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Rainer Stahl
Die lutherische Kirche in der Gemeinschaft der anderen christlichen Konfessionen und der anderen Religionen1
1. Was war das Wesen der lutherischen Reformation vor fast über 500 Jahren? Immer wieder wurde damals und wird bis heute die damalige Form der römisch-katholischen Kirche und Theologie der „alte Glaube" genannt und die reformatorische Kirche und ihre Theologie der „neue Glaube" genannt.
Aber entsprechend dem eigenen Verständnis seitens der Reformatoren ging es darum, inzwischen eingetretene Veränderungen und Erneuerungen in Theologie und Kirche zu überwinden. Es ging darum, wieder zu den Quellen, zu den klaren Ursprüngen des Christentums zurück zu kommen. Zurück zu kommen zu den Ursprüngen, wie sie in den Altkirchlichen Glaubensbekenntnissen wiedergegeben sind, wie sie in den Zeugnissen der biblischen Texte, des Neuen und des Alten Testaments, gegeben sind.
Martin Luther hat das selbst 1541 so gesagt: „Wie aber, wenn ich beweise, dass wir bei der rechten, alten Kirche geblieben sind, ja dass wir die rechte, alte Kirche sind, ihr aber von uns, das ist von der alten Kirche, abtrünnig geworden seid und eine neue Kirche angerichtet habt gegen die alte Kirche"2.
2. Was heißt es, die rechte, alte Kirche sein zu wollen? Es heißt, das Zentrale des christlichen Glaubens zu erkennen, es als dieses
1 Vortrag in Ufa, 13.11.2010.
2 Martin Luther. Wider Hans Worst (1541) // D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe / Hrsg. von J.K.F. Knaake et al. Bd 51: Predigten 1545/46; Auslegung des 23. und 101. Psalms 1534/36; Schriften 1540/41; Sprichwörter-Sammlung. Weimar, 1914. S. 478, 479.
Zentrale selber anzuerkennen und es bei allen Entscheidungen und praktischen Veränderungen auch als das Zentrale für die Kirche heute sein zu lassen.
Das Zentrale ist die Bedeutung des Jesus Christus, sein Predigen, sein Leiden, sein Sterben, sein Auferstehen. Das ist die Mitte unseres Glaubens.
Auch hier kann ich Martin Luther selbst zitieren. In einer Predigt zu Matthäus 16,13-19 im Juni 1522 hat er die entscheidenden Akzente herausgearbeitet: „Wo also nur Vernunft ist und »Fleisch und Blut«, die können nicht weiter Christum begreifen als allein für einen heiligen, frommen Mann, der von sich ein fein Exempel gebe, dem nachzufolgen sei. ... Nun, wer ihn so annimmt, allein für ein Exempel eines guten Lebens, dem ist der Himmel noch verschlossen und er hat Christum noch nicht ergriffen, noch erkannt. Das andere Verständnis von Christus ist das ...: »nicht einer, der anderen vorangeht. Es ist noch viel höher mit dir: du bist Christus, der heilige Gottessohn«" (Sermon von der Gewalt Sankt Peters, 29. Juni 1522)3.
Dieselbe Wahrheit kann ich auch orthodox ausdrücken, indem ich hinweise auf das „nicht mit Händen gemalte Bild", auf das «нерукотворный образъ», zum Beispiel über dem Eingang der Erlöserkathedrale, der Спасского Храма, hier in Ufa. Da ist in Bildform dargestellt, was Luther inhaltlich gesagt hat. Dort also, wo wir Lutheraner ganz bei unserer Sache sind, da sind wir christlich, da sind wir wirklich altkirchlich.
