O und H2 bis dahin den einzigen Volltext der Predigt bot, mit einem Unterschied der Rückverweis so, wie auch Lo 4 ihn bietet: Es fehlt die nur in Lo 4 überlieferte Konjunktion das, die den Verweis auf die folgende, nicht auf die vorhergehende Aussage bezieht. Strauch hatte die Hs. B7 wenige Jahre nach seiner Ausgabe des Par. an. analysiert und in einem zweiten Schritt alle von O abweichenden Lesarten mitgeteilt21. Unter hunderten von Varianten
19 als ich (ouch) me(r) gesprochen han: DW I 197,8; DW II 66,1; 88,4; 285,9; 288,4; 292,6; 401,4; 558,4; 565,3f.; 578,2; 584,6; 611,2f.; 612,3; DW III 403,10f.; 428,1; DW V 43,18; 203,5f.; 221,4f.; -Ich han(ez) ouch (etwenne) me(r) gesprochen: DW I 10,8; 32,1; 48,8; 220,4; 351,1; 360,3; 367,1; 394,3; 399,10; DW II 94,7; 116,8; 124,3; 139,2; 161,4f.; 201,12; 279,4; 329,2; 347,3; 349,3f.; 369,3; 399,5; 530,3f.; 549,5f.; 599,1; 612,10f.; DW III 16,2; 100,3; 110,5; 220,8; 250,7; 397,4.
20 Vetter 1910, Predigt Nr. 58: 274,29f.: und als ich dicke und me gesprochen han und Predigt Nr. 60: 276,25: wan, als ich me han gesprochen. Eine Zusammenstellung von Rückverweisen in Texten Taulers (nach dem Leipziger Taulerdruck von 1498) bietet Naumann (1911), Kap. 4, der allerdings Rückverweise wie die beiden genannten, da sie „ganz allgemein gehalten sind und nur auf immer Wiederholtes weisen" [S. 36], unerwähnt läßt. Rückverweise Taulers in der Ausgabe Vetters: 89,7 u. 10f.; 96,25f.; 97,8ff.; 101,33ff.; 111,6ff.; 125,6f.; 147,26; 162,29f.; 163,1; 225,9; 234,20f. u. 32f.; 235,20f.; 257,2; 301,14f.; 310,13f.; 377,3f.; 398,6 u. 16f.
21 Strauch 1925: 362 und Strauch 1927: 230 u. 231 u. Z. 21.
druckte er auch den genannten Rückverweis, bezog ihn jedoch auf die dem Verweis voraufgehende Aussage (aller creaturen, der engel und gottes, als ich auch me gesprochen han), die jedoch nicht gemeint sein kann, da sie selbst als Zitat eines hedenisch meister gekennzeichnet ist. Auf die mögliche Bedeutung des Rückverweises für den Echtheitsnachweis der Predigt hat Strauch nicht hingewiesen.
Der Befund (Rückverweis in Lo 4/B7 vorhanden, in O/H2 nicht) konnte einerseits bedeuten, daß eine ursprünglich vorhandene Rückverweisformel in der gemeinsamen Vorlage von O und H2 getilgt worden war. Andererseits konnte es sich um einen Zusatz einer Vorstufe von Lo 4/B7 handeln. Das Verhalten von O und H2 einerseits, Lo 4 und B7 andererseits im Bereich der Rückverweisformeln war vergleichend zu untersuchen.
Bei B7 mußte dabei von einem hohen Authentizitätsgrad ausgegangen werden: Für 13 Predigten standen Quint Texte der Hs. zur Verfügung; mit nur zwei Ausnahmen (DW I Nr. 18 u. DW II Nr. 45) hatte er dabei stets den „verläßlichsten" (DW II, S. 208 u. 547; DW III, S. 8 u. 393) und im Vergleich mit den anderen Textzeugen „relativ besten Text von B7 als Leittext gewählt" (DW III, S. 184).22
Um die Authentizität von B7 auch im Bereich der Rückverweise zu sichern, habe ich in den genannten 13 Predigten alle B7-Varianten mit den kritischen Texten verglichen und in B7 keinen zusätzlichen Rückverweis gefunden, der nicht in dem kritischen Text übernommen worden wäre. Auch für Lo 4 gilt: Im Vergleich mit den kritischen Texten ließ sich kein einziger zusätzlich 'eingeschmuggelter' Rückverweis finden.
Andererseits habe ich zunächst alle von Quint edierten, dann auch die von Quint nicht edierten im 'Paradisus' Meister Eckhart zugeschriebenen Predigten systematisch nach Rückverweisen untersucht und dabei die OH2-Varianten auch anhand von Kopien der Hss. überprüft: Von den 18 Rückverweisen und Bezügen auf andere Texte, die sich in den von Quint edierten Texten des 'Paradisus' finden, sind in der Fassung von OH2 nur drei unbearbeitet, vier weitere in bearbeiteter Form erhalten geblieben. Dem stehen elf Fälle gegenüber, in denen der Redaktor der Sammlung (oder die Vorlage von O und H2) die ursprünglich vorhandenen Rückverweise getilgt
22 Vgl. Quints Ausführungen zur Bedeutung von B 7 bei der Textkonstituierung der Predigten Nrr. 18, 20b, 31, 34, 36b, 37, 45, 54a, 60, 61, 70, 80 u. 82 (DW I: 294f. u. 341; DW II: 112, 159, 197, 207f., 357 u. 546; DW III: 8, 33, 184, 393 u. 419).
hat: So fehlt beispielsweise im Text der Predigt Par. an. Nr. 24 (DW I, S. 347, 10f.) Noch sprechen wir von einem knehte, von dem ich me gesprochen han, daz ist vernünfticheit in O und H2 gerade die Verweisformel von dem ich me gesprochen han.23
Die aufwendige Untersuchung erbrachte ein verblüffend klares Ergebnis: Die Tilgung von Rückverweisen kann als geradezu charakteristisch für die Vorstufe der Hss. O und H2 gelten. Das hat zwei erhebliche Konsequenzen. Die erste für die Edition, die zweite für die Forschung zum 'Paradisus'.
Erstens: Faktisch hat Quint in der vierten Abteilung der Predigten (DW III) die Echtheitssicherung qua Rückverweis, wenn sie möglich war, neben der handschriftlichen Zuweisung (mit sehr wenigen Ausnahmen) stets an erster Stelle genannt (vgl. DW III, S. 8, 33, 54, 72, 84, 93, 138, 156, 209, 236, 271, 349 usw.) so daß sich sagen läßt: Hätte er den Rückverweis in der Form von Lo 4 gekannt, dann hätte er die Predigt seinen eigenen abgestuften Kriterien gemäß in DW III aufnehmen müssen; und zwar v o r den Predigten Nrr. 70, 80, 81, 84 und 85, die er aus der 'Paradisus'-Sammlung aufnahm, und deren Echtheit er außer auf handschriftliche Zuweisung im Register der Sammlung nur auf „inhaltliche und textliche Übereinstimmung" stützte. (Vgl. DW III, S. 184f., 376f., 419f., 452 u. 466). D. h.: Die 13 Predigttexte, die im Register der Sammlung Meister Eckhart zugeschrieben werden, die Quint jedoch nicht ediert hat, schienen bis heute, im Gegensatz zu den meisten der 18 von ihm edierten Predigten, keinen Rückverweis zu enthalten. Quint konnte ihre Echtheit weder auf Rückverweise bauen, die aus ihnen heraus auf andere Texte wiesen, noch war er auf sicher echte Texte gestoßen, die eindeutig auf sie verwiesen hätten. Er hat seine abgestuften Kriterien konsequent angewandt. Daß er die 13 Predigten nicht edierte, findet darin seine Erklärung, bedeutet also nicht, daß er sie für unecht gehalten haben muß. Es wird stets damit zu rechnen sein, daß ursprünglich vorhandene Rückverweise durch den Sammler (oder die Vorlage von O und H2, die nicht mit diesem identisch sein muß [!]) getilgt oder daß Stellen gestrichen wurden, auf die sich ein Rückverweis aus einer anderen Predigt bezog.
Das heißt zweitens: Nicht nur Predigten, die in der Sammlung aufgenommen wurden, waren ursprünglich durch Rückverweise
23 Verzeichnis aller in OH2 fehlenden Rückverweise bei Löser 1986.
untereinander verbunden24; vielmehr beziehen sich Rückverweise von Predigten der Sammlung auch auf Texte außerhalb der Sammlung; d. h., daß ein Komplex ursprünglich eng zusammengehöriger Predigten bestanden haben muß, der umfangreicher war als das, was der Redaktor des 'Paradisus' in seine Sammlung aufzunehmen bereit war.25
Bei den Predigten des 'Paradisus\ wie sie uns durch die Hss. O und H2 geboten werden, müssen wir also erstens von einer Auswahl durch den Redaktor ausgehen. Zweitens sind die Texte (die Untersuchung der Rückverweise hat dies gezeigt) oft erheblich gekürzt worden.
1.4 Inhaltliche Betrachtung
Wir können jetzt26 eine deutliche Tendenz dieser Redaktion formulieren: Von 18 Rückverweisen Eckharts wurden nur drei unverändert beibehalten; vier wurden im Wortlaut bearbeitet; elf ersatzlos gestrichen.27
Der Sinn dieses Vorgehens liegt auf der Hand, wenn man weiß, daß der Redaktor Stellen, an denen Eckharts Subjekt hervortritt, generell weitgehend bearbeitet, und daß sich einige der Rückverweise eben auf Predigten Eckharts beziehen, die der Redaktor in die 'Paradisus'-Sammlung nicht aufnahm (Löser 1986: S. 214). In einer Reihe von Textabschnitten wird das Ich des Predigers zurückgenommen, werden persönliche Aussagen Eckharts ins Allgemeine gewendet. Dies ist etwa der Fall bei Rückverweisen wie DW II, Nr. 57, S. 599, 1: Statt Eckharts Aussage Ich han ez ouch
24 Par. an. Nr. 24 (DW I Nr. 20b) bezieht sich zweimal (DW I: 347,9 u. 350,10ff.) auf Par. an. Nr. 21 (DW II Nr. 37); Par. an. Nr. 34 (DW II Nr. 32: 139,2ff.) bezieht sich auf Par. an. Nr. 49 (DW II Nr. 33: 154,6ff.) und auf die 'Rede der underscheidunge', was auf Erfurt als Entstehungsort der Predigt weisen könnte; Par. an. Nr. 4 (DW II Nr. 38: 230,1) geht auf Par. an Nr. 21 (DW II Nr. 37) usw.
25 Beispielsweise dürften sowohl Par. an. Nr. 28 (DW III Nr. 70: 189,3f.) als auch Par. an. Nr. 51 (DW III Nr. 72: 250,7) auf DW III Nr. 71 (S. 211,5ff. bzw. S. 233,7ff.) verweisen. Die Texte des Nikolaus von Landau, die mit OH2 eng verwandt sind, könnten noch - so stark bearbeitet sie sind - Reste des umfangreicheren Komplexes repräsentieren. Die Ergebnisse Zuchholds (1905) sind revisionsbedürftig; siehe dazu unten.
26 Vgl. zum Folgenden Löser 1992: 57-60.
27 Vgl. Löser 1986: 209-214.
me gesprochen tradiert die Sammlung Ez ist dicke gesprochin; exakt so verfährt der Redaktor auch DW III Nr. 82, S. 428, 1: Statt Eckharts als ich ouch me gesprochen han schreibt er alse ez ouch me gesprochin ist. Ein ähnliches Vorgehen findet sich auch in DW II Nr. 32, S. 138,4f.: Statt Eckharts prononciertem Ich bin des gewis tradiert die Sammlung Daz ist gewis. Das ,Ich' des Predigers wird durch einen bewußten Redaktor, der sich selbst als Prediger verstehen mag, zum ,Er': Bei Eckhart (DW III Nr. 70, S. 191,8192,1) heißt es: Ein pfaffe sprach: „ich wölte, daz iuwer sele in minem lichamen waere." Do sprach ich: ,,w#rliche, so w#re si ein tArinne dar inne." Der Redaktor des 'Paradisus' macht daraus: ein phaphe sprach zu meister Eckarde: „ich wolde daz uwir sele in mime lip were." du sprach he: „ werliche! so were si ein toiren darinne." Die Analyse der Eigenheiten des 'Paradisus'-Redaktors zeigt neben einer „dogmatischen Bereinigung", von der Ruh ausgeht (Ruh 1985; 21989: 26f) und einer schon von Quint ganz allgemein und unspezifisch immer wieder festgestellten Kürzung auch, daß der Redaktor - u. a. durch kurze lateinische Einschübe - die Predigten für sein gelehrtes Zielpublikum (dominikanische Prediger) auf-bereitet.28.
Die Sammlung des Paradisus anime intelligentis, deren mhd. Titel mit Paradisus der fornüftigin sele überliefert ist, vermittle, so hat Kurt Ruh festgestellt, spezifisch dominikanische Doktrin; schon der Titel besage programmatisch den Vorrang des intellectus vor caritas/voluntas. Die „Vernünftigkeit" ist zentrales Thema der in der Sammlung aufgenommenen Texte verschiedener Prediger, auch der 'Paradisus'-Predigten Eckharts. Das aber bietet nach Ruh eine „Handhabe für ihre Entstehungszeit", denn Eckhart habe die Doktrin vom Vorrang des intellectus in spezifischer Ausformung nur in den Pariser Quaestionen von 1302/03 und in der 'Paradisus'-Sammlung vertreten; diese sei in Erfurt entstanden, wo er von 1303-1311 wirkte. „Nur philologische Kleinarbeit", so schließt Ruh seine Überlegungen zu Eckharts 'Paradisus'-Predigten, „könnte indes zu konkreten Resultaten führen" (Ruh 1985; 21989: 60-63, hier S. 63).
Einen Schritt in Richtung auf diese „Kleinarbeit" will ich tun, und zwar durch den Vergleich der ,Paradisus'-Redaktion mit der Einzelüberlieferung außerhalb der Sammlung und, wo dies schon möglich ist, mit den bereits kritisch edierten Texten. Ich stelle im
28 Vgl. dazu die Lesarten zu DW III Nr. 6: 11,2f.; Nr. 80: 382,5-7; Nr. 84: 460,5f.
folgenden also einen Abschnitt der von Quint kritisch edierten Predigt DW III Nr. 60 In omnibus requiem quaesivi dem gleichen Text in der Fassung des ,Paradisus'-Redaktors gegenüber:
DW III Nr. 60, S. 22, 3-7
Darumbe enwürket got siniu
götlichiu werk niht in der
bekantnisse, wan si in der sele
mit maze begriffen ist;
mer: er würket sie als got götlich.
So tritet diu oberste kraft hervür
- daz ist diu minne -
und brichet in got und leitet
die sele mit der bekantnisse
und mit allen irn kreften
in got und vereinet sie mit gote
'Paradisus' (Strauch [1919], S. 82, 3483, 1; zitiert nach der Hs. O)
Dar umme wirkit got sine gotlichin werc in deme bekentnisse 0 Wan he in der sele mit mazin begriffin ist,
so tridit di vberste craft her fore
vnd brichit in got vnd wirfit sich
mit al vrre craft
in got vnd foreinit sich mit gode.
Im Gegensatz zum Programm des ,Paradisus anime intelligentis' lehrt Eckhart hier - in dieser einen Predigt - nicht den Vorrang des intellectus. Vielmehr sagt er diu oberste kraft [...] daz ist diu minne! Der Redaktor dagegen wahrt das Programm der von ihm angelegten Sammlung, manipuliert Eckharts Text, greift sinnverändernd ein, so daß wieder bekantnisse als oberste kraft erscheint. Nicht Eckhart vertritt in dieser Predigt die Doktrin vom Vorrang des intellectus, sondern der Redaktor der Sammlung. Die restliche Überlieferung der Predigt weist ins Rheinland. Sie ist demnach später, nicht in Eckharts Erfurter Zeit entstanden, sie ist anders in ihrer Doktrin. Der Redaktor erst hat sie in seinem eigenen (und Eckharts früherem ?) Sinn bearbeitet. Das erhellt nicht nur die Arbeitsweise des Redaktors, sondern es hebt - gerade im Vergleich mit dem im dominikanischen Sinn zugespitzten Redaktionstext - Eckharts eigene, differenzierte Sicht deutlich heraus.
Eckhart sagt in Predigt 60 nämlich unmittelbar zuvor: die bekantnisse leitet diu die sele an got. Aber in got enmac si sie niht bringen (DW III, S. 22,2f.). Darum trete nun die minne hervor, in dieser Funktion und unter diesem Aspekt die oberste kreft, und leitet die sele mit der bekantnisse und mit allen irn kreften in got vnd vereinet sie mit gote.
Eckhart denkt das Verhältnis zwischen bekantnisse und minne also als prozessuales; auf den verschiedenen Stufen des Prozesses kommen der bekantnisse und der minne jeweils eigene Funktionen
zu. Anderswo sagt Eckhart dies, in der Exegese von Jo 20,4-8, am Beispiel der Jünger an Christi Grab: Johannes (voluntas / caritas / amor) ist zuerst am Grab, geht aber nicht hinein und sieht nur die Leinentücher, nicht den Herrn. Petrus (intellectus) dringt ein vnd leit dy libe czü gote. (Pfeiffer Pr. 109) In den Worten anderer deutscher Predigten Eckharts: Dort, wo die minne Gott noch bedeckt, nicht in seinem Eigentlichen, immer noch unter einem Kleid (dem der Güte) nimmt (DW I Nr. 7, S. 122,10-123, 1; Nr. 9, S. 152-153), dort loufet diu bekantnisse vor und rüeret got bloz (DW I Nr. 19, S. 315,6f.); sie kann die minne zu Gott führen, denn sie hat den slüzzel und sliuzet üf [...] und vindet got bloz (DW I Nr. 3, S. 52,9f.). So gesehen, unter diesem Aspekt des Durchbruchs zum blozen got ist diu bekantnisse bezzer, wan si leitet di minne zu Gott hin (DW I Nr. 19, S. 314,6315,7). Nun aber tritt die minne hervor, jetzt und unter diesem Aspekt die oberste kraft, weil sie allein in der Lage ist, das dergestalt zu Gott Geführte in Gott „zusammenzuheften, zu verleimen und zusammenzubinden" (DW I Nr. 7, S. 122).
Eckharts feine Differenzierung des zum wahren Gott Gelangens qua bekanntnisse (des, wie er formuliert zu gote und an gote) einerseits und des in Gott-Vereint-Werdens und -Bleibens qua minne andererseits geht in Predigt 60 durch die Bearbeitung des Paradisus-Redaktors, der den Vorrang des intellectus unter allen Gesichtspunkten zu wahren bestrebt ist, verloren.
Was diesen Redaktor betrifft, so ging schon Kurt Ruh davon aus, daß er nicht nur Predigten aus Eckharts Erfurter Zeit in seine Sammlung aufnahm, sondern vereinzelt auch später entstandene, in schriftlicher Form nach Erfurt gelangte, und daß er bei der Auswahl - an Eckharts posthumer Rechtfertigung interessiert - auf „häresieverdächtige" Texte verzichtete oder diese „dogmatisch bereinigte" (Ruh 1985; 21989: 63; Ruh 1981: 26f.). Die Kleinarbeit des philologischen Vergleichs einer solchen Predigt zeigt jetzt im Detail, daß der Redaktor eine dogmatische Bereinigung der Einzeltexte vor allem im dominikanischen Sinne des Vorrangs des intellectus vornahm. Das ist kein Einzelfall: So wird in einer anderen Predigt von Eckharts Aussage, Gott sei überwesenlich und überlobelich und überredelich und überverstentlich, derjenige Teil gestrichen, der Gott als überredelich und überverstentlich bezeichnet (DW III Nr. 82, S. 382,6-8).