3. Durch diese Rückbindung zum Original, durch diesen strikten Bezug auf die Mitte, auf das Zentrum unseres christlichen Glaubens, sind nun zugleich für die damalige Zeit vor fast 500 Jahren ganz neue Dinge angestoßen worden:
3.1. Lutheranerinnen und Lutheraner sind Menschen, die in einem ganz neuen Freiheitsbewusstsein leben.
Der Vater Martin Luthers hieß Hans Luder. Und so war auch der Familienname Luthers eigentlich „Luder". Aber im Zusammenhang mit der Vorlage seiner 95 Thesen im Herbst 1517 hat er diesen seinen Familiennamen geringfügig geändert — und damit eine grundlegende Veränderung zum Ausdruck gebracht: Er nannte sich nun „Luther". Das „th" im Namen hat er
3 Zitiert nach: Zeitschrift der Luther-Gesellschaft. 1995. N 66. S. 2.
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m vom griechischen Wort „eleutheros" genommen. Und das heißt: der
u Befreite. So zeigt er mit seinem Namen bis heute an: Nicht nur er,
fcj wir alle sind Befreite!
O Sein ganzes Lebenswerk ist nichts anderes, als zu zeigen, wieso
^ wir befreit sind und wozu wir befreit sind. Seine Schrift „Von der
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o Freiheit eines Christenmenschen" aus dem Jahr 1520 beginnt mit einer g Doppelthese, die dem Thema Freiheit gewidmet ist: „Ein Christ ist ein ^ freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan." Und: „Ein Christ g ist ein dienstbarer Knecht in allen Dingen, und jedermann untertan"4. ^ Die Ausstellung im Lutherhaus in Eisenach war bisher
^ so konzipiert (sie wird jetzt umgebaut),5 dass beide Thesen bewusst Pm eingesetzt sind: Wer das Lutherhaus betritt, kann gegenüber der Tür die erste These lesen: Die gesamte Ausstellung zeigt nun, worin diese Freiheit ihre Gründe hat und worin sie besteht. Wer am Ende die Ausstellung und das Lutherhaus wieder verlässt, liest nun über dem Ausgang die zweite These. Denn im Leben, im Miteinander mit den Mitmenschen, in Familie, Beruf, Arbeit, da zeichnet eine Christin oder einen Christen nur eines aus, dass nämlich sie oder er zum Dienst für andere bereit sind.
3.2. Ganz logisch ergibt sich die nächste Einsicht: Das tägliche und normale Leben ist der Ort, in dem wir unser Christsein bewähren. In der Kirche des 16. Jahrhunderts in Westeuropa wurde das Leben als Priester, als Mönch und als Nonne als höchster Inbegriff christlicher Lebensführung verstanden. Dagegen hat Luther das Leben als Handwerker, als Bauer, als Familienvater, als Hausfrau und Mutter, als Magd und Knecht, als Bergmann, als Soldat, als Polizist als die „Orte" verstanden, in denen wir täglich mit unserer Lebensführung Gottesdienst feiern.
Das meine ich im Sinne der Aussage des Apostels Paulus in seinem Römerbrief, den er im Jahr 56 nach Christus aus Korinth geschrieben hatte: „Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer... Das sei euer vernünftiger Gottesdienst" (Römer 12,1).
4 Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520 // D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe / Hrsg. von J.K.F. Knaake et al. Bd 7. Weimar, 1886. S. 20-22.
5 Hinweis für das Jahr 2014.
Im Alltag der Welt Gottesdienst feiern — dazu hat uns e Luther befreit und hat damit gleichzeitig alle alltägliche Arbeit l in besonderer Weise geheiligt, sie zu Zeiten und Stätten des t
Gottesdienstes erklärt! e
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6 Philipp Melanchthon. Briefe für Europa. Internationale Wanderausstellung zum 500. Geburts-tag Philipp Melanchthons / Hrsg. vom Melanchthon-haus: 2. Aufl. Budapest, 1999.
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3.3. Hierzu gehört auch die Hochschätzung und völlig neue Profilierung der Bildung, der Erziehung. Die Reformation von Wittenberg hat die schulische Erziehung für Jungen und ¡k Mädchen völlig neu gestaltet und auf ein neues, noch nicht c da gewesenes Niveau gehoben. In diesem Zusammenhang übrigens E wurde damals schon die Grundlage dafür gelegt, dass auch Frauen n beruflich tätig wurden — auch in der Kirche: So wurden Hebammen E mit der Grundverantwortung des Glaubens vertraut gemacht und
zum Taufen schwacher Kinder befähigt. So wurden Lehrerinnen E für schulische Ausbildung von Mädchen herangebildet! Und es ist E eine logische Folge dieser ersten Veränderungen, dass wir auch s Frauen in das Pfarramt ordinieren. Noch während meines Studiums im Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in Jena habe ich die erste Pfarrerin meiner Heimatkirche kennen gelernt, die 1924 für den Seelsorgdienst in Krankenhäusern ordiniert worden war.
Erlauben Sie mir bitte, dass ich an einen Mitstreiter Luthers besonders erinnere: an Philipp Melanchthon. Für Deutschland hat man ihm den Ehrennamen „Praeceptor Germaniae" - „Lehrer Deutschlands" gegeben. Aber er hat weit über Deutschland hinaus den Auftrag zur Erziehung und zur Organisation von Schulen aufgenommen und voran getragen. So denke ich nur an eine Ausstellung zu seinem 500. Geburtstag 1997 in Ungarn unter der Überschrift „Briefe für Europa — Levelek Euröpänak"6.
3.4. Und als letztes Beispielsei hier aufdie neueVerhältnisbestimmung von Kirche und Welt, von Kirche und Politik hingewiesen, die die Reformation aus Wittenberg mit sich gebracht hat.
Christen Deutschlands, die 1934 im Widerspruch zur Kirchenpolitik und zu theologischen Strömungen in Hitlerdeutschland ihren Glauben bestimmt haben, haben damals in Barmen erklärt:
„Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung
га menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung
и der Kirche erfüllen.
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tj Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich
О die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art,
л staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst
о zu einem Organ des Staates werden"7.
л Merken Sie, meine Damen und Herren, wie diese Sätze auch
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^ in der Sowjetunion treffend gewesen wären? Haben sie nicht auch
« heute noch hohe Aktualität?
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tn Aber, wir dürfen nicht bei der Beschreibung scheinbar zweier
ч selbständiger Bereiche stehen bleiben. Denn es ist Glaube und л Überzeugung der lutherischen Christen, dass diese beiden Bereiche zusammen gehören:
Deshalb gebrauchen wir das Gedankenbild von den „zwei Regierweisen Gottes". Dabei werden in Anlehnung an die beiden Hände des Menschen die Bildbegriffe „rechts" und „links" verwendet: Es handelt der eine Gott. Aber er handelt mit zwei verschiedenen „Händen" — rettend, zum Heil durch Predigt, Sakramentsangebot, Geistgabe mit der „Rechten"; ordnend, strafend, schmerzhaft korrigierend durch Regeln und Ordnungen in der Welt mit der „Linken".
Dieses Handeln Gottes ist nie anonym und mystisch. Er nimmt Menschen und ihr Verhalten und Entscheiden und Handeln für sich in den Dienst. Wer einen anderen Menschen in Not begleitet und ihm Lebensmut vermittelt, kann zum Mitwirkenden der Funktion der „rechten Hand" werden. Wer das Evangelium verkündigt, die Sakramente reicht, stellt sich ganz bewusst in diese Kraftlinie. Wer einen anderen Menschen erzieht, ihm Lebensregeln vermittelt, ihn in Gefahren begleitet, kann zum Mitwirkenden der Funktion der „linken Hand" werden. Wer aus christlicher Verantwortung heraus als Rechtsanwalt, als Richter, als Polizist, als Lehrer arbeitet, stellt sich ganz bewusst in diese Kraftlinie.