Diese redaktionelle Eigenart der ,Paradisus'-Sammlung wird bestätigt, wenn man zusätzlich die sammlungsexterne Überlieferung derjenigen Predigten heranzieht, die nicht von Eckhart stammen und die der Redaktor ebenfalls bearbeitet hat. Man beobachtet dann in
Texten Hermanns von Loveia, Hanes des Karmeliten oder des Florentius von Utrecht Eingriffe in die gleiche Richtung. Beispielsweise hebt Florentius in der Paradisus'-Predigt Nr. 31, so wie sie außerhalb der Sammlung überliefert ist, den Status der Trinität als über aller vernunft hervor; der ,Paradisus'-Redaktor streicht, wie eben auch im Fall Eckharts beobachtet, genau diesen Aspekt.29
Die Eingriffe der Redaktion des , Paradisus' sind deutlich erkennbar und sie gehen über diese „dogmatische Bereinigung" hinaus: Ich habe schon früher - und eben noch einmal - festgestellt30, dass Kürzungen im Paradisus' der „dogmatischen Bereinigung" von Eckhart-Predigten dienen. Ich stelle als weiteres Beispiel einem Abschnitt aus Predigt 43 die Version des Paradisus' (nach O, fol 44r) gegenüber:
Pr. 43, DW II, S. 329 Paradisus Pr. 22 (O, fol 44r)31
Swenne diu sele dar inne wan di sele dar inne
lebet, da si gotes bilde lebit daz si Godis bilde
ist, so hat si geburt; ist,
in dem liget rehtiu einunge;
daz enkunnen alle creatüren daz inkan niman
niht gescheiden. gescheidin
Trutz gote selben, trutz den trotz
engeln, trutz den selen
und allen creatüren, daz allin creaturen, daz
si daz mügen gescheiden, si daz mugin geschedin,
da diu sele ein bilde da di sele ein bilde
gotes ist! Godis ist.
29 Peter Schmitt: Die Predigten des Florentius von Utrecht (Würzburger Zulassungsarbeit o. J.): 43; vgl. ebd.: 50: „Der von O (=Paradisus) gebotene Text ist durch eine kürzende Bearbeitung entstanden, durch eine Redaktion, die die Struktur des Gedankengangs verwischte." Vgl. auch Ludwig Graser: Meister Hane der Karmelit. Drei Predigten des Paradisus anime intelligentis (Würzburger Zulassungsarbeit 1969).
30 Vgl. schon Ruh 1985; 21989: 63 und besonders Löser 1992: 43-63.
31 Die folgenden Hss.-Siglen O, N1 und E1 stehen für: Oxford, Bodleian Library, MS. Laud Misc. 479, Nürnberg, StB, Cent. IV 40 und Einsiedeln, Stiftsbibl., Cod. 277.
Solche Kürzungen dienen oft auch der Manipulation von Aussagen im Sinn des Redaktors32, besonders dort, wo das Verhältnis zwischen vernünfticheit und willen oder Aussagen über die vernünfticheit betroffen sind, die die ,Paradisus'-Redaktion - durchaus entgegen Eckharts eigenen Differenzierungen - ja bekanntlich besonders „hoch hält". Andere Äußerungen Eckharts werden (möglichst unauffällig) „kassiert", „kaschiert" oder „übertüncht". So fehlt in der redigierten Version von Predigt 20b (,Paradisus'- Pr. 24) Eckharts Feststellung, dass auch das vünkelin der vernünfticheit geschaffen sei (Pr. 20b, DW I: 348,2-10). Und am Ende der Predigt 7 (,Paradisus'-Pr. 19) lässt der Redaktor des 'Paradisus'gezielt Eckharts längere Aussage beiseite, weder minne noch bekantnisse einigten die Seele mit Gott, denn vernünfticheit nimet got, als er in ir bekannt ist; da enkan si in niemer begrifen in dem mer siner gruntlosicheit.33 Schon die Kürzung weniger Worte kann den Text im Sinn des Redaktors verändern und Eckharts Aussagen manipulieren, etwa wenn der Redaktor in gut dominikanischem Sinn - anders als Eckhart - dem bekanntnisse die Alles überragende Rolle bei der Gotteserkenntnis zuweist. Ich habe dafür vor längerer Zeit ein Beispiel gegeben (Löser 1992: 58f.). Hier ein weiteres aus der noch nicht kritisch edierten Predigt 60 ('Domine rex') des 'Paradisus':
'Paradisus', S. 128,12-18
he [Gott] ist auch ein lutir einvaldikeit, und ie du einvaldigir bist, ie du di einvaldikeit baz forsteist.. und wir sullin rechte einvaldic werdin, daz ist daz wir gescheidin sin fon allin dingin und fon uns selbin, ime zu bekenninde unse sinne und alle di werc der crefte_
N1 (bzw. E1)
Er ist auch ein lauter einvalticheit vnd ie der mensch einualtiger ist ye der mensch di einvalticheit baz verstet.
vnd (wir) svln reht einvaltig werden, daz ist daz wir gescheiden sein von allen dingen vnd von vns selben, zu bechennen vnser sinne vnd
32 Wenn ich von Redaktor spreche, ist natürlich die von mir schon früher vorgenommene Differenzierung in mehrere Stufen zwischen der Vorlage O und H2, weiteren Bearbeitungsstufen, dem Sammler der Predigten etc. mitzudenken.
33 Pr. 7, DW I: 121,14-124,7, Zitat ebd.: 123,1-3. Vgl. auch das Vorgehen des Redaktors in Pr. 37, DW II: 219,8-10.
der sele, wan alleine di ubirste craft, daz forstentnisse: di lezit alleine Got wirkin mit Gode:
so wirkit he vollincumeliche sine glicheit an ir und wirkit si an sich.
alle (die werk der) creft der sel wan allein di oberst craft daz ist di verstantnuz: (la dc) allein werchen mit got. Noch dan stet einer (lidigen) sel daz ze laszen vnd laz got allein werchen an hindern uz so werchet got volchomenlich sein glicheit an ir vnd werchet si an sich.
Eckhart sagt (wie in N1/E1 tradiert) man solle die oberste Kraft (=forstentnisse) mit Gott wirkin lassen, man solle schließlich aber auch das forstentnisse laszen (im Sinne von davon ablassen). Diese Aussage ist nur in der sammlungsexternen Überlieferung bewahrt. Der Redaktor des ,Paradisus' streicht diese Stelle; bei ihm erscheint forstentnisse so als ubirste craft, die allein Gott mit Gott wirken lasse.
Schon Quint hat auf die ständigen Kürzungen ganz allgemein hingewiesen; die Schlussformeln der Predigten werden nur abgekürzt gegeben, oder sie fehlen ganz. Die Redaktion nimmt ganze Textteile heraus. So fehlt, um nur das auffälligste Beispiel zu nennen, in der Predigt 72 Videns Iesus turbas in DW III der gesamte aus sammlungsexternen Handschriften bekannte Schlußteil (in der Edition Quints immerhin vier Seiten); der vorhergehende Text selbst ist zudem, so Quint, „von Lücken" durchsetzt.34
Welcher Art die Veränderungen des Textes in OH2 sein können, mag das folgende Beispiel zeigen, das ich erstmals anläßlich der Entdeckung der Londoner Eckharthandschrift Lo4 analysiert habe.35
Die Predigt Par. an. Nr. 16 war zuvor nur in OH2 und den Melker Hss., die zur Textkonstituierung der folgenden Stelle ausfielen36, bekannt. Ich stelle den Text von OH2 (in Strauchs Abdruck) dem Text von Lo 4 gegenüber:
34 Pr. 72, DW III: 250,8-254,6 fehlen; Zitat ebd.: 235.
35 Vgl. zum Folgenden: Löser 1986: 215-217.
36 „Die Gruppe, die durch die beiden Melker Hss. Me1, Me2 [...] vertreten ist, gibt ihre Texte sehr deutlich als bearbeitet [...] zu erkennen." So Quint 1932: 941. Diese Bearbeitung dürfte jedoch erst spät und auf der Grundlage
Par. an. Nr. 16, S. 41,24-27
ich spreche, daz alle sele mit allin urin creftin werin ein sele, si in mochte nicht inphahin noch irlidin daz lon daz fon deme minnisten werke ge-vellit daz Got gebodin hait in der ewigin minne, die sele inmüiste zu-glidin und forwerdin und zuflizin.
Lo 4, f. 160rb-160va
vnd ab alle dy craft dy an allen sein ist geleit were an eyne sele sy mochte das mynste lon nicht enphan das von dem mynsten werke komt
das got geboten hat in der ewigen libe dy sele müste czü gliten vnd sterben
Jch setzcze myne sele czü phande an dem iungisten tage czü der helle czü geben das dis war sy daz ich nü sprechen wel Ob alle dy kraft aller selen vnd aller engele vnd aller crea-turn czümal geacht were uf eyne sele sy mochte das mynsten lon eins guten gedanken nicht enphan dy in der ewigen libe gedacht wirt sy müste [160va] czü gliten vnd czüflißen vnd sterben.
Der gesamte zweite Abschnitt fehlt in O und H2. In ihm will Eckhart zeigen: Nicht nur im guoten werke, sondern auch in einem ieglichen guoten gedanke oder guoter meinunge werden wir alle zit niuwe geborn in gote (DW II Nr. 41, S. 293; vgl. DW V, S. 38ff., 196-200, 217-218 und Par. an. Nr. 16, S. 41,16-20). Mißverständnise lagen hier nahe (vgl. Bulle 'In agro dominico\ art. 16-19). Deshalb findet sich die Wahrheitsbeteuerung in für Eckhart charakteristischer Weise.37 Deshalb wohl andererseits die Streichung des Gedanken durch den 'Paradisus'-Redaktor (obwohl hier - wie in OH2 nicht selten - auch ein mechanischer Verlust durch Homöoteleuton-Lücke des Schreibers der gemeinsamen Vorlage von O und H2 denkbar wäre).
verläßlicher Quellen erfolgt sein; „der Unechtheit verdächtig", wie Quint [ebd.] meint, sind die Texte nur in der Form, in der Pfeiffer sie gedruckt hat. 7 Vgl. DW I Nr. 2: 44,6f.: Daz ich iu geseit han daz ist war; des setze ich iu die warheit ze einem geziugen und mine sele ze einem pfande. Zu Funktion und Deutung der Wahrheitsbeteuerungen Eckharts: K. Ruh 1985; 21989: 189f.
Anhand der Stelle läßt sich auch demonstrieren, daß mit dem in Lo 4 überlieferten Text das fehlende Glied einer Kette gefunden ist, die jetzt ineinander gefügt werden kann; denn auf den in OH2 fehlenden Abschnitt des Textes dürfte sich ein Rückverweis aus einer anderen Predigt beziehen, die Quint nicht in DW I-III aufnahm und die bisher auch nicht für DW IV vorgesehen ist: die Predigt Sievers Nr. XXII, bis heute bekannt nur in der Abschrift der Hs. Kassel, Murhardsche u. Landesbibl., cod. theol. 94 (K2). Die Texte dieser Hs. sind, wie Quint bemerkt, „in hohem Grade unzuver-lässig"38, ihr Zusammenhang ist, wie schon Sievers konstatiert, „öfter durch sinnlose schreibfehler gestört". Dazu stellt sich jetzt als einziger weiterer Volltext der Predigt der von Lo 4, für den ein höherer Authentizitätsgrad anzunehmen ist: Ich habe Lo 4 und K2 anhand der Predigt DW III Nr. 61 (=Sievers Nr. XXV) miteinander und mit dem kritischen Text verglichen. Der Vergleich ergibt bei grundsätzlich naher Verwandtschaft, daß Lo 4 die individuellen Abweichungen und Fehler von K2 nicht teilt, sondern zum kritischen Text stimmt. An einer Stelle der Predigt Sievers Nr. XXII bietet Lo 4 nun einen Rückverweis, der in K2 fehlt:
K2 nach Sievers, S. 424,91-95 Lo 4, f. 150rb
Die ander sach ist daz der üzfloiz godli- Dy ander sache ist der vßflüß götli-ches lichtes und siner süzikeit also ches lichtis vnd siner suzikeit also
oberklar und kreftig ist daz ez ni kein obirclar vnd kreftig ist das kein crea-creatur inthalden mag. Als tur enthalden mag als ich oüch
mer gesprochen habe ab alle dy engel und sele und alle craft aller engele vnd sele vnd aller
creatür gesmelzet wer üf einen en- creaturn gesmeltczt wern uff eyn engel ader üf eine sele, sie enmochte gel adir uff eyne sele sy mochten den
götlichen flüß nicht enthalden Sy mü-widder geziehen mit lobe in god. zen ön wider gyßen mit lobe in got.
Der Rückverweis dürfte sich auf den eben angeführten, nur in Lo 4 überlieferten Abschnitt der Predigt Par. an. Nr. 16 beziehen: Beide Stellen sind nicht nur im Wortlaut eng verwandt, sie fügen sich auch
38 Quint 1932: 654; vgl. ebd. S. 912: „sicher enthält K2 eine große Anzahl von offenbaren Verderbnissen, wie es nach den bisher gemachten Erfahrungen mit den Texten dieser Hs. nicht anders zu erwarten ist." Vgl. DW III, S. 33.
inhaltlich so zueinander39, daß der in Lo 4 überlieferte Rückverweis der Predigt Sievers Nr. XXII Meister Eckhart zugeschrieben werden darf40. Da er auf die Predigt Nr. 16 des 'Paradisus' verweist, könnte eine enge Beziehung zwischen den in K2 überlieferten Predigten Sievers^und den Texten des 'Paradisus' bestanden haben.
Hier eben haben wir jenen Überlieferungszusammenhang des größeren Predigtkomplexes bewahrt, den die 'Paradisus'-Redaktion durch ihre - thematisch orientierte - Auswahl zerreißt.
Ich fasse zusammen:
bis Eckharts Text bei den Handschriften O und H2 anlangt, wurde er:
- nach thematischen Gesichtspunkten ausgerichtet
- einer inhaltlichen Bearbeitung unterzogen, die dominikanischer als Eckhart etwa den vorrang des intellectus strikt betont,
- in 'gelehrtem' Sinn redigiert und 'latinisiert',
- oft erheblich gekürzt und
- dogmatisch bereinigt.
Wir werden diese Informationen benötigen, um die eingangs berichteten Differenzen in der ersten Predigt der 'Paradisus'-Sammlung beurteilen können.
2. Meister Eckhart im Predigerhandbuch. Der Eckhart des Nikolaus von Landau.
2.1 Person:
Das Explicit des ersten Bandes der Predigtsammlung in Kassel, Murhardsche und Landesbibl. cod. theol. 11, f. Cxlixvb bezeichnet die vorangeganenen sermones, qui novi sermones vocantur als editi a Nycolao Monacho de Ottirberg qui librum compleuit Anno dominice Jncarnacionis M°ccc°xli° in die
39 Par. an. Nr. 16, S. 41,24 betont: allis daz Got ist und formac, daz ist daz lon. Vgl. zu dem Gedanken, daß Gott der Seele ein alze grozer lon sei: DW II, S. 285,8-9; 589,1ff. u. 614,5.; Par. an. Nr. 50, S. 113,11f.
40 Dies um so mehr, als Sievers Nr. XXII in Lo 4 148va-150va um einiges vor Par. an. Nr. 16 (158ra-160vb) steht, der Rückverweis nicht nachträglich vom Lo 4-Schreiber eingefügt ist und mithin in dessen Vorlage, der ein hoher Authentizitätsgrad zukommt, bereits vorhanden gewesen sein muß. Ein weiterer Beleg für Eckharts Autorschaft an der Predigt Sievers Nr. XXII dürfte sich aus einem Vergleich ihres Beginns (Sievers, S. 422,2-10) mit LW IV, Sermo XXIV,1, S. 214f. ergeben.
Phylippi et Jacobi apostolorum. Demzufolge hat Nikolaus von Landau (Herkunftsname im Incipit f. 1ra) den Band im Zisterzienserkloster Otterberg (nördlich von Kaiserslautern), dessen Mitglied er war,41 am 1. Mai 1341 abgeschlossen. Nikolaus wirkte um die Mitte des 14. Jahrhunderts, kommt von der Zeit her gesehen Meister Eckhart und dessen Lebenszeit also sehr nahe.
Eine ebenso genaue Zeitangabe fehlt für den zweiten Band (Kassel, Murhardsche und Landesbibl., cod. theol. 12), doch bezeichnet eine Textstelle Nikolaus von Lyra (f 1349) als den nüwen Lerere, während eine weitere Textstelle die Zugehörigkeit des Nikolaus zum Zisterzienserorden bestätigt (vgl. Zuchhold, S. 3f.). Die Spiritualität und die spezifische Frömmigkeit seines Ordens ist in den Texten des Nikolaus allenthalben greifbar: So ist die besondere Verehrung der Jungfrau Maria und des Heiligen Bernhard zu erkennen. Auf seine Ordenszugehörigkeit nimmt Nikolaus auch explizit Bezug, wenn er berichtet, man habe Jesus vom Kreuz genommen und ihn dabei in ein wiz siden duch gewunden, das noch gantz und unversniden in Cadumo in deme clostere unsirs grawin ordins aufbewahrt werde. Diese Nachricht findet sich in Kassel, Ms. theol. 12 fol. 249va.
2.2 Überlieferung
Kassel, Murhardsche und Landesbibl., cod. theol. 11 und 12 v.J. 1341 und aus der Mitte des 14. Jh.s (knappe Beschreibung bei Zuchhold, S. 1-3; Siglen in DW: K1a und K1b); Stuttgart, Württembergische Landesbibl., cod. theol. et phil. Q 88, f. 3r-213r, 15. Jh. (knappe Beschreibung bei Quint, 1940, S. 218222; Sigle in DW: St6).
Ob die Angaben Schneyers, einzelne Predigten stünden auch in „Innsbruck, UB 304; Clm 27324; Pamplona, Cat. 45; Troyes 1271", zutreffen, bedarf der Überprüfung: Bei München, Bayer. Staatsbibl., Clm 27324 beispielsweise handelt es sich nach H. Hauke, Katalog der lateinischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek: Clm
41 Daß es sich bei dem Prediger um den späteren (1370 in einer Urkunde erwähnten) Abt des Klosters Otterberg handelte, wie dies Zuchhold, S. 4 annimmt, ist nach Ruh 1987: 1114 sehr zweifelhaft.
27270 - 27499, Wiesbaden 1975, S. 59 - 61 um Sermones des Ulrich Kager von Landau. Die beiden Kasseler Codices, die 1686 über das Zisterzienserkloster Schönau und die Palatina in Heidelberg nach Kassel kamen, sind von einer Hand geschrieben und auch in der planmäßig vorgenommenen äußeren Anlage (z.B. ursprünglich 15 Quinternionen je Band) gleich; es handelt sich um zwei Bände einer umfangreichen Predigtsammlung, die nicht in De Tempore und De Sanctis getrennt ist, sondern dem Kirchenjahr folgt (cod. theol. 11 enthält 43 Predigten: Prima dominica adventus bis Dominica III in XL, cod. theol. 12 bietet 41 Predigten: Dominica in media XL bis De festo corporis Cristi). Einer Liste von themata (= Predigttitel), die in einer eigenen Lage der ersten Quinternio des zweiten Bandes (cod. theol. 12) vorgeheftet wurde (Abdruck bei Zuchhold, S. 140 - 144), ist zu entnehmen, daß die Planung des Werkes ursprünglich auf vier Bände (zwei weitere Bände zu 56, bzw. 30 Predigten) angelegt war. Ob Band 3 und 4 verloren sind oder aber je ausgeführt wurden, erscheint fraglich, denn die Predigt-Liste wurde dem zweiten Band vorgeheftet; ebenfalls schon in Band II, f. CClxxxxixra-CCCvb folgen den Predigten die concordancie reales, ein alphabetisches Verzeichnis der Themen, die in den Predigten von cod. theol. 11 und 12 behandelt wurden. Diese ,Schlagworte' (z.B. f. 3rb: nouitas; f. 5rb: potentia domini; f. 7ra: Nativitas Christi usw.) sind im Text selbst jeweils am oberen Rand notiert. Die Tatsache, daß die abschließende Liste der themata wie die concordancie reales schon im zweiten Band enthalten sind, könnte darauf hindeuten, daß Bd. 3 und 4 eben nicht zur Ausführung gelangten.