4. Diese neuen Selbstdefinitionen haben nun auch Luther und die Kirche seiner Reformation befähigt, anders und neu auf Andersglaubende zuzugehen. Sicher, im 16. Jahrhundert ist zum Teil nur sehr wenig geschehen. Aber es sind doch viele Weichen
7 Evangelisches Gesangbuch: Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen. München, 1994. S. 1580.
neu gestellt worden - auch wenn die Züge dann erst sehr viel später e
auf diesen neuen Schienen wirklich zu neuen Stationen gefahren l
sind (um einmal im Bild zu sprechen). t
Wir müssen die damaligen Ereignisse immer aus der damaligen r
Zeit und aus den Verhaltensweisen in der damaligen Umwelt heraus s
verstehen. Wir dürfen an eine vergangene Zeit nie einfach die Maßstäbe h und Positionen anlegen, die für uns selbstverständlich zu sein scheinen.
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Dies wollen wir nun versuchen und so einige Akzente benennen: r
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4.1. So war es die Wittenberger Reformation, die schon im 16. Jahrhundert zusammen mit der Universität Tübingen, den theologischen Kontakt zum Ökumenischen Patriarchat E in Konstantinopel aufnahm. Und es hat immer vielfältige Kontakte zwischen der Kirche der Reformation und der Orthodoxen Kirche E und auch Ihrer Russischen Orthodoxen Kirche gegeben. e
Ich möchte hier nur ein Beispiel für diese Kontakte benennen: s Ich bin eigentlich DDR-Bürger, bin in der DDR geboren, habe in ihr H Theologie studiert — übrigens an einer Theologischen Fakultät f einer staatlichen Universität, nämlich in Jena. Das war in der DDR . möglich — und zwar, wenn ich das richtig verstanden habe, auf Grund der Intervention der Politik der Sowjetunion!
Wegen dieser eigenen Geschichte nenne ich den Dialog, den die DDR-Kirchen mit Ihrer Russischen Orthodoxen Kirche geführt haben. Sie fanden unter dem Namen „Sagorsk I", „Sagorsk II" und Sagorsk III" 1974, 1976 und 1978 statt. Ich darf nur einige Sätze aus dem Kommunique von „Sagorsk III" vom Oktober 1978 zitieren:
„Zum ersten Male wurde in einem Dialog dieser Art die Frage nach dem Selbstverständnis der Kirche als des Leibes Christi, wie es in der orthodoxen und evangelischen Tradition festgehalten ist, zum Gegenstand der Arbeit gemacht. ... Die Mitglieder beider Delegationen stimmten darin überein, dass es in der Ekklesiologie darum geht, den christologischen Aspekt und die Bedeutung der Gnade Gottes im Leben der Kirche zu unterstreichen und zu wahren. Denn der höchste Ausdruck der Liebe Gottes zur Welt ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes und die durch ihn geschehene Erlösung".8
8 Sagorsk I-III. Die theologischen Gespräche zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. 1974-19761978. Berichte-Referate-Dokumente / Hrsg. von Ch. Demke. Berlin, 1982. S. 145.
rn 4.2. Die Reformation Luthers hat anfangs eine ganz neue
u Verhältnisbestimmung zumJudentum und zu denJüdinnen und Juden tj mit sich gebracht. Ich erinnere an Martin Luthers Schrift „Dass Jesus q Christus ein geborener Jude sei" aus dem Jahr 1523, die damals sogar in einem jüdischen Verlagshaus nachgedruckt worden ist. Allerdings o hat er im Alter böse Abgrenzungen und Verunglimpfungen gegen g die Juden ausgesprochen hat. Ich nenne nur aus dem Jahr 1543 seine ^ Schrift,„VondenJudenund ihrenLügen".
g Wie ist dieser scheinbare Bruch zu erklären? Luther ging es um
den von ihm wahrgenommenen Gegensatz von Gesetzesreligion und g Evangelium, von Widergott und Gott, von Antichrist und Christus. Luther verstand die eigenständige Bibelauslegung der Juden, die ohne das Neue Testament auskommt, als Gefährdung der Wahrheit in Christus. Dadurch legte er selbst den Grund für seine späteren Ausfälle.9
Deshalb müssen wir uns als Lutheraner auch kritisch mit Martin Luther auseinandersetzen. Nur ein Beispiel darf ich dafür geben: Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika hat vor Jahren eine „Erklärung an die jüdische Gemeinschaft" veröffentlicht: „Im Geiste dieser Wahrhaftigkeit müssen wir, die wir seinen Namen und sein Erbe tragen, mit Schmerz auch Luthers antijüdische Schmähungen und die gewalttätigen Empfehlungen in seinen späteren Schriften gegen die Juden zur Kenntnis nehmen. Wie schon viele von Luthers eigenen Gefährten im 16. Jahrhundert weisen wir diese verletzenden Schmähungen zurück ... Indem wir die Mitschuld unserer eigenen Tradition innerhalb dieser Geschichte [des Antisemitismus] beklagen, sprechen wir zugleich unseren dringenden Wunsch aus, künftig unseren Glauben an Jesus Christus verbunden mit Liebe und Respekt gegenüber dem jüdischen Volk zu leben".10
Vor langem war für meine persönliche Haltung richtungweisend, dass auf der Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds im Jahr 1984 in Budapest ein Vertreter des Judentums zum Thema „Die Kirche und das jüdische Volk" referierte. Einige Sätze von Gerhart M. Riegner darf ich hier in Erinnerung rufen:
9 Vgl.: Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Ende einer Feindschaft? // Münsteraner Judaistische Studien. Bd 23: Interesse am Judentum. Die Franz-Delitzsch-Vorlesungen 1989-2008 / Hrsg. von J. Cornelius de Vos und F. Siegert, Berlin, 2008. S. 262-281.
10 Zitiert nach: Zeitschrift der Luther-Gesellschaft. 1996. N 67. S. 97-98.
„Unsere Traditionen wurzeln beide in der Schrift, die Sie « das Alte Testament und wir die Hebräische Bibel nennen. ... Freilich l unterscheiden wir uns darin, wie wir dieses großartige gemeinsame t Buch lesen und interpretieren. r
Die grundlegenden Unterschiede müssen klar gesehen werden, wenn wir Verwirrung und Illusionen vermeiden wollen. . Nur wenn wir den andern annehmen, so wie er in seiner besonderen Identität ist, können wir hoffen, in eine sinnvolle Beziehung zu ihm einzutreten. ...
Es ist nicht unser Ziel, die Identität der anderen Seite zu verändern
oder den Inhalt des christlichen Glaubens zu bestimmen. Ebenso
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erwarten wir von unseren Partnern, dass sie dasJudentum als lebendige ö Wirklichkeit sowie unser Glaubensengagement respektieren"11. r
Hier sind — von jüdischer Seite! — ganz entscheidende Kriterien E
für die Gestaltung unserer Gemeinschaft benannt! m
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4.3. Und noch eine letzte Konkretion: Es ist auch möglich, s von unserer konfessionellen Tradition her und vom Erbe Luthers her c ein offenes Verhältnis zum Islam und zu den Muslimen zu gewinnen. f Natürlich war Luther von der Türkenfurcht seiner Zeit erfasst und hat . er den Islam als Bedrohung wahrgenommen und zum Kampf gegen die Türken aufgerufen12. Das ist überhaupt nicht verwunderlich.
Hervorheben möchte ich hier, dass uns Luther in die Wiege gelegt hat, den Partner überhaupt richtig wahrzunehmen, wertfreies Wissen über ihn zu gewinnen, ihn im Sinne seiner eigenen Überzeugungen zu verstehen. Von dieser Haltung her war es nur konsequent, dass er sich dafür eingesetzt hat, den Koran in lateinischer Sprache zu veröffentlichen. Ja, er hat sogar einzelne Suren aus dieser lateinischen Fassung in die deutsche Sprache übersetzt.13
Das ist zwar erst einmal ganz wenig, aber in der Bereitschaft, die Glaubensposition der anderen überhaupt erst einmal kennen zu lernen, ist doch die erste Weiche hin zu Achtung und zum Gespräch schon gestellt!
11 Budapest 1984. „In Christus — Hoffnung für die Welt": Offizieller Bericht der Siebenten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, LWB-Report Nr. 19/20, Februar 1985 / Hrsg. von Carl H. Mau. Stuttgart, 1985. S. 152, 154.