Die von J. Quint entdeckte Stuttgarter Handschrift (eine späte Abschrift des 15. Jh.s) geht nicht über den Bestand an Predigten der beiden erhaltenen Kasseler Hss. hinaus. Ihr fehlen im Gegenteil der lateinische Prolog zur Predigtsammlung, die concordancie und nicht weniger als 42 Predigten der Kasseler Sammlung (Aufstellung der fehlenden Texte bei Quint [1940], S. 219). Dennoch gelangte Quint zu dem Schluß, die Stuttgarter-Hs. biete gelegentlich einen gegenüber den Kasseler Hss. „ohne weiteres als ursprünglicher erkennbaren Text", könne daher nicht aus den beiden Kasseler Hss. abgeleitet werden und müsse eine andere
Vorlage gehabt haben (ebd. S. 220; Nachweis dieser These durch konkrete Lesarten fehlt). Demgegenüber vermutet Ruh (1987), Sp. 1114, die Kasseler Hss. dürften das Original des Otterberger Predigers repräsentieren. Die Untersuchung der Handschriften, die von Georg Steer und mir in Kassel vorgenommen wurden, scheinen den Autographcharakter der beiden Bände zu bestätigen, während die Kollation einiger von Nikolaus benützter Predigten Meister Eckharts, die in DW IV erscheinen werden (bzw. schon erschienen sind), zudem ergab, daß die Stuttgarter Handschrift, anders als Quint annahm, durchaus eine direkte Abschrift der Kasseler sein könnte.
Eine Ausgabe der Predigten des Nikolaus ist ein Desiderat der Forschung; sie würde sich dem Text der beiden Kasseler Hss. anvertrauen, die Lesarten der Stuttgarter Hs. mitteilen und -wo immer dies möglich ist - voneinander abweichende Varianten mit den Quellen und Vorlagen des Nikolaus vergleichen.
2.3 Bedeutung:
Die Predigtsammlung des Nikolaus von Landau verdient besonders aus drei Gründen die ganze Beachtung der Forschung: Wegen ihres ausdrücklich definierten Zweckes, wegen ihrer kunstvollen Anlage und wegen ihrer außerordentlichen Quellen. Ein lateinisches Vorwort gibt dabei - erstmals in einer deutschen Predigtsammlung des Mittelalters überhaupt! - ausdrücklich über Zweck, Anlagen und Bedeutung der Predigtsammlung für deren Verfasser Auskunft:
1. Die Notwendigkeit häufig predigen zu müssen führt beim Prediger zum Bedürfnis, Muster für die Predigt zur Verfügung zu haben. Nikolaus wendet sich daher besonders an die iuvenes, die jungen unerfahrenen Prediger. Diesen besonders und den Angehörigen seines Ordens will er ein Musterbuch anbieten. D. h. auch, dass seine Predigten nicht als Aufzeichnungen eigener mündlich gehaltener Predigten zu verstehen sind. Sie sind von vornherein als verschriftete Texte konzipiert und dienen als Muster und zur Unterweisung von Novizen.
2. Seine Sermones Novi sind keineswegs neu hinsichtlich ihres Inhaltes oder ihrer Gedanken (also secundum rem)
sondern sie sind neu hinsichtlich ihrer Darstellungsart und hinsichtlich ihrer erstrebten Wirkung (secundum modum rei et effectum). Jede der Predigten hat einen eigenen markanten Bauplan, den Nikolaus oft auch durchnummeriert. Die Concordancie reales am Ende des zweiten Bandes verzeichnen die von Nikolaus in seinen Predigten behandelten Begriffe und erschließen diese dem Benutzer. Beispiele dafür sind etwas potencia domini oder nativitas Christi.
3. Unter den Einzelpunkten der Predigten versammelt Nikolaus in außerordentlich reicher Fülle Bibelzitate, Väterzitate, Zitate aus der Schriftexegese, aus Kommentaren, aus Legenden und Exempla. Von besonderer Bedeutung sind Zitate von zeitgenössischen Lerern und meistern: Der Franziskaner Nikolaus von Lyra beispielsweise wird als der nuwe Lerere bezeichnet. Dies mit Recht, denn Nikolaus von Lyra ist erst 1349 gestorben, mithin nur 8 Jahre nach der Verfassung der Predigten durch Nikolaus. Nikolaus von Landau hat sich in langer Arbeit aus einem außerordentlich reichen Fundus von Quellen bedient und er hat diesen Fundus seiner eigenen Spiritualität anverwandelt. Er sagt selbst im Vorwort, er habe seine Texte aus verschiedenen sermonibus et libris zusammengeschrieben (conscripsi) und er habe auf diese Weise kompilierend mit großer Mühe seine Texte gesammelt (Ms theol.11, fol. 2ra).
Die herausragende Bedeutung des Werkes gewinnt die Arbeit des Nikolaus freilich durch die Art seiner Quellen: Nikolaus von Landau ist der erste Prediger und Predigtsammler überhaupt, der die deutschen Predigten Meister Eckharts zum eigenen Gebrauch verwendet. Ordensgrenzen scheinen dabei keine Rolle zu spielen, der Dominikaner ist dem Zisterzienser bekannt, vertraut und immer ein Zitat wert. Mit den Predigten des Nikolaus besitzen wir demnach im Jahr 1341, nur wenige Jahre nach Eckharts Tod, die früheste datierte Adaption von Texten Meister Eckharts. Nikolaus zitiert Eckhart, wie die meisten anderen seiner Zeitgenossen, freilich nicht namentlich. Allerdings hat er über eine sehr umfangreiche und bedeutende Sammlung von Eckharts deutschen Predigten verfügt, die er an Dutzenden von Stellen heran-
zog. Gleichzeitig ist zu sehen, dass Nikolaus auch andere Texte von anderen Predigern aus dem Umfeld Meister Eckharts verwendet hat, die sonst in der bekannten Predigtsammlung , Paradisus anime intelligentis' überliefert sind. Nikolaus von Landau verfügte offenbar über mehrere Quellen, bzw. über andere Quellen, die umfangreicher und vertrauenswürdiger waren als die des dominikanischen Redators der ,Paradisus'-Sammlung selbst.
2.4 Forschungsstand:
Seit ihrem Bekanntwerden hat man mehrfach den Versuch unternommen, sich den Predigten des Nikolaus von Landau zu nähern. Daß dies in der Regel unter einem sehr eingeschränkten, nur sehr partiellen Aspekt geschah, hat seinen Grund zu einem Teil in der Forschungsgeschichte selbst, zu einem anderen in der Arbeitsweise des Nikolaus. Cruel, der die „streng scholastische Methode", das „Schema der Predigt" und ihre „schulmäßige Form" erkannt und an einigen Beispielen vorgestellt hat, rügte an Nikolaus damit - im antischolastischen Gestus seiner Zeit - zugleich „Trockenheit und Unfähigkeit", ja die „Eintönigkeit seiner Darstellung". Dieses Verdikt übernahm Zuchhold, der in den Predigten des Nikolaus ein „Muster scholastischer Pedanterie" sah und die „schablonenmäßige Einteilung, die ermüdende Breite und trockene Gelehrsamkeit" bemängelte (Zuchhold, S. 5). Den Aussagen des lateinischen Vorworts des Predigers, er habe seine Texte aus verschiedenen Sermonen und Büchern zusammengeschrieben, kompiliert und gesammelt,42 maß Cruel keine konkrete Bedeutung zu: Der Ausdruck sammeln = colligere bezeichne "keineswegs eine Chrestomathie von fremden Predigten", sondern deute nur an, daß der dogmatische oder moralische Inhalt orthodoxe Kirchenlehre sei, daß nur der Stoff von anderen Autoren entnommen sei (Cruel, S. 407).
Demgegenüber war es der Verdienst Zuchholds, daß er die Angaben des Predigers beim Wort nahm und den Nachweis erbrachte, daß Nikolaus mehrfach Predigten Meister Eckharts
42 Kassel, cod. theol. 11, f,. IIra: ex diversis sermonibus et libris conscripsi et
sic divers imode compilando [...] non sine labore taliter qualiter collegi [...]
und anderer Prediger aus der Sammlung des ,Paradisus anime intelligentis' (Par. an.) benutzt hat. Dem Abdruck sechs vollständiger Predigten (S. 8-13, 15-20, 117-138) und zahlreicher Teile aus anderen Predigten des Nikolaus stellte Zuchhold jeweils die Texte der ,Paradisus'-Hs. O (Oxford, Bodleian Library, cod. Laud. Misc. 479) oder der ,Jostes-Sammlung' N1 (Nürnberg, Stadtbibl., Cent. IV, 40) gegenüber; so ließ sich demonstrieren, daß Nikolaus Predigten Eckharts und anderer Autoren der ,Paradisus'-Sammlung ausschrieb und dabei ganze Textblöcke mit nur geringen Veränderungen übernahm. Damit war eine ,Ehrenrettung' der Beschäftigung mit Nikolaus von Landau in einem Teilaspekt möglich: Wenn er schon „kein eigenes Profil als Prediger aufweist", „beansprucht er unser Interesse" dennoch, „und dies aus überlieferungsgeschichtlichen Gründen", weil -angesichts der oft schmalen Eckhartüberlieferung - „die einschlägigen Predigten [des Nikolaus] textkritische Bedeutung [für die Eckharttexte] erhalten." So noch Ruh (1987), Sp. 1115. Seit der Arbeit Zuchholds war damit das Interesse der Forschung im wesentlichen auf den ,mystischen' Teilaspekt eingeschränkt, den die , scholastischen' Predigten des Nikolaus als Textzeugen für Teile von Eckhartpredigten boten: Den ersten Identifizierungen von Eckhartstücken in den Predigten des Nikolaus, die Zuchhold vorgenommen hatte, fügte Brethauer in einer ,Nachlese' weitere hinzu. J. Quint hat alle ihm bekannten Eckhart-Exzerpte des Otterberger Mönchs, den er stets als ,Plagiator' bezeichnete, für die Predigten von DW I-III herangezogen. Ich konnte in einer weiteren 'Nachlese' übersehene Ekcharttexte bei Nikolaus identifizieren (Löser 1992,2). Auch in DW IV wird die Textbezeugung von Eckhartstücken durch Nikolaus von Landau berücksichtigt. Doch sollte die Konzentration auf einen Teilaspekt der Predigten des Nikolaus im wesentlichen aus zwei Gründen um zusätzliche Aspekte erweitert werden:
2.5 Forschungsmöglichkeiten:
Die genannten Gründe betreffen nur zum ersten (und zum geringeren Teil) die (a) Überlieferungs- (b) Text- und (c) Wirkungsgeschichte der Predigten Meister Eckharts (und damit auch die Relevanz der durch Nikolaus bezeugten Texte für die Edition); sie betreffen zum zweiten Intention und Verwendungszweck, Spiritualität und Thematik, Quellen-
bearbeitung und - auswahl, Sprache und Form der Predigten des Nikolaus von Landau als ganze und als solche.
Zum ersten:
(a) Nikolaus von Landau verwendete Texte Meister Eckharts und Predigten des Florentius von Utrecht, Johannes Franke, Helwic von Germar, Hermann von Loveia, Kraft von Boyberg, Eckhart Rube, Hane des Karmeliters und eines Barfüßer-Lesmeisters, die ebenfalls (z. T. bisher in unikaler Überlieferung) in der Sammlung des ,Paradisus anime intelligentis' enthalten sind. Dies hat zu der Annahme geführt, die Sammlung sei Vorlage für Nikolaus gewesen. „Feststeht" dabei, so Ruh (1987), Sp. 1115, „daß keine der beiden ,Paradisus'-Hss., weder die Oxforder [s.o.], noch die Hamburger [Hamburg, Staatsund Univ.-bibl., cod. theol. 2057], die im Schwesternverhältnis zueinander stehen, die Vorlage von Nikolaus gewesen sein kann. [Vgl. etwa: DW I, S. 340]. Ob sie vor oder nach dieser OH-Textstufe anzusetzen ist, wag[t Ruh dabei noch] nicht zu entscheiden".
Auch wenn Zuchholds extreme Ansicht, die Eckhartexzerpte des Nikolaus seien „mit keinem Pinselstrich übermalt" (Zuchhold, S. 21) durch Brethauer (S. 80) und Quint (Vgl. DW I, S. 340) zurecht revidiert wurde, bleibt festzuhalten, daß „seine Exzerpte in solcher Vorlagentreue abgeschrieben sind, daß sie in der Regel einen authentischeren Text bewahren als die ,Paradisus'-Handschriften selbst." (Steer [1987], S. 336). Die Arbeit an DW IV zeigte, daß Nikolaus eine Vorlage benutzte, die v o r der OH-Textstufe anzusetzen ist. Das aber heißt, daß es sich bei der berühmten ,Paradisus'-Sammlung, so wie sie die gemeinsame Vorlage von O und H2 bot, bereits um eine Bearbeitung handelt. Zudem hat Nikolaus auch Eckhart-Predigten verwendet, die nicht in der ,Paradisus'-Sammlung von O und H2 enthalten sind. Das kann nur bedeuten, daß ihm entweder weitere Vorlagen zu Gebote standen oder daß die Sammlung an Eckharttexten, die ihm vorlag, umfangreicher war als das,
was der Redaktor der OH2-Stufe des ,Paradisus'
aufnahm.43
Erst wenn alle Eckhart- und ,Paradisus'-Exzerpte im Werk des Nikolaus zusammen gesehen werden und diese mit der Anlage anderer Eckhart-Sammlungen verglichen werden können, wird der Stellenwert der Predigtsammlung des Nikolaus innerhalb der Eckhart-Über-lieferung erkennbar werden. Das heißt, das Verfahren, einzelne Textblöcke aus dem Überlieferungskonnex der Nikolaus-Predigten herauszubrechen und nur jeweils Einzelfall für Einzelfall zur Textkonstituierung einzelner Eckhartpredigten heranzuziehen, ist sinnvoller Weise zu ergänzen durch eine Analyse der vollständigen Sammlung und der Arbeitsweise des Nikolaus als solcher. Dabei verspricht - überlieferungsgeschichtlich gesehen -gerade auch die Berücksichtigung anderer ,Paradisus'-Autoren Rückschlüsse zur Eckhart-Überlieferungs-geschichte (z.B.: Ist auch die Vorlage, die Nikolaus für die Predigten anderer ,Paradisus'-Autoren benutzte, vor der OH2-Textstufe anzusetzen?). Die Grundlage für die genannten Vergleichsarbeiten könnte und sollte eine Ausgabe aller Nikolaus-Predigten erst schaffen.
(b) Die , Fahndung' nach Eckhart-Exzerpten in der Sammlung des Nikolaus, die bislang keineswegs systematisch erfolgte, ist - angesichts der Art, wie der Kompilator Nikolaus längere und kürzere Exzerpte ohne Namensnennung in seine Texte inseriert - problematisch und a priori partiell: Schon die Tatsache, daß nacheinander Zuchholds erste Durchsicht, Brethauers ,Nachlese' und Quints Arbeiten Eckhart-Texte zutage gefördert hatten, legte die Vermutung nahe, daß noch weitere Funde zu machen waren. In der Tat erbrachte schon eine erste Lektüre der Nikolaus-Predigten zwei solche Nachweise44.
43 Vgl. Löser 1986; 214.
44 Erstens den Nachweis, daß es sich bei dem ersten der Texte, die in der Stuttgarter Hs. (f. 213v-234r), wie Quint (1940) glaubte, „hinter den Predigten des Nikolaus v. Landau stehen" und den er (ebd.: 221f.) ohne Identifizierung abdruckte, um einen Text handelt, den Brethauer aus der Eckharths. Bremen, Staatsbibl., cod. c18 Perg. und gerade aus der Kasseler
Der zweite ist von größerem Interesse: Den dritten Teil einer Predigt des Nikolaus über den heiligen Benedikt (cod. theol. 12, f. 19ra = Clxvra) hat Zuchhold (S. 111) als Jostes Nr. 691 = Par. an. Nr. 56 identifiziert. Der unmittelbar vorausgehende zweite Teil (f. 18va - 19ra) fand lange keine Beachtung:45
A Ein Junger vragete sinen Meyster. wie er dar zu mohte kommen. daz er geystliche ding bekente.
B da lerete er in die werlet versmahen vnd heylege geystliche werg vbin. vnd wysete in / waz geistliche werg sint vnd wie sie ein zunemen hant von gotde vnd wie Got selbir ist der lon geystlicher werke.
C Da sprach der Jüngere Meyster nach dinre lere bin ich irhaben vnd bekennen daz daz alle liphaftege ding sint alse ein cleines (!) daz da swebet in dem breiden mere gein geystlichen dingen. vnd alse ein vogel cleyne ist gein deme widen lufte in deme er fluget. Also sint auch alle liphaftege ding gein geystlichen dingen cleine. vnd alle geistliche ding sint irhaben sprichet ein Meyster vbir libhaftege ding. vnd so sie ie me irhaben sint ie me sie sich wident. vnd so sie ie wider sint ie sie hoher sint. vnde so sie ie hoher sint. so si auch ie groszer sint. vnd so sie ie groszer sint. ie sie crefteger sint. vnd so sie ie crefteger sint. so sie ie luterre sint an deme wesene.46
Dieser bislang unbeachtete Teil, den Nikolaus innerhalb seiner Predigt dezidiert als Fremdgut ausweist (sprichet ein Meyster), findet eine sehr genaue Entsprechung in der Eckhart-Predigt Nr. 58, dort als - von Quint nicht aufgelöster - Rückverweis formuliert:
DW II, Pr. 58, S. 612,2-10:
Nikolaus-von-Landau-Hs., f. 166vb bekannt gemacht hatte (Quint 1940: 221, Z. 2 v.u. bis 222, Z. 8 = Brethauer 1933: 76, Z. 2-92; id. F. Löser). Dieser Text (= Schlußteil der Predigt Pfeiffer Nr. 109 in seiner ursprünglichen Form!) gehört also noch zu den Nikolaus-Predigten.
45 Vgl. erstmals Löser 1992,2.
46 Damit ist der zweite Predigtteil des Nikolaus beendet; es folgt als dritter Teil Par. an. Nr. 56.
Der sich selben l#zet und sînen eigenen willen, dem sint lîhte ze lâzenne
~ A alliu lîplîchiu dinc. Als ich ouch mê gesprochen hân47, wie ein meister lêrte sînen jünger, wie er dar zuo k#me, daz er geistlîchiu dinc bekente.
~ C Dô sprach der jünger: ,meister, nâch dîner lêre sô bin ich erhaben und bekenne, daz alliu lîplîchiu dinc sint als ein klein schif, daz dâ swebet in dem mer, und als ein vogel, der dâ vliuget in dem lufte'. Wan alliu geistlîchiu dinc sint erhaben über diu lîplîchen; ie sie mê erhaben sint, ie sie sich mê wîtent und besliezent diu lîplîchen dinc. Dar umbe sint diu lîplîchen dinc kleine wider diu geistlîchen; und ie diu geistlîchen dinc hœher sint, ie sie grœzer sint; und ie kreftiger sie sint an den werken, ie lûterer sie sint an dem wesene.