12 Vgl.: Mau R. Luthers Stellung zu den Türken // Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag / Hrsg. von H. Junghans. Berlin, 1985, S. 647-662.
13 Vgl.: Glaubensbuch und Weltliteratur. Koranübersetzungen in Deutschland von der Reformationszeit bis heute / Hrsg. von H. Bobzin und P. M. Kleine. Arnsberg, 2007. S. 15.
га Ganz am Rande sei erwähnt, dass es einen besonderen Aspekt
и in der Beziehung der lutherischen Reformation und Luthers zum tj Islam gibt: Die immer wiederkehrende Bedrohung des Heiligen q Römischen Reiches deutscher Nation durch die Türken war ¡.q mindestens ein Faktor, der dazu führte, dass Kaiser Karl V. auf
о die reformatorischen Fürsten Rücksicht nehmen musste und к
л nicht so gegen sie und die Reformation wie den Reformator
^ vorgehen konnte, wie er es gewollt hat. So wurde z.B. bei
« konkreten politischen Entscheidungen im Frühjahr 1539 eine
^ damals drohende militärische Auseinandersetzung zwischen
ч den verschieden konfessionellen Reichsterritorien abgewendet —
л weil der muslimische Türke vor den Grenzen des Reiches stand!14
5. Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, dass ich meine Gedanken thesenhaft zusammenfasse:
Die lutherische Kirche versteht sich als eine christliche Konfession, die direkt an den biblischen und altkirchlichen Wurzeln des Christentums anknüpft.
Die lutherische Kirche erkennt die Christlichkeit anderer Konfessionen an und ist bereit, von ihr zu lernen.
Die lutherische Kirche stellt eine Gemeinschaft dar, die bereit ist, sich selbst zu verändern und sich zu korrigieren, alte Fehler zu überwinden.
Die lutherische Kirche versteht sich als eine Gemeinschaft, die zur friedlichen Zusammenarbeit mit den anderen christlichen Konfessionen bereit und in der Lage ist.
Die lutherische Kirche möchte auf gleicher Augenhöhe und unter gegenseitiger Anerkennung der jeweiligen Identität mit anderen Religionen Kontakte pflegen — besonders mit den beiden anderen so genannten abrahamitischen Religionen.
Die lutherische Kirche erkennt die Religiosität anderer Religionen an und vertritt ihnen gegenüber die eigene Offenbarungswahrheit ohne Aggression, aber selbstbewusst.
In einer Formulierung des wichtigsten Liedes, das Martin Luther gedichtet und komponiert hat, des Liedes „Ein feste Burg ist unser Gott" aus dem Jahr 1529, wird diese eigene Identität besonders deutlich. Mit dem Zitat dieser Passage darf ich schließen und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit danken:
14 Vgl.: Mau R. Luthers Stellung zu den Türken. S. 657-658.
„...es streit' für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott." Es gibt mehrere Übersetzungen dieses Liedes in der russischen Sprache. Ich lese diese Zeilen abschließend für Sie in der Übersetzung von Grischin und Priludzkij aus dem Jahr 1998:
„Но в битву ради нас вступил Святой избранник Божий. Кто есть воитель тот? Иисус Христос, Господь, Он Бог наш Саваоф, И нет других богов."