Hält man den Text der Predigt 58 neben den Text des Nikolaus, so werden - bei fast wörtlicher Übereinstimmung - auch Unterschiede deutlich. Während beispielsweise in Predigt 58 die Lehren des Meisters inhaltlich nicht näher ausgeführt werden, heißt es bei Nikolaus (B), der Lehrer wysete den Schüler, waz geistliche werg sint vnd wie sie ein zunemen hant von gotde vnd wie Got selbir ist der lon geystlicher werke. Dieser Gedanke fehlt in Predigt 58, doch gibt es anderwärts im Werk Eckharts auch hierzu Parallelen:
Predigt ,Alle die schar' (Lo4, f. 156 vb):48 der hat ein gewiß czeichen das er geistlich ist der da stetlich czünemt an bekentnisse vnd an libe; Par. an. Nr. 16, S. 40, 19f.: Geistlich bekenntnisse hait ein zunemen on ende; DW III, S. 67,2-5: Dar ane ensol ein mensche nicht merken, ob er zuoneme an guotem lebenne, ob er vil vaste und vil ûzer werke tuo; sunder ein gewis zeichen ist, daz er zuoneme, ob im lieber ist ze êwigen dingen und leider ze zergenclîchen; Par. an. Nr. 16, S. 41, 14-24: ob der mensche kranc oder alt ist, daz he liphaftiger werke nicht
47 Quint dazu: „Worauf sich der Rv. Z. 3 bezieht, weiß ich nicht."
48 Vgl. dazu jetzt die Erstedition dieser neuentdeckten Eckhart-Predigt bei Löser 2009.
formac, so halde he sich an die innewendigin geistlichin werc, di edilir und grozir sin for Gode dan di uzwendigen werc [...] dar ane beheldit man daz lon [...] allis daz Got ist und formac, daz ist daz lon.
Entweder hat Nikolaus also verschiedene Predigten Eckharts (DW II Nr. 58 und Par. an. 16?) ineinander-geblendet (darüber könnte nur eine genaue Untersuchung seiner Kompilationsmethoden Aufschluß geben); oder er hat über eine ursprünglichere Fassung von Predigt 58 verfügt, die den B-Teil auch bot (dann wäre sein Text zu einer Revision des kritischen Texts heranzuziehen); oder aber er hat genau jene - bislang unbekannte - Predigt exzerpiert, auf die sich Eckharts Rückverweis aus DW II Nr. 58 bezieht.
Solche Funde bei Nikolaus von Landau, können für die Eckhart-Textgeschichte Tragweite besitzen. Eine Ausgabe der Nikolaus-Predigten, die alle identifizierten Textstellen angibt und im Idealfall durch einen synoptischen Abdruck auch die von Nikolaus verwendeten Quellen dokumentiert, müsste gerade auch den Zugriff auf die verbleibenden, anderwärts noch nicht identifizierten Textpassagen erleichtern. (Gänzlich unberücksichtigt blieb bisher übrigens die Möglichkeit, ob Nikolaus, der von sich sagt, er habe seine Predigten in der Muttersprache redigiert49, nicht auch aus dem lateinischen Werk Eckharts geschöpft haben könnte.) (c) Ebenfalls ohne jede Untersuchung blieb bisher die Frage nach Stellenwert und Bedeutung der Eckhart-Rezeption durch Nikolaus innerhalb der Wirkungsgeschichte der Werke Eckharts. Auf welche Weise, warum und zu welchem Zweck werden Eckharttexte benutzt? Dabei ließ ein eingeschränkt ,textkritischer' Ansatz, der einzelne Abschnitte der Nikolaus-Texte nur von Fall zu Fall als Eckharttextzeugen benutzte, insbesondere die Frage ungestellt, in welchen Kontexten sich die EckhartExzerpte finden, in welchen neuen Konnex sie der Rezipient einband. (Etwa: Wird eine Verbindung zister-ziensischer und dominikanischer ,Mystik' greifbar? Wie
49 Kassel, cod. theol. 12, f. IIra: in linguam maternam redegi!
gestaltet sich die Verbindung von Eckharts ,mystischer' mit Nikolaus' ,scholastischer' Predigt?)
Zum Zweiten: Nikolaus als Eckhart-Redaktor
Damit stellt sich die Frage nach den Intentionen und der Arbeitsweise des Nikolaus von Landau: „Erstmals in einer deutschen Predigtsammlung", so Steer, gibt ein lateinischer Prolog „Auskunft über Anlage, Zweck und Quellen der Predigten" (Steer, S. 335): Sic dico quod isti sermones sunt noui non secundum rem sed secundum modum rei et effectum et saltem secundum me sunt noui quia nouiter modo nouis predicatoribus diuina gracia largiente ex diuersis sermonibus et libris conscripsi et sic diuersimode compilando in linguam maternam redegi (Kassel, cod. theol. 12, f. IIra). Die novitas der sermones ergibt sich also nicht aus Inhalt und Gedanken (secundum rem), sondern zum einen daraus, daß neueste Autoren herangezogen werden (Eckhart starb 1327, Nikolaus von Lyra, den der Otterberger Mönch den nüwen Lerere nennt, 1349), zum anderen aber vor allem aus Darstellungsart und Wirkung (secundum modum rei et effectum). Auf den modus legt Nikolaus größten Wert: „So radikal wie er hat noch kein deutscher Prediger die Grundsätze der scholastischen Predigttheorie in die Tat umgesetzt. Bis zu 15 verschiedene Verfahrensweisen (modi) werden [im lateinischen Prolog] ausgeklügelt [...] um ein Predigtwort zu zerlegen, es auf ein Thema hin zu organisieren und Stoff und Gedanken für seine Durchführung zu gewinnen" (Steer, S. 335). Eine Analyse der Predigten hätte also deren Bauplan und bewußt kunstvolle Konstruktion (im Blick auch auf die artes praedicandi) zu bedenken und an den Intentionen, die Nikolaus im Vorwort zu erkennen gibt, zu messen. Insbesondere ist seine Aussage zu beachten, er sei diuersimode compilando vorgegangen. Beispielsweise finden sich innerhalb einiger von Nikolaus verwendeter Eckhart-Texte lateinische Zitate, die nur Nikolaus überliefert. War Zuchhold noch der Meinung, „daß solche eingestreuten lateinischen Citate nicht von Nikolaus herrühren" (Zuchhold, S. 95), so lehrt die Lektüre der Predigten des Nikolaus, daß es g e r a d e seiner Eigenart entspricht, aus eigenem Wissen heraus möglichst auch in seinen Vorlagen nicht als solche ausgewiesene Zitate zu identifizieren, dieses ins Lateinische zurückzu-
übersetzen, und die Quellen seiner Vorlagen selbst nachzuschlagen und anzugeben:
Beispiel:
Par. an. Nr. 62, S. 132, XVIIra
wan wilich dinc man irkennin sal, des sache muiz man ir-kennen und daz ende des dingis da zu ez ist.
37f. Kassel, cod. theol. 11, f.
wande ez sprichet
Aristoteles p0 phisicorum ff Quod tunc vnumquoque arbitrantur cum causas et principia cognoscimus usque ad elementa. Er sprichet welech ding man erkennen sal des sache muz man erkennen vnd daz ende des dinges dar zu ez ist.
Hier zeigt sich das ,gelehrte' Vorgehen des Nikolaus. (Daß die Stuttgarter Handschrift die von ihm eingefügten lateinischen Zitate wieder tilgt, ist text- und überlieferungsgeschichtlich von Interesse.) Tatsächlich hat er seine Predigten aus verschiedenen Büchern und Predigten zusammengeschrieben' (conscripsi) und die Betrachtung lediglich als Eckhart-Textzeuge wird der Breite des hier vermittelten Wissens in keiner Weise gerecht. Insbesondere Aristoteles wird immer wieder zitiert; doch finden sich auch „in großer Fülle Bibel- und Väterzitate, Sentenzen von lerern und meistern, Schriftexegesen, Exempla, Legenden, Allegoresen, Moralisationen, Begriffserläuterungen und theologische Definitionen" (Steer, S. 335). Die Reihe der benutzen Autoren spannt sich bis zu „Oridius Magnus in der heidnischen Bibel" (Cruel, S. 414). Nachgewiesen ist bisher nur die Benutzung von Texten Eckharts und anderer Autoren aus der Sammlung des Paradisus anime intelligentis'. Man wird der Aussage des Nikolaus, er habe ex diuersis sermonibus et libris geschöpft, daher stärker zu beachten und nach weiteren Quellen zu suchen haben. Daß ein Zisterzienser, der auch aus dem Lateinischen schöpfte,
das Œuvre Bernhards etwa nicht berücksichtigt haben sollte, ist kaum vorstellbar.
Für den Umgang mit Eckharts Texten gilt bei Nikolaus:
- Es besteht kein Interesse an Eckhart oder seinen Texten als solchen.
- Eckharts Predigten werden nicht als ganze tradiert, sondern „zerlegt" und in ein eigenes scholastisches System „eingebaut".
- Nikolaus nutzt seine Information um Quellen zu identifizieren und Stellen ins Lateinische zurückzuübersetzen.
3. Meister Eckhart bei den Laienbrüdern. Der Eckhart des Lienhart Peuger50
Lienhart Peuger wurde um 1390 geboren. In zahlreichen seiner Handschriften, die heute noch im Koster Melk überliefert sind, findet sich sein Wappen. Die Melker Profess-Liste von der Hand des Petrus von Rosenheim bezeichnet ihn als ex armigero conversus. Doch ist weder die Herkunft aus der Wiener Ritterbürger-Familie Peuger, noch eine Abstammung aus dem Geschlecht der Peuger von Reitzenschlag bei Litschau nachweisbar. Lienhart Peuger nennt sich in seiner selbstgeschriebenen Profess-Urkunde, die heute noch im Koster Melk liegt, vielmehr Lienhart Peuger von matzsee. Ein derartiges Geschlecht aus Mattsee (bei Salzburg) ist bisher allerdings nicht nachweisbar.
Nach Ausweis der Melker Profess-Listen trat Peuger im Jahr 1419 von St. Lambrecht nach Melk über. Dabei kann es sich sowohl um Altenburg in Niederösterreich als auch um St. Lambrecht in der Steiermark handeln. Im Jahre 1420 legte Peuger in Melk Profess ab. Dies tat er allerdings als Laienbruder. Und er tat es im gerade reformierten Benediktinerkloster Melk, dessen Reformbestrebungen er unterstützte. Das ungefähre Sterbedatum Peugers ergibt sich aus seiner letzten datierten Handschrift vom Jahr 1455. Mit den Stichworten , Laienbruder', und , Klosterreform' sind die entscheidenden Worte gefallen. Peuger verfasste in Melk eine ganze Reihe von eigenen Gedichten, längeren und kürzeren Reimpareden. Alle diese Reimpareden stehen im Dienste der Reform und drücken die spezifische Spiritualität der reformierten Klöster und diejenige der
50 Vgl. zum Folgenden: Besonders Löser 1989 und ausführlicher Löser 1999.
Gruppe der Laienbrüder aus. Zu erkennen ist auch Peugers eigene persönlich geprägte Frömmigkeit, etwa in der besonderen Marienverehrung.
Die Bedeutung Peugers freilich liegt einmal in seiner Übersetzertätigkeit: Man kann ihm etwa eine nicht unbedeutende Psalmenübersetzung, eine Übersetzung der Ars moriendi Gersons, auch Übersetzungen des Liber meditationum et orationum Anselm von Canterbury zuweisen. Noch bedeutender freilich ist seine Tätigkeit als Schreiber und Redaktor von mindestens zwei Dutzend, zur Hauptsache heute noch im Kloster Melk aufbewahrter, Handschriften. Diese bildeten den Grundstock für die umfangreiche deutschsprachige Bibliothek, die den Laienbrüdern des Klosters Melk eine repräsentative Auswahl katechetischer, erbaulicher, scholastischer, aber auch - und dies besonders - ,mystischer' Texte zugänglich machte. Die meisten (fast alle) der von Peuger geschrieben Texte erweisen sich als sehr eigenständige Bearbeitungen. Aus seiner Feder etwa stammen alle Handschriften der Melker Kurzfassung von Heinrichs von Friemar De quattuor instinctibus, der sogenannte ,Melker Mischtext' der ,Maria-Aegyptiaca-Legende'und der stark von allen anderen Überlieferungen abweichende , Melker Physiologus'. Auch eine höchst eigenständige Neubearbeitung der sogenannten Melker Evangelien nahm Peuger vor.
Die größte Bedeutung freilich darf er als Bearbeiter und Redaktor von Meister Eckharts Predigten beanspruchen. Meine Dissertation von 1989 konnte zeigen, daß Peuger über sehr weit ausgreifende und umfangreiche Quellen von Eckharts Predigtwerkt verfügte. Er benutzte diese selbst zur Anlage eines zweibändigen Predigtwerkes (Me1 und Me2), in dem er Eckhart-Texte mit Predigten des Nikolaus vonDinkelsbühl in der Fassung des sogenannten Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktors verband. Alle diese Predigten Eckharts sind in starker Weise be- und überarbeitet. Sie sind gekürzt, im Wortlaut verändert und insbesondere der Frömmigkeit der Melker Laienbrüder angepasst. Peugers Texte sind also alles andere als vertrauenswürdige Zeugnisse der Texte Meister Eckharts.
Insbesondere gilt dies für die von Lienhart Peuger selbständig kompilierten Traktate und Spruchsammlungen, in die er Eckharts Predigtwerke einbaute. Von größter Bedeutung freilich ist, daß Peuger dazu offenbar eine mitteldeutsche Predigtsammlung Meister Eckharts benutzen und verwenden konnte, die ihm zahlreiche Predigten tradierte, u. a. auch solche, die heute nur noch in Melk und in der von Peuger bearbeiteten Form überliefert sind.
Seine Quellen entstammen dem mitteldeutschen Überlieferungskomplex und sind generell auf einer Stufe anzusetzen, die vor der Bearbeitung der OH2-Vorstufe liegt. Peuger verfügte insgesamt über vertrauenswürdige, eckhartnahe Quellen, die er selbst allerdings bearbeitete.
Die Aufnahme der stark bearbeiteten Predigten in das zweibändige Predigtwerk (Me1 und Me2) erfolgte wohl in den 1450er Jahren, sicher nach 1439 (Löser 1999: 174).
Sein Umgang mit Eckharts Predigt-Texten, der anhand einiger Predigten (unter ihnen auch die eingangs eingeführte Predigt Par. an. Nr. 1) erhoben wurde, lässt sich so charakterisieren:
„Lienhart Peuger hat die Predigten Meister Eckharts sehr bewusst bearbeitet und gekürzt. Missverständnisse und Fehler (wie Homöoteleuton-Lücken) sind selten. Weitgehende Änderungen hat vor allem die Syntax (Endstellung des Verbs) und der Wortschatz erfahren, wobei Peugers Wortersatz in der Regel den Sinn Eckharts unberührt läßt, jedoch so weit geht, daß sich in den Predigten durchaus >uneckhartsche< Wörter finden lassen. (Stil- und Wortschatzuntersuchungen als Sonden für die Echtheit der nur von Peuger überlieferten Predigten verbieten sich somit). Kürzungen wurden absichtlich vorgenommen: sie betreffen in der Hauptsache die Exempel, die Eckhart einflicht, um einen Sachverhalt näher zu erläutern, können aber auch Aussagen betreffen, die Peuger im Blick auf sein Publikum als bedenklich erschienen. Vor allem gestrichen wurden Eckharts Rückverweise. (An keiner Stelle wurde ein Rückverweis zusätzlich eingefügt.) Die wenigen sinn-ändernden Eingriffe und Zusätze Peugers dienen der Aktualisierung der Texte im Hinblick auf die konkrete Lebenspraxis der Melker Laienbrüder und sind deutlich von einem katechetisch-aszetischen Impetus und von Peugers Christus-Frömmigkeit geprägt. Fremdtexte werden in der Regel deutlich abgesetzt an den Eckhart-Text angehängt, nicht in diesen eingearbeitet. Wo dies dennoch geschieht (zwei Stellen in sechs Predigten), sind die fremden Texte als solche erkennbar und aus der Kenntnis der anderen Hss. Peugers auch als Texte anderer Autoren identifizierbar. Peugers eigene Zusätze sind in der Regel auf jeweils wenige Worte beschränkt. Text aus anderen Predigten Eckharts wurde in keinem Fall verwendet; Umstellungen waren nicht zu beobachten und sind bei Peugers stets dem Ablauf der Texte
streng folgendem Kompilationsverfahren auch nicht zu erwarten.
Die sehr starke Überarbeitung, die Eckharts Texte durch Peuger erfuhren, hindert nicht, daß Peugers Hss. in einigen Fällen einen >verläßlicheren< Text bieten als etwa die >Paradisus<-Hss. O und H2, und daß die Beachtung ihrer Lesarten in manchem Punkt die Revision von QUINTs kritischen Texten mit sich bringen kann." (Löser 1999: 300f.).
Die Predigt Par. an. Nr. 1 findet sich in Peugers Codex Me2 im Verbund mit zahlreichen anderen (auch nicht eckhartschen) 'Paradisus'-Predigten (Löser 1999: 247ff.).
Einen kurzen Abschnitt aus der Predigt hat Peuger - erneut überarbeitet - in einem Traktat 'Von sechs Nutzen des Leides Christi' verwendet (den er zweimal abschrieb: Me3 und Me 8). Hierbei geht es um die Taufe. Das Exzerpt von fast gleicher Länge und fast gleichem Wortlaut fand auch Eingang in Peugers Traktat >Von der sel wirdichait und aigenschafft< (Löser 1999: 127, 170f. 352f.).
4. „Mach Sprüche". Der Eckhart der mitteldeutschen Handschrift Bremen, Staatsbibliothek, ms. c. 18 Perg.
Die bisherigen Beobachtungen zum Paradisus'-Redaktor, zu Nikolaus von Landau und zu den Melker Handschriften des Lienhart Peuger können auf - teils sehr umfangreiche - eigene Studien zurückgreifen. Im Fall der Handschrift aus Bremen ist dies nicht der Fall. Sie wurde bisher überhaupt von der Forschung - sträflich! -vernachlässigt. Dies, obwohl sie schon seit sehr langer Zeit bekannt ist und eine erste frühe Vorstellung von Karl Brethauer bereits 1933 vorgelegt wurde (Brethauer 1932: 251-276). Daher wissen wir: Die Handschrift stammt aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (von etwa 1370), und weist einen mitteldeutschen Sprachstand auf: „Deutlich nach Osten (Thüringen) weisenden Kennzeichen stehen einige westmitteldeutsche (ripuarische) Besonderheiten gegenüber" (Ebd.: 252). Aus heutiger Sicht empfiehlt sich eine genaue Überprüfung solcher Thesen. Eines aber kann man jetzt schon sagen: Brethauers Beobachtung verbindet die Handschrift aus Bremen so auch sprachlich mit O und H2. Schon der schreibsprachliche Erstbefund Brethauers („durch unsere im wesentlichen thüringischen Texte scheinen fränkische Vorlagen durchzuschimmern") (Ebd.) verbindet Bre1 mit O und H2 und hätte eigentlich längst eine
gründliche Untersuchung des Gesamtkomplexes nahegelegt. Denn eine solche Verbindung ergibt sich eben auch für eine Reihe der von Brethauer in der Bremer Handschrift identifizierten Predigttexte. Darunter sind Texte, die sich auch in der Sammlung des ,Paradisus' finden, aber auch solche, die bislang überhaupt nur aus Bre1 bekannt sind (und die Brethauer schon 1933 abgedruckt hat, ohne dass sie von der Forschung adäquat gewürdigt worden wären). Ich kann hier diesen Komplex (von höchstem Interesse etwa ab f. 86r) nicht als ganzen „aufrollen". Nur soviel: Manche der Bre1-Predigttexte gehören in den Paradisus-Komplex, andere lassen eben jene Vorlagen „durchschimmern", die einen weiteren Horizont an Eckhart-Predigten aufwiesen als ihn dann die Paradisus- Sammlung verkürzt herstellte. Dies gilt auch und gerade für die vielen „Sprüche", die die Handschrift enthält. Sie ist ein weiteres frühes Zeugnis einer Art der Eckhart-Rezeption, wie sich diese etwa auch ähnlich früh in den sogenannten „Spamerschen Mosaiktraktaten" manifestiert oder wie es in den Traktaten und Spruchsammlungen noch und gerade des 15. Jahrhunderts (etwa in der Eckhart-Rezeption Peugers) immer wieder zum Ausdruck kommt. Man betrachte nur die kurzen Exzerpte der Handschrift Bre 1, die beispielhaft so beginnen: Eyn meister sprichit - Is ist eyn frage von den meistern - Dy meister habin eyn frage - Eyn ander vrage ist - Eyn meister sprichet - Eyn meister vregit - Eyn meister sprichit - meister Eckart sprichit ( f. 29r, 36v, 40r, 41v, 43v, 45r, 45v; letzteres u.a. 49v, 68r, 69v). Die Tatsache, dass Eckharts Aussagen hier oft in einzelne Dicta „zerlegt" und - entsprechend ihrem neuen Verwendungszweck - bearbeitet wurden, hindert nicht, dass sich in der Handschrift andererseits auch ganze (und wenig veränderte!) Predigten finden.51 Für die eingangs genannten Stellen der Predigt Paradisus Nr. 1 ist das kurze Exzerpt aus Bre1 (f. 47v) allerdings nicht einschlägig (vgl. Anhang Nr. 1).
5. Eckhart Namenlos? Der Eckhart des Philipp Babinhusen und des Schreibers der Handschrift Lo4
Handschriften des 15. Jahrhunderts überliefern Eckhart oft namenlos. Sie sind - wie die folgenden beiden - bisher in aller Regel nicht Gegenstand eigener Untersuchungen gewesen. Ich halte diese Untersuchungen (wie überhaupt eine Gesamtsichtung der Eckhart-
51 Man vergleiche beispielsweise nur die Bedeutung der Handschrift für die ,Paradisus'-Predigt 15 (DW IV,1 Nr. 90).
Überlieferung) für das vielleicht dringendste Desiderat der EckhartForschung überhaupt. Denn die Handschriften auch noch des 15. Jahrhunderts überliefern oft erstaunliche Sammlungszusammenhänge (das konnte man schon bei Lienhart Peuger und seinen umfänglichen Eckhart-Quellen erkennen) und sie überliefern Eckhart gar nicht so selten (anders als Peuger) relativ treu. Daß dabei - bis zu 150 Jahre nach Eckharts Tod - „Transmissionsprobleme" auftreten, versteht sich. Von Philipp Babinhusen, dem wir die Eckhart-Handschrift K2 (mit ihren 10 Predigten ab f. 293r) verdanken, musste schon Sievers im Jahr 1872 - leider mit Recht - sagen, der Zusammenhang der Texte sei „öfter durch sinnlose Schreibfehler gestört" (Sievers 1872: 438). Allerdings gilt auch, was ebenfalls schon Sievers bemerkte: „Die Texte dieser Handschrift haben im Ganzen weniger durch Verkürzungen gelitten als die von O" (Ebd.). Für unseren Zusammenhang gilt es diesen fehlerhaften Charakter einerseits, die besser als in O bewahrte Ausführlichkeit andererseits festzuhalten. Noch bedeutender für die künftige Forschung aber ist die Tatsache, dass K2 - außer den Paradisus-Predigten eine Reihe von sechs Predigten enthält, die Sievers auch gedruckt hat, die seither aber fast alle von der Forschung nahezu vergessen worden sind. Dies ist umso bedauerlicher als sie aus einer mitteldeutschen Eckharttradition stammen, die - durch die Entdeckungen der letzten Zeiten - nun auch in den Melker Eckharthandschriften des Lienhart Peuger (ihrerseits anders bearbeitet) und in der neuentdeckten Eckharthandschrift Lo4 bezeugt sind. Dort sehr viel weniger bearbeitet und durch Fehler entstellt.
Es ist aus meiner Sicht überhaupt eine der Bedeutungen dieser Handschrift Lo4, dass sie einen großen Komplex von Eckhart-Texten52 relativ fehlerfrei bewahrt53 und unsere Kenntnis an EckhartPredigten um mindestens zwei bis dato unbekannte Predigten Eckharts erweitert hat. Als ersten Hinweis auf Eckharts Autorschaft an diesen Texten konnte bei der Entdeckung von Lo4 die Tatsache gelesen werden, dass sie sich mitten unter einer Reihe sicher echter Eckhart-Texte befanden. Derjenige, der diese mitteldeutsche Sammlung ursprünglich anlegte, war an einer Sammlung dominikanischer Prediger um ihr „Herzstück" Meister Eckhart interessiert. Der Schreiber der Handschrift (aus dem 15. Jahrhundert, nach Kurt Ruhs Urteil thüringisch) hat diesen Predigtkomplex als solchen
52 Vgl. Löser 1986.
53 Vgl. dazu etwa Löser 2008.
bewahrt. Er hat ihn - relativ-, wie dies immer der Fall ist - fehlerfrei überliefert. In keinem der doch recht zahlreichen Fälle der von mir untersuchten Predigttexte der Handschrift Lo454 sind eigenmächtige Texterweiterungen oder Zusätze oder Redigierungsabsichten der Handschrift (oder ihrer Vorstufe[n]) erkennbar gewesen.
6. Überlieferungsgeschichtliche begründete Texte
Was geschieht nun, wenn man das Wissen über überlieferungsgeschichtlich begründete Textzusammenhänge, über Redaktoren und Schreiber, das man in einem weiten Überblick erhoben hat, auf konkrete Textentscheidungen anwendet? Interpretieren wir vor diesem neu gewonnen Hintergrund die Lesartendifferenzen der Predigt 87, die am Anfang beschrieben wurden:
1. Die erste Textdifferenz betraf den Beginn der Predigt und das grundgelegte Bibelwort in vierfacher Form: a) Jeremias wird in X 1 schlicht als Jeremias eingeführt, in Y dagegen als der prophete Jeremias. In der Handschrift des Lienhart Peuger (der, wie wir jetzt wissen, für Laienbrüder schrieb) ist dafür - eben eine typische Änderung Peugers -der deutsche Begriff weissage gewählt. Nikolaus von Landau, stemmatisch zum X-Ast gehörig, stützt die Y-Variante: Jeremia prophete K1a. Damit liegt folgender Schluss nahe: Auch Eckhart dürfte Jeremias eingangs als „Prophet" bezeichnet haben. Die Vorlage der Handschriften O und H2 (und damit wohl die Sammlung des , Paradisus anime intelligentis') hat dieses Wort gestrichen. Dieses Verständnis des Textes liegt umso näher, als auch in der Folge der Predigt vom „Propheten" die Rede ist: Dar umb was daz ein guot botschaft, daz der prophete sprichet: 'sehet, die tage[...]'. Das „Prophetentum" ist Eckhart sogar eine geradezu programmatische Aussage wert: Do die alten veter bekannten daz jamer, da sie inne waren, do schrieten sie mit ir begerunge in den himel und wurden in got gezogen mit irm geiste und lasen in götlicher wisheit, daz got geborn sollte werde. (DW IV,1, S. 22, 19-23). Kurz: Es wäre besser, der kritische Text folgte hierder Y-Variante. Mindestens sollte sie als gleichwertig synoptisch präsentiert
54 Vgl. Löser 1986, 1999 und 2008.
und nicht - in diesem Fall sogar kommentarlos - in den Variantenapparat verbannt werden.
b)Die zweite Differenz, die das Bibelwort betrifft, scheint mir bedeutender als das eine Wort vom propheten, auch wenn man darin einen nicht ganz unbedeutenden Aspekt der Differenz der Zeiten vor und nach der Erlösungstat Christi, vor und nach der Ankunft Christi auf Erden festmachen könnte. Diese zweite kleine Differenz betrifft das Bibelwort selbst: X liest es so, daß die tage kumint. In Y wird von den Tagen gesagt, daß sie sint komen. Hier fällt eine Entscheidung schwer. Natürlich könnte man sagen, daß kumint (mithin das mhd. komen, 3. Ps. Pl. Praes., jedoch futurisch verwendet) dem lateinischen veniunt sehr viel besser entspricht. Aber dazu wäre zu fragen, ob sich Eckhart denn generell als genauer Übersetzer von Bibelworten auszeichnet (und auszeichnen will), oder ob es dabei nicht um etwas ganz Anderes geht. Die Predigt gehört nach dem alten Dominikaner-Missale zur Lectio des 25 [!] Sonntags nach Trinitatis. Sie ist mithin eine Adventspredigt; auch im Inhaltsverzeichnis der 'Paradisus'-Sammlung wird sie als solche geführt: De aduentu. Das heißt: Die Lesartendifferenz unserer beiden Varianten erklärt sich schlicht daraus, wie der Predigtanlass konkret verstanden wird: In X als 25. Sonntag nach Trinitatis (die Tage werden kommen), in Y als erster Sonntag im Advent (die Tage der Ankunft Christi sind bereits da). Welche Lesart Eckhart -wann! - bevorzugte, lässt sich kaum rekonstruieren. Möglich sind, denke ich, aber beide. Sie verdienen mindestens eine gleichwertige Behandlung.
c) Noch sehr viel bedeutender scheint mir der Fortgang des Bibelwortes. In X1 lautet es: und ich will erwecken die gerehten wurzeln Davides. In Y findet sich dafür ein abweichender Text, der auch noch fortgesetzt wird: Jch will irwecken dy frücht adir den samen dauid. Vnd dy frucht sal wise sin vnd sal vinden orteil vnd machen gerechtikeit in ertriche. Steer entscheidet sich hier für X1 und interpretiert die Abweichungen von Y so: „Die Spuren der Umgestaltung finden sich bereits in der Übersetzung des Leitzitates am Beginn der Predigt. Während X dem lateinischen Text korrekt folgt, entfernt sich Y von ihm wie von der X-Übertragung offensichtlich bewußt [...] Der Vollständigkeit halber wird [dann auch] noch der weitere
Wortlaut des Verses Ier. 23,5, allerdings wiederum in einer ungenauen Übersetzung, hinzugefügt." (DW IV,1: 14). Natürlich kann man sagen, daß germen iustum durch die gerehten wurzeln genau übersetzt, durch die frücht adir den samen freier wiedergegeben wird, die Folgeteile dagegen in Y ungenau wiedergegeben sind (et regnabit rex et sapiens erit et faciet iudicium et iustitiam in terra). Aber erstens will sich Eckhart nicht als genauer Übersetzer der Bibel auszeichnen, um die eben schon angedeutete Frage zu beantworten. Es ist vielmehr so, daß er i n a l l e r R e g e l den Bibeltext verändert und bearbeitet; und zwar im Blick auf seinen Predigtinhalt und Predigtzweck und im Blick darauf, was er mit seiner Predigt sagen und erreichen will.55 Und was er hier sagen will, ist folgendes: Christus, der ein wisheit ist des vaters, der sol wisliche rede geben vür alle unser torheit und missetat [DW IV, 1, S. 23, Z. 30]. diu selbe gewalt und wisheit, die der vater hat, die hat der sun glich mit im [.] wan er sin wisheit ist [ebd. S. 24. Z. 33-36]. Eckhart will sagen, daß Christus vor dem Gericht Gottes als advocatus des Menschen auftritt und er will sagen, Gottes Sohn kam üf daz ertriche [...] und brahte unschult und lüterkeit in menschlicher natüre üf daz ertriche [.] Dar umbe ist er komen üf daz ertriche, daz er des menschen sünde üf sich genomen hat, das er si vertilgete [ebd., Z. 41, 43 und 51]. Damit zielt Eckharts Predigt exakt auf die Begriffe wise, orteil vinden, ertriche, die im einleitenden Bibelwort „angespielt" werden. Man sollte der Predigt nicht schon gleich am Anfang ihre Zentralbegriffe nehmen, indem man dem kritischen Text den gekürzten Wortlaut der OH2-Vorstufe zu Grunde legt. Denn auch Nikolaus von Landau hat ja den Text wie Y bewahrt. Und es gehört zu den Charakteristika der kürzenden ,Paradisus'-Version, daß sie (von der Ökonomie eines Predigerhandbuches gesteuert) gerade immer wieder in die Bibelzitate eingreift (und eingreifen kann, würde ich vermuten, weil die Benutzer dieser Sammlung ganz selbstverständlich über den grundgelegten Text verfügten, sei es, weil sie ihn bestens kannten, sei es, weil sie ein Dominikaner-Missale wie Eckhart benutzen konnten). Wie
55 Vgl. dazu ausführlich: Löser 2004.
immer: Der Text sollte Eckhart hier nicht entzogen werden; X1 hat ihn dramatisch verkürzt; Y hat ihn bewahrt.
2. Die Textdifferenz in Zeile 10 hat erhebliche Auswirkungen auf das Textverständnis. Ich gebe sie im Zusammenhang:
Sant Augustinus sprichet von im selber, dô er noch umbekêret was, daz er sich verre vant von gote in einem vremden lande der unglîcheit.
[Z. 10:] Ez ist ein j#merlich dinc, daz der mensche von dem ist, âne den er niht s#lic gesîn enmac. N#me man die allerschœnsten crêatûren, die got geschaffen hât, ûz dem gôtlîchen liehte, dâ sie under stânt - wan als verre als alliu dinc under dem gôtlîchen liehte stânt, als verre sint sie lustlich und beheglich, - und w#re ez gotes wille und gestatete er ez, daz sie wurden genomen ûz dem gôtlîchen liehte und wurden gewîset einer sêle, si enmohte deheine wollust noch behagunge an in gehaben, sunder ir müeste dâ vor grûwen. [DW IV, S. 20f., Z. 715]
Der Interpretation bedarf die Aussage, es sei ein j#merlich dinc, daz der mensche von dem ist, âne den er niht s#lic gesîn enmac. S#lic gesîn enmac findet sich so nur in X1; Nikolaus von Landau spricht von gesin mac; im Y-Ast hingegen findet man die Lesart behegelich mag gesin.56 Dazu ist folgendes zu sagen: Man würde gut daran tun, diese Zeile nicht von der vorhergehenden abzusetzen, sondern sie direkt folgen zu lassen (oder sie gar in Anführungszeichen zu setzen), denn auch dabei handelt es sich noch um ein - modifiziertes -
57
Augustinus-Zitat; eines, das Eckhart häufiger verwendet hat. So auch in der 'Paradisus'-Predigt 37 (jetzt kritisch ediert als Predigt 93 in DW IV,1): Sant Augustinus sprichet: ez ist ein grôz tôrheit, daz diu sêle âne den ist, der allenthalben ist, und daz si mit dem niht enist, âne den si niht wesen enmac, daz si den niht enminnet, âne den si niht geminnen
56 Diese Lesart stützt auch die Handschrift Me2, so stark überarbeitet sie durch Lienhart Peuger wurde: so ein mensch an das guet ist an das er got nicht gevallen mag (DW IV,1: 2).
57 Vgl. dazu künftig: Löser, Eckhart und Augustinus.
enmac. Vgl. Sermo XXX,2 n. 319, LW IV, S. 280,10-13: Unde Augustinus XIV De trinitate c. 12 in fine: „magna miseria hominis est cum illo non esse, sine quo non pote st esse. In quo enim est, procul dubio sine illo non est. Et tamen, si eius non meminit eumque non intelligit neque diligit, cum illo non est (DW IV,1: 132,66-68 und Anm. 32). Es ist charakteristisch für Nikolaus von Landau, daß er diesen Zusammenhang mit Augustinus erkannt und wiederhergestellt hat (sine quo non potest esse = ane den er nit gesin mac). In der Vorstufe von O und H2 liegt dagegen ein schlichter Fehler vor, denn der Platz der Seligkeit ist im Dreischritt der Predigt erst der dritte:
Aller jœmerlichest ist daz, daz er von dem ist, der sin ewige sœlicheit ist [Z. 18].
Vorangegagnen war der zweite Punkt [Z. 19]: Noch j#merlîcher ist daz, daz der mensche von dem ist, âne den er kein wesen gehaben mac.
Und der Dreischritt kann nicht gut mit dem dritten Punkt (wie in X1 [sœlic]) eröffnet werden, auch nicht mit dem zweiten wie bei Nikolaus von Landau, so gut er den Zusammenhang mit Augustinus erkannt hat. Es bedarf schon eines wirklich ersten Schrittes (wie in Y). Der Steigerungscharakter der Eckhartschen Aussagen ergibt sich dann auch wirklich am Besten, wenn die Reihe damit begonnen wird, daß man ohne Gott an nichts Gefallen finden kann. Nur so wird auch der Folgetext Eckharts verständlich, der sagt, daß die Dinge der Welt nur unter dem göttlichen Licht lustlich und behegelich sein können und daß man nur in diesem göttlichen Licht an ihnen behagunge finden kann [Z. 13 und 15]. Auch hier ist eine unkommentierte Angabe der Lesart im VariantenApparat sicher der falsche Platz für die sehr kluge und konsequente Y-Version behegelich.
3. Im Folgenden kann ich mich kürzer fassen. Denn ist der grundsätzliche Weg einmal erkannt, kann man ihm leichter folgen. In aller Regel dürfte es sich bei dem X-Text, mit Sicherheit bei dem X1-Text der Handschriften O und H2, um einen gekürzten Text handeln. Erweiterungen des Y-Textes oder der späteren Abschreiber der Y-Vorlagen sind bisher nicht nachweisbar (nicht in dieser und nicht in anderen Predigten). Demnach empfiehlt es sich, auch die Aussagen zur Erläuterung von Zeile 18 ganz ernst und wichtig zu
nehmen. Was bedeutet es denn für den Menschen, daß er ohne den ist, der seine ewige s#licheit ist: Vnnd so krang ist worden das er von siner eygen craft nummer wedir czü gote komen mag Vnd oüch nicht weis wy er wider czü öm komen sal. das clait er dauid vnd spricht Jch ben verre von gote wan ich in den sünden geborn ben vnd ben so krang worden das ich von myner craft nicht wider czü gote komen mag Vnd habe dy oügen vorlorn das ich nicht weis wo ich wedir czü öm komen mag. Ein gut man der spricht in hern Jacobs [Johans K2] buch Bricht [spricht K2] ein mensche wider den andern da mag er eyn menschen czü vinden der öm das helffe bessern. Bricht aber der mensche wider den der ist so hö vnnd so vn messig das man kein menschen darczü vinden kan der das gebessern moge wan noch der werdikeit des hern an dem man missetüt so müs sin dy besserunge Y1. Hier wird womöglich ein „Rechtsbuch" zitiert, ob korrekt nach K2 als „Herrn Johanns Buch", was bei der Fehlerhaftigkeit des Schreibers als unwahrscheinlich gelten muss, und ob dann „Herrn Johanns Buch" gar die Summa Johannis meint, oder ob Lo4 mit „Herrn Jakobs Buch" recht hat, vermag ich im Moment nicht zu lösen. Ebenso lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, daß dieser Text wirklich von Eckhart und nicht doch aus einer erweiterten Redaktion stammt. Sicher aber ist: Er sollte einen synoptischen (also zu X gleichwertigen Abdruck) wert sein. Es geht nämlich schlicht darum, daß hier eine Gerichtsmetapher eingeführt wird, auf die Eckhart später Bezug nimmt, wenn er Christus als vorsprechen [Z. 29] charakterisiert. Es geht auch darum, daß hier der Gedanke eingeführt wird, daß nur Christus in der Lage sein wird für die Missetaten des Menschen sich vor dem unermesslich hohen Vater einzusetzen.
4. Nach allem bisher Gesagten erscheint es mir erstens zwingend, in Zeile 20 den Satz (der sich so nirgends findet!)58 und ich wil erwecken die gerehten wurzeln Davides, der wohl nur in der Folge der Entscheidung zum gleichlautenden Satz am Predigtbeginn so kreiert wurde, durch die Y-Lesart zu ersetzen: das got geborn wel werden von dem samen dauidis. Denn nur so gewinnt man das - für Eckhart charakteristische
58 Nikolaus von Landau hat hier eine größere Lücke; die beiden x1-Handschriften lesen schlicht: etc.
- Thema der Gottesgeburt. Und nur so wird auch verständlich, warum es dazu, wie eben in Y, der Versicherung bedarf, daß dies got selbir gesprochen hat. Man sollte demzufolge auch diesen weiteren Satz nach Y wiedergeben.
5. Das alles heißt dann aber auch, daß Eckhart nicht der Meinung ist, wir sollten beiten [warten], der himelische vater muoz unser gebet enpfahen oder niht [Z. 32], sondern daß es ihm um das Gebet geht, wie dies in Y formuliert wird. Ich denke, hier liegt wieder eine der für X1 so typischen Kürzungen vor; die Wortform beiten in X1 ist übrigens geprägt wie in den Folgewörtern vom i als Dehnungszeichen (muisz ... gebeit ... inphain) und daher mhd. als beten wiederzugeben. Die Y-Version handelt nicht von der „Gottergebenheit des Menschen" (DW IV,1, S. 15), sondern sie trifft eine längere und sehr interessante Aussage zum Gebet und sie verknüpft eben dieses Gebet mit Christus: Wiszt ir wy der mensche ettiswan gedenken vnd beten sal. Er sal vor sich vnd vor wen er beten wel mit allen sin sünden vnd gebrechen legen in dy wunden vnsers hern ihesu Christi vnd sal sich unwirdig dünken vnd sal sich beveln der wirdigen martir vnsers hern ihesu Christi vnd sal sich opphern (oppher Lo4) deme hymmilische vater vnd (an Lo4) sine heylige sune. antwedir der hymmilische vater der müsz sy beide enphan adir nicht. Es geht nicht darum, daß der Y-Redaktor, wie Steer glaubt, „glaubt [den Satz] durch eine Paraphrase über die Haltung der Gottergebenheit des Menschen ersetzen zu müssen" (DW IV,1, S. 15), sondern es geht darum, daß hier eine hoch interessante, womöglich von Eckhart selbst stammende Aussage zum Gebet und dessen christologischen Zusammenhängen vorliegt. Sie berührt sich nämlich in entschiedenen Punkten mit Eckharts Gebetslehre und dem, was das Mittelalter als seine Gebetspraxis überliefert: Ich habe im Jahr 2000 Eckharts Gebetslehre untersucht und dabei auch ein sicher von ihm stammendes Gebet vorgestellt und analysiert.59 Skepsis hingegen hielt ich bei einem zweiten Gebetstext für angebracht. Pfeiffer hat ihn als >Spruch< Nr. 23 (S.604) gedruckt.60 Der Text dieses in den Handschriften
59 Vgl. zum Folgenden: Löser 2000.
60 Bisher bekannte Überlieferung ebd.: 303: Zwei Handschriften aus Karlsruhe und aus Stuttgart, sowie das bekannte Gebetbuch der Margarethe
Eckhart zugeschriebenen Gebetes und seiner Einleitung lautet61:
Meister Eckehart sprach einest: ich toufe mich alle tage zuo siben malen in dem bluote unsers herren Jesu Kristi zu einre ieglichen gezit an dem tage, daz man denne singen und lesen sol, so spriche ich: herre Jesu Kriste, ich kome zuo dir mit allem mime gebresten, herre, und klage dir die mit leide und mit bitterkeit mins herzen und trage dir uf herze, sele und gemüete und aller menschen sache in miner begirde, und sunderlichen der, die es an mich begerent. Minneclicher herre, Jesu, Kriste, und bite dich, daz du, uns toufest und weschest und liuterest in der kraft dins minnerichen wirdigen bluotes und uns da mite kleidest und zierest und gevelllic machest vor dem aneblicke dins himelschen vaters und uns also süenest unde huldest in daz veterliche herze, daz der gunst unde der geist siner minne in uns flieze und an uns erwecke, würke, vollebringe alle unser gedenke, wort unde werc zuo sime veterlichen aller liebesten willen h&hestez lop und inreste lüste. Amen.
Gegen Eckharts Autorschaft an diesem Text könnte geltend gemacht werden, daß sich das Gebet an Christus wendet, was in Eckharts Überlegungen über das Beten selten vorkommt. Dem wäre zu entgegnen, daß der Gedanke an die Menschheit Christi doch auch im Kontext der Gebetslehre zugelassen wird:
Und welez ist diz gezelt, da diu wisheit von sprach? Daz ist diu menscheit Jesu, Kristi, da der vater inne geruowet hat mit dem sune, wan sie sint gelich an der natüre [...] Diz
Zschampi, das um 1460 geschrieben und dem Basler Kartäuserkloster vermacht wurde; dazu Versionen dreier weiterer Handschriften: Eine Handschrift, die in Kopenhagen aufbewahrt wird (K), eine Handschrift, die sich heute in Leiden befindet (L; wohl 2. Hälfte des 14. Jhs.), und das >Engelberger Gebetbuch< (E), das aus zwei verschiedenen Konvoluten besteht. Im zweiten dieser Teile (2. Hälfte des 14. Jhs.) finden sich einige Sühne- und Kommuniongebete dominikanischen Ursprungs. Dem Eckhart zugeschriebenen Gebet (f. 168r-169r) folgt eine Übersetzung der vielleicht echten Oratio Concede mihi, misericors Deus, quae tibi sunt placita ardenter concupiscere des Thomas von Aquin. 61 Text und Varianten bei Löser 2000: 304.
gezelt der menscheit sülen wir alleine anbeten dur die einunge der gotheit, wan der mensche ist werliche got unde got ist werliche mensche. Dar umbe sülen wir uns niht bekümberen mit dekeiner creatüre, wan alleine mit Jesü Kristo, der alleine unser vater und unser helfer ist und ein wec zuo sime vater.62
Man soll, sagt Eckhart, den Vater mit dem Sohn bitten. Die Bitte wird gewährt, denn der Mensch i s t Sohn.63 Gott also mit Christus um etwas zu bitten ist für Eckhart ein gewöhnlicher Vorgang. Ungewöhnlich an dem zitierten Gebet mag weiter die Sprache sein (ich toufe mich... in dem bluote unsers herren Jesü Christi). Der Text steht damit auf den ersten Blick den Ansichten des >Gebets-Plusstückes< des >Von abegescheidenheit<-Traktates näher als den sonstigen Auffassungen Eckharts. Dort heißt es, man solle in seine Andacht alle, für die man etwas begehre, aufnehmen und vf tragen mit der andaht in die wunden Kristi. Die Formulierung der Voraussetzung und des Anliegens des Gebets hingegen fügt sich in das für Eckhart entworfene Bild: Alle eigenen gebresten und die derjenigen, die darum bitten, ganz in Christus zu legen, auf seine versöhnende Kraft zu vertrauen, die Nähe zum Vater zu suchen, dessen Geist in uns alle Werke vollbringen soll - das alles paßt zu Eckharts Grundgedanken. Auch muß daran erinnert werden,
62 Pfeiffer, Pr. 76,1: 241,11-19. Vgl. ebd., Pr. 76,2: 248,38ff. In ähnlicher Richtung argumentiert auch das sogenannte Gebets-Plus stück aus dem Traktat >Von abegescheidenheit<. Vgl. dazu: Löser 2000: 297, Anm. 38.
63Resumentem autem quod dictum est: >quodcumque petieritis patrem in nomine meo, hoc faciam< dicamus quod in nomine filii nemo petit nisi fuerit filius. Item patrem ut patrem nemo petit nisi filius. Rursus pater ut pater neminem exaudit nec audit nisi filium. [...] Matth. autem 11 dicitur: >nemo novit filium nisi pater, neque patrem quis novit nisi filius<. [...] Hoc est ergo quod hic dicitur: >quodcumque petieritis patrem in nomine meo, hoc faciam.<
Adhuc autem dicamus quod in nomine lesu filii patrem petit qui ipsum petit sive orat oratione quam ipse docuit. Matth. 6 et Luc. 11 dicit: >pater noster, qui es in caelis, sanctificetur nomen tuum< etc., super qua oratione iam dudum tractatum specialem notavi. Ad praesens auten notandum quod volens accipere a patre quodcumque petierit primo debet esse filius, ut vere deum dicatpatrem. (LW III: 523f., n. 601f.)
daß Eckhart im Gebet die vermittelnde Funktion Christi als wec zuo sime vater durchaus anerkennt. Soweit zu diesem Gebetstext.64 Daß er sich mit dem, was in der Y-Version der Predigt über das Beten gesagt wird, sehr eng berührt, bedarf wohl nicht eigens der Erläuterung. Mithin dürfen wir davon ausgehen, dass die in Y tradierten Gedanken zum Beten ihren Urheber in Eckhart haben, und dass X1 diese Gedanken gestrichen hat.
6. „Eine massive Umdeutung", so Steer, nimmt meines Erachtens nicht der Y-Redaktor an Eckharts Exegese von Matth. 10,45 vor, sondern die (erneut fehlerhafte!) Vorlage der Handschriften O und H2 (X1 also), und mit ihnen Georg Steer. Steer ist der Meinung: Die annähernd wörtlichen Textparallelen zu Pr. 93, Z. 13f. (Aber m genüeget unserm herren lichticliche: Umbe einen trunk kaltes wazzers gibet er sin himelriche an einem reinen herzen) und In Gen. I n. 157, LW I, S. 306,1-4 (et est sensus quod deus quiescit in quolibet opere bono quantumvis minimo, puta in calice aquae frigidae, si tamen deus et amor ipsius operatur in nobis opus. Non enim censum attendit deus, sed affectum, secundum Gregorium) machen deutlich, dass einzig in der X-Version der Text der Predigt in der ursprünglichen Gestalt bewahrt ist und nicht in der Y-Version:
64 Ich habe dazu vor fast 10 Jahren auch betont: „Die einleitende Formulierung Meister Eckehart sprach einest könnte auf einen ursprünglich mündlichen Text deuten, der nicht von Eckhart selbst aufgezeichnet wurde. Als Rezipienten dieses Gebets sind sicher Nonnen zu denken: Sie werden es abgeschrieben, selbst gesprochen und wohl auch in einigen sprachlichen Details verändert haben. Man sieht das in der Überlieferung noch am stark bearbeiteten Charakter der Handschriften. Aber bei aller Varianz der Textzeugen im Wortlaut - sie a l l e schreiben den Text explizit Meister Eckhart zu. Die Verknüpfung mit einem Gebet des Thomas von Aquin deutet auf verläßliche dominikanische Quellen. Der Text verdient jedenfalls eine eingehende überlieferungskritische Untersuchung, eine sorgfältige Abwägung der einzelnen Lesarten aller Handschriften gegeneinander und einen Detailvergleich mit Eckharts Gebetslehre wie mit seiner Sprache." (Löser 2000: 305).
X Y
Z. 24-27: Wan daz ist war, daz got gibet sin himelriche umbe einen kalten trunk wazzers und an einem guoten herzen. Da mite ist ez genuoc. Und ich nime ez uf min sele: Wer einen guoten gedank opfert in der ewigen minne, da got inne mensche ist worden, der wirt behalten. Lo4, 135ra: ouch ist das war: Wer eyn trünk kaldes wassers gebit sime eben cristen in der ewigen libe da got mensche ynne worde ist, dem werden alle sine sünde vor geben. Vnd ich nemes uff myne sele. Wer eynen guten gedanken vnserm hern gote opphert in der ewigen libe der wirt behalden." (DW IV,1: 15).
Die Handschriften O und H2 (übrigens auch im Fall der parallelen Predigt 93) verstehen den Einganssatz aber so: Es sei wahr, daß got gibet sin himelriche umbe einen kalten trunk wazzers. [Punkt!] Und an einem guten herzen, da mite ist ez genuoc. Übrigens kann schon der Blick in das für die Paradisus-Redaktion charakteristische Inhaltsverzeichnis zeigen, daß es sich hierbei um einen Eingriff dieser Redaktion handelt: j. (am linken Rand O; fehlt H2) Ecce dies veniunt. Jn disir predigade wisit (bewiset H2) mester eckart (Echard H2) der alde der grozin nuz der zukunft vnsis (vnsers H2) herren wan for der zit muystin alle lude zu der helle, aber nu gnugit gode lichtliche (lichtecliche. H2) wan mit eyme reinen herzin ist ez gnuc O, H2 (Inhaltsverzeichnis: O fol. 1ra [Par. an. S. 1], H2 fol. 1r). Die Y-Version hingegen sollte hier mindestens abermals einer synoptischen Version gewürdigt werden. Ich will auf den komplizierten Fall hier nicht näher eingehen, sondern nur meine Ansicht andeuten, daß die klare Steigerung der Aussage, die Eckhart getroffen hat, auch hier nur in der Y-Version, nicht in der bearbeiteten X1-Lesart überliefert ist: Wer ein gutes Werk tut, indem er in göttlicher Caritas dem Mitmenschen verbunden agiert, dem werden die Sünden vergeben; aber - und deshalb die Wahrheitsbeteuerung in Eckharts sehr charakteristischer Weise - : Wer in dieser ewigen Liebe auch nur einen guten Gedanken opfert, der wirt behalden. Nebenbei bemerkt sei nur noch, daß hier auch in der Wortwahl der Gedanke des „Opferns" - aus der Betrachtung zum Gebet - wieder aufgenommen wird.
7. Dass nicht Paulus Christus als propugnator bezeichnet, wie im fehlerhaften x1-Text und dem folgend im kritischen Text angenommen, zeigen die sehr vagen in Anmerkung 11 verzeichneten Paulusworte, die das erste Paulus-Wort wohl treffen, nicht aber das zweite. Er ist uns gegeben ze einem
vorveht#re [Z. 31] stammt denn auch wohl kaum von Paulus, sondern aus den Psalmen. Hier wäre dann eine weitere Überlegung über die Bedeutung der verschiedenen Bibelworte in dieser Predigt anzuschließen, wofür Zeit und Raum fehlen. Sicher aber hat der Y-Redaktor nicht unrecht, wenn er das Zitat nicht Paulus zuweist, sondern sagt, die Schrift spreche andirs wo. Auch hier sollte der kritische Text Y folgen.
Ich beende die Untersuchungen zum Text der Predigt 87 an dieser Stelle und fasse das mir wichtigste Ergebnis in einem Satz zusammen: Studien zu den Schreibern und Redaktoren der Eckharthandschriften sind keine Alternative zum kritischen Text, sondern eine der Voraussetzungen zu dessen Herstellung. Dass man dabei gut daran tut, sogar die Interpunktion der Handschriften zu beachten, zeigt der Fall des „guten Herzen".
Schluss
Man wird - angesichts dieser Lage - nun fragen: Und Eckhart? Die Erfahrung spricht dafür, daß die Öffentlichkeit herzlich wenig daran interessiert ist, was Redaktoren wie der Sammler der 'Paradisus-Sammlung' aus Eckhart machten, was obskure Schreiber wie derjenige der Vorlage der beiden 'Paradisus'-Handschriften O und H2 weitergaben, was Prediger wie Nikolaus von Landau an Eckhart rezipierenswert fanden, welche Teile von Eckhart-Predigten in der Spiritualität eines Melker Laienbruders Platz hatten oder was Handschriften mit Kürzeln von ihm übrig ließen, seien sie nun verlässlich (wie Lo4) oder recht fehlerhaft (wie K2). Man will wissen, wie E c k h a r t schrieb.
Und man hat ein Recht dazu. Denn Eckhart predigte nicht nur mündlich (und mußte erdulden, daß Schreiberaufzeichnungen nach einer reportatio ab ore seine Worte veränderten). Es besaß vielmehr ein eigenes Buch mit seinen Texten.
Eckharts Eckhart
Es waren gerade die beiden Handschriften K2 und Lo4, die diese Erkenntnis nahe legten. Im Zentrum dieser Überlegungen stand anfangs zunächst die 'Paradisus'-Predigt Nr. 16, auf die - wie oben
gezeigt - ein Rückverweis aus der Predigt Sievers Nr. XXII verwies.65 Gemeint ist der Rückverweis:
als ich oüch mer gesprochen habe ab alle dy craft aller engele und sele und aller creaturn gesmeltczt wern uff eyn engel adir uff eyne sele sy mochten den götlichen flüß nicht enthalden Sy müzen ön wider gyßen mit lobe in got.
Er zielt auf DW IV, 1 Predigt 91 (=Par. an. 16), S. 95, Z. 95-98
Ich setze mîne sêle ze pfande an dem jüngesten tage ze der helle ze gebenne, daz diz wâr sî, daz ich nû sprechen wil: ob alliu diu kraft aller sêlen und aller engel und aller crêatûren zemâle geahtet w#re ûf eine sêle, si enmöhte daz minste lôn eines guoten gedanken niht enpfâhen, der in der êwigen liebe gedâht wirt, si müeste zerglîten und zervliezen und sterben.66
Ich konnte diese Beziehung schon 1986 offenlegen und eine enge Verknüpfung zwischen den in K2 und Lo4 überlieferten mittelhochdeutschen Predigten und den Predigten des 'Paradisus' aufzeigen. Man hat in der Forschung diese Beziehung bisher zu wenig beachtet.67 Dabei ist sie von höchstem Interesse, zeigt sie doch, dass auch die Predigt Sievers XXII von Eckhart stammt und in den 'Paradisus'-Kontext gehört. Diese Beziehung zeigt aber mehr; denn sie ergibt sich auch aus einem weiteren Rückverweis aus einer zweiten Predigt, die in K2 und Lo4 überliefert ist. Auch dies habe ich 1986 schon dargestellt (Löser 1986: 217). Diese Predigt (Sievers Nr. XXIII) schließt in K2 und in Lo4 mit diesem Rückverweis:
von den andern zwei wie god die sele leidet (leit Lo4) und wie her er lôn ist, daz ist anderswô geschriben (Sievers, S. 247, 84f.).
Hier wird eben auch, wie gesagt, die Predigt Par. an. Nr. 16 gemeint sein, deren Inhalt - durch den genannten Rückverweis knapp und treffend bezeichnet - in der 'Paradisus'-Predigt selbst so summiert wird: dit ist fon deme erstin, alse Got ledit mit deme
65 Siehe oben Anm. 40.
66 Dazu und zum Folgenden: Löser 1986: 217.
67 Z. B. wurden in DW IV, 1: 95 Anm. 40 zwar zwei Parallelen zu den Formulierungen der Predigt Par. an. 16 angeführt, der bedeutende Rückverweis aus Sievers Nr. XXII (der ein erstes Indiz übrigens auch für deren Echtheit bildet) jedoch gerade nicht.
geschepnisse allir creature. Zu dem anderen male ledit he mit deme tode [...] Zu dem drittin male sullin wir prufin daz lon. (Par. an. S. 41, 1-3 u. 14; vgl. jetzt DW IV, 1, S. 93f. Z. 70 und 81f.). Im Register des 'Paradisus' wird die Predigt 16 so angekündigt: in disir predigade lerit meistir Eckhart wi Got die sele ladit zu eme mit deme geschepnusse allir creature, und von deme lone (Par. an. S. 2,17-19 ; vgl. jetzt DW IV, 1, S. 84).
Ich habe 1986 dazu gesagt: „Die Möglichkeit, daß der Rückverweis aus Sievers Nr. XXIII in dieser Form (ist anderswo geschriben) erst von einem Schreiber/Redaktor (einer Vorstufe von Lo4/K2) stammt, kann hier nicht ausgeschlossen werden. Stammte er aber von Meister Eckhart, dann wäre nicht mehr von der Hand zu weisen, daß Eckhart selbst ein Corpus seiner deutschen Predigten in verschriftlichter Form vor sich hatte. Vergleichbar ist die Predigt DW II Nr. 28 (S. 62,3ff), in der Eckhart bemerkt: Ich schreip einest in min buoch. Die Aussagen, die darauf folgen, hat auch Quint (DW II, S. 62 Anm. 2: „welches Buch gemeint ist, weiß ich nicht") nicht identifizieren können. Solange sie aber weder im lateinischen Werk, noch in der Rechfertigungsschrift, noch im 'Liber Benedictas' identifiziert sind, dürfen wir mit der Möglichkeit eines von Eckhart selbst schriftlich fixierten oder redigierten Verbundes seiner deutschen Predigten rechnen."
Um dies zu erläutern:
1. Ich habe - die Bedeutung der Entdeckung vor Augen! - 1986 vorsichtig argumentiert und die Möglichkeit der Interpolation eines solchen Rückverweises durch Schreiber nicht durchweg ausgeschlossen. Wohl aber haben alle Untersuchungen des Aufsatzes68 im direkten Zusammenhang mit dieser Frage gezeigt, daß die Vorstufe von K2/Lo4 n i r g e n d w o e i n e n R ü c k v e r w e i s einfügt.
2. Wir wußten schon 1986 (und wissen heute noch besser), daß Eckhart sein lateinisches Werk in schriftlicher Form vor sich hatte:
„Wir wissen heute," so Loris Sturlese im Jahr 2005 (Sturlese 2005: 402f.) „daß Eckhart ein Handexemplar des 'Opus tripartitum' bei sich hatte und dass er an diesem Handexemplar intensiv jahre-, vielleicht jahrzehntelang gefeilt hat, indem er ursprünglich nur zum Teil beschriebene Seiten mit Anmerkungen, notanda und
68 Vgl. insbesondere dort S. 217 Anm. 19.
zusätzlichen Erklärungen vervollständigte. Wenn der freie Platz nicht mehr ausreichte, fügte Eckhart seine Notizen auf zusätzlichen Zetteln und Einzelblättern bei, wobei er mit Rasuren, Tilgungen, Verweiszeichen usw. arbeitete, bis das Ganze so unübersichtlich war, dass er eine Schönschrift herstellen ließ, in der er mit seiner Feilarbeit wieder begann. Es ließ sich zeigen, dass dieses Handexemplar in verschiedenen Stadien vom Kopisten benutzt wurde, um Abschriften herzustellen, die als Werk Eckharts in Umlauf gebracht wurden. Koch wies nach, dass auch ein Heft mit dem Corpus der lateinischen Sermones vorlag, dessen zweite Hälfte, De tempore von Trinitatis bis zum ersten Advent, der Codex C genau widerspiegelt."
3. Wir wissen auch, daß Eckhart die deutschen Texte des 'Liber Benedictas' schriftlich redigierte.
4. Wenn (wie es der Fall ist) die Stelle, die er mit Ich schreip einest in min buoch einleitet, nicht im schriftlichen lateinischen Werk und nicht im schriftlichen 'Liber Benedictas' zu finden ist, dann muss es ein schriftlich redigiertes Corpus der deutschen Predigten gegeben und dieses muss Eckhart selbst vorgelegen haben. Die Predigt 'Paradisus' 16, die die Predigt Sievers XXIII meint, wenn sie sagt etwas sei anderswo geschriben, muss zu diesem Corpus gehört haben. Die Stelle, die Eckhart einest in [s]in buoch schreip, muss er in dieses Buch geschrieben haben.
Diese meine Feststellungen von 1986 hat Loris Sturlese zum Ausgangspunkt genommen, die Frage zu stellen: „Hat es ein Corpus der deutschen Predigen Meister Eckharts gegeben?" (Sturlese 2005: 403) Sturlese nennt - zusätzlich zu der von mir 20 Jahre zuvor aufgeführten eine weitere Stelle:
„mer ich gedachte zo nachte, dat got inthoeget solde werden, neit ey alle me ey in, ind sprycht also vyle as inthoeget got, dat myr also wayle behagede, dat ich it in myn boich schryff" (Mer ich gedahte zer nahte, daz got enthahet sölte werden, niht ie al, mer ie inne, und sprichet als vil als enthahet got, daz mir also wol behagete, daz ich ez in min buoch schreip"). (DW I, Pr. 14, S. 237; Sturlese 2005: 403).
Sturlese interpretiert diese Aussage so:
„Ich glaube, man tut sich leicht, wenn man unhistorisch modernisierend ein mittelalterliches buoch (,min buoch') mit einem Tagebuch oder einem Notizbüchlein oder einem
Terminkalender identifiziert.69 Ein buoch, das Eckhart ,sîn' nennen konnte, war bestimmt das mit Zetteln gespickte Exemplar der ,Prologi' und des ,Opus expositionum'. Ein anderes buoch, das er auch mit gutem Recht ,sîn' nennen konnte, war das Exemplar der lateinischen Sermones. In den beiden angeführten Zitaten spricht Eckhart von deutschen Notizen, die er in ,sîn buoch' eingetragen hat. Es kann sich nur um das Entwurfsheft für seine deutschen Predigten handeln.
Nehmen wir einmal an, ein solches buoch mit den ,Reden', dem ,Liber Benedictas' den Predigten habe existiert - wie waren die Materialien in diesem Buch geordnet? Die Antwort ist nahe liegend: in der liturgischen Ordnung De tempore und De sanctis." (Sturlese 2005: 403).
Ich bin überzeugt, daß Sturlese recht hat, mahne bei der Interpretation gerade der Stelle an der Eckhart sagt, daß ihm etwas so wol behagete, daz [er] ez in [s]în buoch schreip (s.o.), aber zur Vorsicht. Denn was Eckhart über Bücher sagt, gibt mir zu denken:
Moyses hâte gemachet vier buoch, diu nütze wären. Dar nâch mahte er daz vünfte. Daz was daz minste [!] und daz beste, und hiez ez die wârheit von aller der schrift. Daz gebôt got und Moyses ze legenne in die arche. Sant Augustinus machete ouch vil büecher. Ze leste machete er ouch ein kleinez buochelîn, [gemeint sind die 'Retractationum libri duo'] in dem was geschriben allez, daz man in den andern niht verstân enkunde. Daz hâte er alle zît mit im und bî im und was im daz liebeste. Alsô ist ez zemâle umbe den menschen: den hât got gemachet als ein hantbuoch, dâ er în sihet und dâ er mite spilet und lust ane hât. (DW IV, 1 Predigt 89: 40, 17-41, 24).
Diese bisher viel zu wenig beachtete Stelle stammt aus der Predigt 89 im neuen Band IV, 1 (den man überhaupt seltsam wenig rezipiert). Natürlich läßt sich die Vermutung nicht beweisen: Aber kann es nicht sein (oder ist es nicht sogar wahrscheinlich?), daß ein Prediger, der so über die Bücher anderer spricht, auch ein kleines, spät angelegtes, schwierige Aussagen prägnant zusammenfassendes,
69 Sturlese 2005: 403 verweist auf Largier Bd. I: 962: „Mit dem Buch wird ein Notizbuch gemeint sein."
prägnante Gedanken aufnehmendes hantbuoch besaß? Oder so: kann (nein, wird!) ein Prediger wie Eckhart nicht all dies besessen haben: sin hantbuoch, ein Arbeitsexemplar der lateinischen und ein Arbeitsexemplar seiner deutschen Predigten?
Eckhart schrieb nicht in den Sand; nur sind seine fixierten Aufzeichnungen heute verloren. Wir sind aber - alle Male -berechtigt, nach dem Stand dieser schriftlichen Aufzeichnungen zu fragen, auch wenn wir uns dafür mit Dominikanern in Erfurt und ihren schlechten Vorlagen, mit Nikolaus von Landau, Lienhart Peuger und Philipp Babinhusen beschäftigen müssen. Die alle waren vor uns auf Eckharts Berg. Und sie kannten die Routen dort oben besser als wir. Mag ja sein, dass Eckharts hantbuoch noch dort liegt.
Literaturverzeichnis
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Anhang 1:
Brei Bremen, Stadtbibl. Ms. c. 18, 47",
Textbestand: (62 - 65) Eyn me ister sprichst daz dy einvnge der sele mit gote ist ede Ire danne dy einvnge ist mens che i ¿eher natur mit gütlicher natur ff an dy einunge menschelicher natur mit got liehe natur dy ist hirumbe daz dy sele mit gote vor eyn igit werde och menscheliche natur dy hat elu-az gro-bis an vr mreinunge, aber dy sele dy ist ein lutergeist vnd got der ist ouch ein lutergeisL Amen.
Kla
Kassel, Landesbibl. u. Murhardsehe BibL Cod. theoL 11XVI^-XVII™ XVII^. Text bestand: (i) Ecce dies ueniunt dich dominus et suscitabo dauit gertnen iustum etc. (3) Jeremie prophete. Nement war die dage komment in den ich vsze deme abpetgrunde miner [IIII™] craft gebere den almehtegen sun der do eyne wisheit ist und gereht vnd gerehtekeit wirket vfertriche. (4) A« sprichet Solomon Ein gut bode von eyme verren lande ist an (Zuchhold: als) ein kule waszer. daz ist gnade des heylegen geystes eynre durstigen sele. die da von der sunden bant verre ist von dem hymelichschen riefte. (6) Wände nach der ahte der sunden so ist der mensche verre von gode. Dar vmme ist ime daz hymmelriche als ein verre fremede lanL (7) Alse sanetus augustinus sprach von ime seiher do er noch vnberet (Zuchhold: unbekeret) was. daz er sich verre ixmt von gode in eyme fremeden lande der vnglicheit In regione dissimilitudinis. (10) Ez ist ein iemerlich ding daz der mensche von deme ist ane den ernit gesin mag. der die aller schonesten creaturen die (die [unterpunktet] der die Kla) got geschaffen hat in dem hymel neme. vz dem gotlichen liehte. vnder deme sie Stent (12) Wände alse nahe als sie vnder deme gotlichen liehte sten. also vilsint sie wonnec-lich vnd lustlich. (13) Vnde were ez godes wille vnd gesiedete er daz sie genummen worden vz deme gotlichen liehte vnd gewiset einre seien, sie en mohte keine wollust dar ane iuiben. danne irgruwe-te do ix> ne vnde erschreke. Dar vmme sprach der prophete dauid Adhere[ II\\lh\re deo honum est etc. Daz obirste gut. daz der mensche gewirken mag daz ist daz er sich halte zu gode. vnd in gotdis willen blibe. ane den er kein gut mag gedun. vnd auch nit sin (Zuchhold: sin nit) en mag. (16) So ist noch iemerlicher daz der mensche ist von deme ane den er kein u?esen gehaben mag daz ist goL daz obirste gut. daz da wesen gibet von deme spricltei plato in thymeo; Deus est summum bonum ultra ornnem substantiam. omnem naturam quem cuncta expetunt cum ipse sit plene perfectionis et nullius societatis indignus (Zuchhold: indigens), Er sprichet got ist daz obirste gut daz da ist vber alles wesen. vnde vber alle nature die (Zuchhold; den) alle ding begerint vnde er niemannes bedarf. (18) So ist ez aller iemerlichste daz der mensche ist ane den, der sine ewege selekeit ist (39) [XVP*] wände do der mensche vszer dem paradyse gestoszen wart da satzete got da vor drierleye hude. Die eyne was engelsche nature. Die andere was ein swert daz da zu beden siten sneit. Die dritte u>as. daz daz swert Jfireg was. (41) Engelsche nature bezeichent luterkeit godes. wände da der
/
wäre gotdes aun i he sus Christus quam vf daz erlriche. der ein ¡Itter Spiegel ist uneßecken. Da hrah-i€ (Zach hold; brach) er die erste hude vf vnde hrahte vn schult vnd luterkeit in mensiiehe nature, tf daz ertriche. (+5) dazfurege s werf bezeichent die gotlicheJSrege mirvœ. une die der mensche nk mag zu hyrnrne! kommen die brühte der gotdes sun mit i me m d [XVIl'a}Z>rEic/? die dritte Hude xf, wände er ha'de mit der seihen imrmen tien menschen lieb e dun er geboren wart, vnde Jeremias; Cantate perpetua diiexi ie etc. (49) Die andere hude was daz saidende sweri daz was menslicht iamerkeil die nam unser kerre vfsich ait de me hohesten. Dar vmme sprichst Ysaias: lere (angiwnt% , muiros tpse tu lit etc.. Er sprie hei gai der fiât dandi rm literlichen. Rehden, vnd hui vnser sundc \w dlieget vnd hat mi* sime menslirhgrne iidenr vnser ftwrgrz liden abe genomen. Dar vinme íü ist nß der hymmei tffert ane alierleye bilde, daz der mensche kündichen mag gen zugot.de. mit gotlxcher mimten. (55) [XV II'*] Wir lesen in dem ewangelio. daz der enge! rûrte in einre stunde daz umzest do von gewan ez so grrisze traft daz ez die lude gestielt mähte, von aUerieye suchte, vnde daz uxis eût grosz ding, vil groszer ist daz got des s un riírte mens lie he nature in vnser \:raturen hhe. do ix<n isf alle menslich nature se leg wordc. (59) S och grosz er selekeyt ist daz. daz got mit sime libe rurte ¿irt waszer in derne Jardane. da er geteufet wart da mide hat er crafi gegeben allen i&aszeren. also dar (Zuchhoîd; also \daz\ der) getaufte mensche gereineget wirt. von allen sunden. (62) Aber nodt grosz er seieheil ist daz. daz got den swndere vfertriche alle zit ruret mit sinre gütlichen gnaden mit manet en zu be szerlinge (Zucnhoïd; beke range) sin re sunden. vnd vorbaz me die sunde lasze vmt daz gf aie du. daz er deylhefte g werde des hymmelchen (Zuchhold: hy m me Ischen) riches daz ist 4k obirste selekeif,
Abdruck der beiden Textstücke: Hans ¿iicîiholdT Des Nikolaus von Landau Se on orte ¿h Quelle für die Predigt Meister Eckharre und seines Kreises (Hermaea ÏÎ), Halle/Saale 19ö5t Nr. 15, S. 84,57-№,2$: Nr. 2t, S. 94.8- Í 4. 20-24. 15-19. 24-25; Nr. 21, S. 9626 - 97t4.
Me2 Melk, BibL d> Benedi ktmemifts Cod. 705 (olim 37Í/G 33), 514^-515™.
Texibestand. (5) Darvmb spricht gut durch den weissagen Jeremiam. Nembl ward y tag sind chamen das ich den sam Datais u il erwekchen vnd dyfruckt sol weis sein vnd sol vruäi vinden mdmff erden grechtichmt machen. (4) Der Salomon spricht der guet por von eitn verren latmt ist als em chahs uazzt'r eim durstigen menschen, pey dem verren lanrit ist ein yeder siinter pedewt der gar verr vom himel ist zu dem sein guete polschafft lâgleich chötnen solt stater rew vnd andockt gueter werck. (7} Vnd also spricht auch sandAugenstin von im selber da er noch nicht pechertuas da cand er sich txin got in eim verren lanrit der vngleichait (tí)) Dar vmb ist es ein parmchleich ding, so em mensch an das guet ist andas er got nicht gefallen mag (12) if'ann als verr als alle dingvnterdem gMleurhen her hl Stenn als vif sind sy lustig vnd ge vele h le ir h. wann so eitwer uider einn andern tuet so nymbt er einn gueten Jrewttf zw im der im das hilfft verrichten. So aber ein mensch wider got tuet der so vnmesleicä hsch ist das man chaina menschen vinden mag der es pessern müg tVann noch des fierren wirdichait wider den man tuet mues dy pessrung sein. (19) Dar vmb ist das ein guete potschafft gwesen da [3i4rÄj twi ieremias spricht. Nembt war dy tag sind chörnen das Christus & ä mensch wem von dem geslácht Dauits. Wann es ist m ügleicher das himel vnd erden rergenn dandy wart gots. (20) Wann da dy alien vàter das eilend erchannten dar inn sy warn da schriern sy rut grazzer pegier zw got das er cham vnd sy erlöst. (¿4) Dar vmh was dy guet polschafft alsein chai tí wazzer einer dürsting sei dy grazze pegter nach got hat (29) Dar vmb spricht sand pauls dersun gots ist i?ns gehen zw eim vorsprechen der des vaters Weisheit ist. (3i) Er ist vns auch gehen zw eim vorvechter des sigs in allen vnsern nöten. Dar vmb sol sich der mensch legen in dy wmtten vnsen kerren ihesu Christi vnd enphelich sich seiner marier das er in oppher sein? himlischen vater tewn in dem mag er den sünter nicht au s slahen an den sun. (35) l nd mag auch nicht wider in f zUrnen seit er den seihen gwalt vnd weishait hat den der vater hat. ff 'ann der sun hat vns so teuer mit seim pittern toderarnt vnd c fmwfft mit seim heiligen phiet das in der vater vmh vns nicht vertzeihen ma§
(36) Vnd vmb das mag der sUnter allzeit sicher zw got lawffen vnd mag mit rew in seim sun pitten Vergebung seiner schuld Aber wer das versmacht ze tuen, der gel gein he IL Hann der tod ihesu Christi chümbt nyemt zw staten an guete ßeissige vnd vermügunde werch (59) Hann da der mensch am anvang [314rV'j au s dem paradeis verstözzen ward da setzt got einn engel daßir mit eirn fewreinn tzwisneidunden swert zw einer huet (41) Pey des engels huet sol man versten dy lote tri chait vnd rainchait dy der mensch nicht het Vnd da der sun gots aufferden cham der ein spie gel an rnail ist vnd ein pild des hlmlischen iraters an dem man den willen gots gantz erckennen mag der zw stört dy erst huet vndpracht ims tmschuld auf erden in menschleicher natur. (45) Pey dem fewri-gen swert sol man versten dyfewrig lieh gots an dy chain mensch zwm himel chörnen mag. (49) Vnd pey dem tzwisneidunden swert sol man versten vnser armuet dar in wir gevallen warn, Dy selb vnser armuet mit vnsern sünten nam der herr Christus awjjsich (52) vnd vertiligt dy vnd pehielt vns, Vnd mit dem ward das reich der himel auff tan also das ein yeder mensch mit rew vnd puezz da hin chörnen mag. (55) Mann seit das wazzer so chreftig ward das der engel zw gesalzter tzeit rüert welher mensch der erst dar in cham das er von seiner chrankchait gesunt wart So ist vns vil grösserr gesunt c hörnen da vns der sun gots pe rüert hat mit dem an sich nemen menschleicher natur au s dem rainn leichnam marie der iunchfrawn durch das menschleich natur ist hail vnd sälig warn. (59) Noch grözzer sälig ist das [315ra] ihesus Christus vnser herr mit seiner aigen natur hat pe rüert das wazzer im iordan da er taufft wart da mit er allen wazzern luit ehr äfft geben wer dar inn taufft wirt nach rechter arnung der wirt erledigt von den anparn sünten (62) Vnd dy aller grözzt säheh ait ist so got geoffent vnd in der sei parn wirt an einer geistleichen ainung. Wann da von wirt dy sei säliger dann der leichnam Christi (64) Wann ein sälige sei ist edler darut sein rodle icher leichnam. (66) Vnd dar vmb ist dy inwendig purd gots an der sei ein volpringen aller irr sälichaitVnd dy sMichail frumbt ir mer dem das Christus mensch wart vnd das wazzer in der tauffan rüert Wann dy ding möchten der sei nicht frumen an dy verainung gots
Me3a Melk, Bibl. d. Benediktinerstifts Cod. 1569 (olim 615/L 27), 97r.
Textbestand: (62) Dy lerer sprechen das der sei sälichait an dem grösser sey so got in ir sich selber perl an leipleiche ainung dann der leichnam Christi an sein gothait vnd an sein sei. (64) Wann ein yede sälige sei ist edler dann der tödleich leichnam Christi, (66) Wann dy inwendig gepurd gots in der sei ist ein volpringung aller irer sälichait Wann dy sälichait frumbt ir mer dann das Christus mensch ward. Vnd das hiet der sei nicht mügen nutz sein an dy verainung gots. Das Textstück wurde von Leonhard Pewger dem Traktat III 'Von der sele werdikeit und eigenschaft* (Pf. II, S. 396,39 - 397,4) eingefügt.
Me3b Melk, Bibl d. Benediktinerstifts Cod. 1569 (olim 615/L 27), 171p-l72r.
Textbestand: (59) Auch ist das ein grasse sälichait das der herr ihesus Christus mit seiner aigen natur das wazzer im iordan perüert hat da er taufft wart da mit er allen wassern hat chrajft gelten. Wer dar inn tau fft wirt nach rechter arnung der wirt erledigt von den anparn sünten. (62) Aber das aller grosst ist so sich got offenbart vnd in der sei parn wirt in geistleicher ainung. Wann da von wirt dy sei säliger dann der leichnam Christi Wann ein sälige sei ist edler dan sein tödleicher leichnam. (66) Vnd dar vmb ist dy inwendig purd gots an der sei ein volpringung aller irer sälichait Vnd dy sälichait frumt ir mer [ 172'] dann das Christus mensch wart vnd das wasser in der tawffanrüert Wann dy ding möchten der sei nichts frumen an dy ainung gots.
Me8 Melk, Bibl. d. Benediktinerstifts Cod. 856, 179'-180'.
Textbestand: (59) Vnd das ist auch ein grasse sälichait das der herr ihesus Christus mit seiner aigen natur das wasser im iordan perüert hat da er tawfft wart da mit er allen wassern hat chrafft geben. Wer dar inn taufft wirt nach rechter arnung der wirt erledigt von den anparn sünten. (62) Aber das aller grözzt ist so sich got offenbart vnd in der sei parn wirt in geistleicher ainung. Wann da von wirt dy sei säliger dann der leichnam Christi. Wann ein sälige sei ist edler dann sein tödleicher leichnam, (66) Vnd dar vmb ist dy inwendig purd gots an der sei ein volpringen aller irer sälkheit Vnd
dy sälichait frumbt ir mer dann das Christus mensch wart vnd das wazzer in der tauffan rüert Wann dy ding möchten der sei nichts frumen an die ainung gots.
St6 Stuttgart. Wöitterobergisciie Landesbibl. Cod. iheöi. et ptitlus. 4" 88. 5r-5".
Teixtbestai-d-- [5*3 und sprach niement mar. die tag kommen! in den ich wer dem sb grünt miner krtzfft gelier den almechtigen mm der da die war miszhek ist tmd ist perecht and niretet gerechlikaavfferdrir.h. (4) Nun spricht Sainmoti Am guter bat von amem verren hat islbytkmii tenuiasser, das ¡sidie pttiddes kailigen gmstes aincrdurstigen sei die da von der súnáuxgenierre ist um dem hymehchiichm rieh. (6) wann nach der acta dersúnden sc ist der mensch terra vengM in ninem fremden land, durvmb ist jm das hymmebich als ain fremdes verres land (7) Als viudas Augustinus sprach von jm selber do er noch rnhecayt a as do vand er sieh fierre von gott m itrau fremden lard der vngeiicheit (10) Ks in uaijhmeríich ding des der mensch ihr dem ist an den er nitgesm mag. der die aller schönste creatur die gott geschaffen [5*] haut in dem hymel aetntszdem liecht aider dem sie siend -twin ye net her sie stead vnder dem gódicken Hecht sí' vi! -ynt :ie wunnigiwher vnd lastiger. (15) Wer es denn gotles uñl!e vrtd terkengt es den duz sie genommen würden vsz item gótlichen liec ht vnd geuiset aitier sei sie enmaeht kainen wolltest dar an gehoben denn ir grauet da ton und erscreck. Darvmi spnach der prophet dauid. Das crbtvst gat lins der mensch gewürken mag das das er sieh halt zú gott und in gottes mitten belitre on den er kam « mag gtum vnd auch ort jn riit mag gesin (16) So ist es noch ¡Ámerlicher das der mensch est soa dem on den er isiit weszen gehalten mag das ist gott das ébrost glitt das da mesen gU. Von in spricht plato in thy mea got ist das óhrost gut das de ist über alies wesen end úber elle ruttur die dk ding hegeretui und er bedarjfruemans. ( ig} So ist das noch das aller jhntsrlichost des der mensch ntt on den der s in ewige sdlikait zu dem der mensch teol rndgar üchlenglichen kommen mag mit guten werken
Anhang 2:
Meister Eckhart, DW IV,1 - Predigt Nr. 87 (S. 20,1-24,38)
Ecce, dies veniunt, dicit dominus, et suscitabo David germen iustum.
Zuschreibungen: .j. (am linken Rand O; fehlt H2) Ecce dies veniunt. Jn disir predigade wisit (bewiset H2) mester eckart (Echard H2) der aide der grozin nuz der zukunft vnsis (vnsers H2) herren wan for der zit muystin alle lude zu der helle, aber nu gnugit gode lichtliche (lichtecliche. H2) wan mit eyme reinen herzin ist ez gnuc O, H2 (Inhaltsverzeichnis: O fol. 1ra [Par. an. S. 1], H2 fol. 1r); Ein predig vom advent Maister Ekcharts von paris Me2 (Überschrift zu der als eine einzige Predigt ausgewiesenen Textkompilation fol. 313ra-319vb, in der sich fol. 314rb-315ra die Predigt 87 gekürzt aufgenommen findet.)
Vgl. Ier. 23,5: Ecce dies veniunt, ait Dominus, et suscitabo David germen iustum; et regnabit rex, et sapiens erit, et faciet iudicium et iustitiam in terra. Der Schrifttext ist nach dem alten DominikanerMissale der Lectio der Messe des 25. Sonntags nach Trinitatis entnommen. Er liegt auch dem Sermo LI n.517-520, LWIV, S. 432435 zugrunde.
Disiu wort sprichet Jeremias: 'nemet war, die tage koment, sprichet der herre, und ich wil erwecken die gerehten wurzeln Dâvîdes'. Salomon sprichet: 'ein guot bote von 5 einem | verren lande ist als ein kalt wazzer einer durstigen sêle'.
Nâch der ahte der sünde sô ist der mensche verre von gote. Dar umbe ist im daz himel-|rîche als ein verre vremde lant, und was dieser bote von dem himele. Sant Augustinus sprichet | von im selber, dô er noch unbekêret was, daz er sich verre vant von gote in einem vremden | lande der unglîcheit.
10 Ez ist ein j#merlich dinc, daz der mensche von dem ist, âne den er niht s#lic gesîn enmac. | N#me man die allerschœnsten crêatûren, die got geschaffen hât, ûz dem götlichen liehte, | dâ sie under stânt - wan als verre als alliu dinc under dem götlichen liehte stânt, als | verre sint sie lustlich und behegelich, - und w#re ez gotes wille und gestatete er ez, daz sie | wurden genomen ûz dem götlichen liehte und wurden gewiset 15 einer sêle, si enmohte deheine | wollust noch behagunge an in gehaben, sunder ir müeste dâ vor grûwen.
17 Noch j#merlicher ist daz, daz der mensche von dem ist, âne er kein wesen gehaben | mac.
Aller j#merlichest ist daz, daz er von dem ist, der sin êwige s#licheit ist. |
Dar umbe was daz ein guot botschaft, daz der prophête sprichet: 'sehet, die tage 20 koment, sprichet der herre, und ich wil erwecken die gerehten wurzeln Dâvides'. Dô die alten | veter bekanten daz jâmer, dâ sie inne wâren, dô schrieten sie mit ir begerunge in den himel | und wurden in got gezogen mit irm geiste und lâsen in 23 götlicher wisheit, daz got geborn solte | werden.
Dar umbe was diu guote botschaft als 'ein kalt wazzer einer durstigen sêle'. Wan daz 25 ist | wâr, daz got gibet sin himelriche umbe einen kalten trunk wazzers und an einem guoten | herzen. Dâ mite ist ez genuoc. Und ich nime ez ûf min sêle: Wer einen guoten gedank | opfert in der êwigen minne, dâ got inne mensche ist worden, der wirt behalten. 28 Dar umbe | endarf der mensche niht vorhten den tiuvel noch die werlt noch sin eigen vleisch noch unsern | herren got. Wan sant Paulus sprichet: der sun ist uns gegeben ze 30 einem vorsprechen, der ein | wisheit ist des vaters, der sol wisliche rede geben vür alle unser tôrheit und missetât. Sant | Paulus sprichet ouch: er ist uns gegeben ze einem vorveht#re, der vür uns sigevehten sol in | aller unser nôt. Wir suln beiten, der himelische vater muoz unser gebet enpfâhen oder niht. | Wolte der vater gegen uns urliugen, er envermohte ez niht, wan diu selbe gewalt und wisheit, | die der vater hât, 35 die hât der sun glich mit im, der uns genzliche gegeben ist ze einem vorfeh|taere und hât uns sô tiure erarnet, daz er uns niht verlâzen enwil. Und der vater enmac im niht | versagen, wan er sin wisheit ist. Er enmac ouch gegen im niht gevehten, wan er sin kraft ist. Dar | umbe endarf der mensche niht vorhten got, er enmüge mit allen sinen 38 sachen küenliche ze |gote gân.
1 Ecce... 2 iustum X / Ecce dies veniunt etc. K2, fehlt Lo4, Me2, St6 3 Dise wort sprichit Jeremias X1 / Jeremie prophete K1a; Der prophet spricht K2; DEr prophete Jeremias schribet Lo4; Dar vmb spricht got durch den weissagen Jeremiam Me2 3 Nemit war X, Me2 / Set Y1 3 kumint X / sind komen Y 3 sprichit der herre X1 / sprichit got Y, fehlt K1a, St6 3 vnd X1 / in den K1a, St6; das Me2, fehlt Y1 4 wil ir weckin di gerechtin worzelin dauidis X1 / wel irwecken dy frücht adir den samen dauid Y1; den sam Dauits wil erwekchen Me2; vsze deme abpetgrunde miner craft gebere den
almehtegen sun K1a, St6 4 nach Davides: Vnd dy frucht sal wise sin vnd sal vinden orteil (vrtail vinden Me2) vnd machen gerechtikeit in ertriche (machen.. .ertriche / awff erden grechtichait machen Me2) Y1, Me2; der do eyne (eyne / die war St6) wisheit ist vnd gereht vnd gerehtekeit wirket (würcket gerechtikait St6) vf ertriche K1a, St6 4 Salomon sprichit X1 / Nu sprichet Salomon K1a, St6; Oüch spricht her (K2, er Lo4) salomon das Y1; Der Salomon spricht Me2 5 also ein Y / also X1; an ein K1a; by dem St6 7 also ein Y1, K1a, St6 / alse X1; pey dem Me2 7 vnd was deser bote von (vom K2) hymmele Y1 / vnd disir bode Jeremias was fon deme himmile X1, fehlt K1a, St6, Me2 8 vnbekart X1 / nicht pechert Me2; vnbekant Y1; vnberet K1a; vnberayt St68 daz her sich verre vant X1, K1a / das er sich vand (vand fehlt K2) verre Y1; da vand er sich Me2; do vand er sich verre St6 9 vnglicheit X, Me2 / vnglichnisse Y1 10 der K1a, St6, Y1 / ein X1, Me2 10 von deme ist X, Lo4 / van gode ist K2; an das guet ist Me2 10 selic ge sin in mac X1 / behegelich mag gesin (sin K2) Y (gevallen mag Me2); gesin mag K1a, St6 13 lustlich
(lusteclich Lo4) vnd behegelich X1, Y1 / lustig vnd gevelchleich Me2; wonneclich vnd lustlich K1a, St6 13 vnd [3] X / adir Y1; Lücke Me2 14 einer sele X / eyner der mynsten sele Y1; Lücke Me2 14 sy Lo4, K1a, St6 / so X1, K2; Lücke Me2 14f. keyne wollust noch behagunge an ön (an ön fehlt K2) Y1 / keine wolust dar ane X; Lücke Me2 15 ge haben X1, St6 / haben Y1, K1a; Lücke Me2 16 daz daz X1, Lo4 / daz K2, K1a, St6; Lücke Me2 16 der Y1, K1a, St6 / ein X1; Lücke Me2 18 daz daz X1, Lo4 / dasz K2, K1a, St6; Lücke Me218 nach der sin ewige s#licheit ist: Vnnd so krang ist (ich K2) worden (worde K2) das er von siner (aller siner K2) eygen craft nummer (nicht K2) wedir czü gote komen mag Vnd oüch nicht weis (enweisz K2) wy (wo K2) er wider czü öm komen sal. das clait (claget K2) er dauid vnd spricht Jch ben verre von gote wan ich in den sünden geborn ben vnd ben so krang worden das ich von myner craft nicht (von.. .nicht / nicht von miner krafft K2) wider czü gote komen mag (komen mag / kan kommen K2) Vnd habe dy oügen vorlorn das ich nicht weis (en weysz K2) wo ich wedir czü öm komen mag. Ein gut man der spricht (der spricht / sprach K2) in hern (hern K2, er Lo4) Jacobs (Johans K2) buch Bricht (sprichet K2) ein mensche wider den andern da (da god K2) mag er eyn menschen (eyn menschen / eynen K2) czü vinden der öm das helffe (hilffet K2) bessern. Bricht aber der mensche wider den (den / god K2) der ist so hö (hoch K2) vnnd so vn messig (vnmeszlich K2) das man kein menschen darczü vinden (binden K2) kan der das gebessern moge wan noch (nach K2) der werdikeit (edelkeit K2) des hern an dem
man (an dame me K2) missetüt so (missetüt so / messehelt dasz K2) müs sin dy besserunge Y1; von Vnnd so krang ist bis Jacobs buch Lücke Me2; dann: wann so ettwer wider einn andern tuet so nymbt er einn gueten frewnt zw im der im das hilfft verrichten. So aber ein mensch wider got tuet der so vnmesleich hach ist das man chainn menschen vinden mag der es pessern müg. Wann nach des herren wirdichait wider den man tuet mues dy pessrung sein Me2, fehlt 19 Sehit X1, Y1 / Nembt war Me2; Lücke K1a, St6 20 cumint X1 / sind komen Y; Lücke K1a, ST6 20 nach cumint: etc. X1 20 sprichet der herre, und ich wil erwecken die gerehten wurzeln Davides (vgl. Z. 3f.) / spricht got das got geborn wel (wolde K2) werden von dem samen dauids Y1; das Christus wil mensch wern von dem geslacht Dauits Me2; etc. X1 20 nach Davides: Daz ist dasz (Daz ist dasz K2 / das es Lo4) got selbir gesprochen hat das ist ein groz ding mogelicher ist das daz (das daz Lo4 / dasz sich die K2) hymel vnd erde sich70 wandele dan dy wort vnsers hern gewandelt morgen71 (fehlt K2) werden Y1; Wann es ist mügleicher das himel vnd erden vergenn dan dy wart gots Me2, fehlt X 21 si inne X1 / inn sy Me2; sy an Y1; Lücke K1a, St6 21 begerunge X1, K2 / gerünge Lo4; pegier Me2; Lücke K1a, St6 21 in den himmil X1 / in das hymmilrich Y1, fehlt Me272; Lücke K1a, St6 22 geczogen Y1 / ge gozzin X1; Lücke Me2, K1a, St6 22 solde X1 / wolde Y1; Lücke Me2, K1a, St6 23 nach werden: in (in fehlt K2) menschlicher natur der vns losen solde von aller (alle K2) vnser iamerkeit (jemerlichkeit K2) Y1; das er cham vnd sy erlöst Me2 24 ein Y, fehlt X 24 wan daz ist X1 / ouch ist das Y1; Lücke Me2, K1a, St6 2527 daz got gibit sin himmilriche vmme einen kalden drunc wazzers vnd an eime gudin herzin da mide ist ez gnuc vnd wer einen guden gedanc opperit in der ewigin minne da got inne mensche ist worden der wirt behaldin X1 / Wer eyn trünk kaldes wassers gebit sime eben cristen in der ewigen libe da got mensche ynne worde ist dem werden alle sine sünde vor geben Vnd ich nemes (nemes / meyn ez ouch K2) uff myne sele Wer eynen guten gedanken vnserm hern gote (eynen... gote / eyn guden gedancken gode K2) opphert in der ewigen libe der wirt behalden Y1; Lücke Me2, K1a, St6 26 Vnd ich nemes (nemes/meyn ez ouch K2) uff myne sele Y1, fehlt X1; Lücke K1a, Me2 28f. noch vnsin herrin got X1 / noch (noch K2,
70 dass sich die hummel und erden wandel dan. So Sievers!
71 mogen Lo4!
72 zw got Me2!
Joch Lo4) vnsern hern (hern K2, fehlt Lo4) got darff er (endarff he K2) nicht vorchten Y1; Lücke Me2, K1a, St6 29 wan sente Pauwel spricht Y1 / S't paulus sprichit X1; Dar vmb spricht sant pauls Me2; Lücke K1a, St6 29 der son (son / sun gots Me2) ist vns gegebin (geben Me2) X1, Me2 / das vns der son ist gegeben (geben ist K2) Y1; Lücke K1a, St6 29 der [2] Y / di X1; Lücke K1a, St6 30 des Y / sines X1; Lücke K1a, St6 30f. Sente (S' O; sente Strauch) paulus sprichit ouch X1 / Andirs wo spricht dy schrift Y1, fehlt Me2; Lücke K1a, St6 31 her ist vns (vns auch Me2) gegebin (geben Me2) X1, Me2 / das er vns gegeben ist (ist gegeben K2) Y1; Lücke K1a, St6 32 Wir sullin beiden (beide H2, beid^e O) der himmillische vadir muisz vnse (vnser H2) gebeit (gebet H2) inphain odir nicht X1 / Wiszt ir wy der mensche ettiswan gedenken (gedencket K2) vnd beten (biden K2) sal Er sal (sal fehlt K2) vor (über der Zeile Lo4; fehlt K2) sich vnd vor wen er beten (bidden K2) wel mit allen sin (sinen K2) sünden vnd gebrechen legen in dy wunden vnsers hern ihesu Christi vnd sal sich vnwirdig dünken vnd sal sich beveln der wirdigen martir vnsers hern ihesu Christi vnd sal sich opphern (opphern K2, oppher Lo4) deme hymmilische (hummelschen K2) vater vnd ( vnd K2, an Lo4) sine heylige sune (syme heiligen son K2). antwedir der hymmilische vater der müsz sy beide enphan adir nicht Y1; Dar vmb sol sich der mensch legen in dy wunten vnsers herren ihesu Christi vnd enphelich sich seiner marter das er in oppher seim himlischen vater wann in dem mag er den sünter nicht aws slahen an den sun Me2; Lücke K1a, St6 33 keyn vns vrlegen Lo4 / legen vnd en lengen K2; gegin vns vechtin X1; Lücke Me2, K1a, St6 33 wan di selbe ge walt X1, Lo4 / wol der selbe gewalt K2; seit er den selben gwalt Me2; Lücke K1a, St636 auch gegin eme (en K2) nit H2, K2 / ouch nicht gegin ime O; keyn (key über der Zeile) vns ouch nicht Lo4; Lücke Me2, K1a, St6 37 nicht forten (forchten H2) got X1 / got nicht vorchten Lo4; nicht fochten K2; Lücke Me2, K1a, St6.