Информация о статье
Автор: Райнер Шталь, генеральный секретарь Союза им. Мартина Лютера (Martin-Luther-Bund) (Эрланген, Германия) Электронная почта: [email protected] Заголовок: Die lutherische Kirche in der Gemeinschaft der anderen christlichen Konfessionen und der anderen Religionen [Лютеранская церковь в сообществе христианских конфессий и других религий]
Аннотация: В статье дается описание специфики лютеранского самосознания, в основном в опоре на видение самого Лютера. Автор подчеркивает консерватизм и ортодоксальность позиции лютеранской церкви, проводя параллели между проповедью Лютера и содержанием православных икон. Однако наиболее отличает христианское сообщество взаимоотношение с другими религиями (иудаизм, ислам). Автор подчеркивает, что несмотря на реальную угрозу завоевания Священной Римской Империи турецкими войсками, Лютер и его сподвижники посвящают много времени переводу Корана на немецкий и латинский языки. Основные тезисы статьи сводятся к пониманию лютеранской церкви как продолжения старо-церковного христианства, однако, при этом открытой для диалога (особенно, с религиями Ветхого завета) и развития. Ключевые слова: Мартин Лютер, лютеране, церковь, Христос
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и Источники И ЛИТЕРАТУРА н
^ 1. Budapest 1984. „In Christus — Hoffnung für die Welt": Offizieller
tJ Bericht der Siebenten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes,
g LWB-Report Nr. 19/20, Februar 1985 / Hrsg. von Carl H. Mau. — Stuttgart:
^ Kreuz Verlag, 1985. — 333 s.
g 2. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe / Hrsg. von
W J. K. F. Knaake et al. Bd 51. — Weimar: Weimar H. Böhlaus, 1914. — 775 s.
н 3. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe / Hrsg. von
Я
J. K. F. Knaake et al. Bd 7. — Weimar: Weimar H. Böhlaus, 1886. — 736 p.
^ 4. Glaubensbuch und Weltliteratur. Koranübersetzungen
tn in Deutschland von der Reformationszeit bis heute / Hrsg. von H. Bobzin S
und P. M. Kleine. — Arnsberg: Stadt Arnsberg, 2007. — 64 s.
^ 5. Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die Evangelisch-Luthe-
rischen Kirchen in Bayern und Thüringen. — München: Evangelischer Presseverband Für Bayern, 1994. — 1624 s.
6. Osten-Sacken P., von der. Martin Luther und die Juden. Ende einer Feindschaft? // Münsteraner Judaistische Studien. Bd 23: Interesse am Judentum. Die Franz-Delitzsch-Vorlesungen 1989-2008 / Hrsg. von J. Cornelius de Vos und F. Siegert. Münster: LIT-Verlag, 2008. S. 262-281.
7. Philipp Melanchthon. Briefe für Europa. Internationale Wanderausstellung zum 500. Geburtstag Philipp Melanchthons / Hrsg. von Melanchthonhaus: 2. Aufl. — Budapest: Bretten, 1999. — 64 s.
8. Sagorsk I—III. Die theologischen Gespräche zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. 1974—1976—1978. Berichte—Referate—Dokumente / Hrsg. von Ch. Demke. — Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1982. — 222 s.
9. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft. 1995. N 66.
10. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft. 1996. N 67.
Data on the article
Author: Rainer Stahl, general secretary of Martin Luther Bund (Erlangen, Germany)
E-mail: [email protected]
Title: Die lutherische Kirche in der Gemeinschaft der anderen christlichen Konfessionen und der anderen Religionen [Lutheran Church in the circle of other Christian confessions and religions]
Abstract: The article describes specifics of the Lutheran identity, mainly relying on the vision of Luther. The author emphasizes conservatism and orthodoxy ofthe Lutheran Church, drawing parallels between the preaching of Luther and the content of Orthodox icons. Within the Reformation the
Lutheran tradion was developed, that includes strong attitute to science s
and education as well as availibility of faith and salvation in ordinary life. ^
However, the relation with other religions is the most accurate for the t
determination of specifics of this Christian community. The author stresses g
differences in approaching to the Old Testament by Lutherans and Judaism- ¡r
believers. Relations with Islam formed in comprehensive historical situation, c
when the conquest of the Holy Roman Empire by Turkish troops was a real h
threat. However, Luther and his fellows devoted a lot of time translating the ^
Quran into German and Latin, and the acquaintance with another tradition £
was the first step to dialog. The main thesis of the article can be reduced to an g
understanding of the Lutheran Church as a continuation of the Old Christian w
Church, that at the same time is open to dialogue (especially with the religions §
of the Old Testament) and development. e
Key words: Martin Luther, Lutherans, Church, Christ w
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References
m
1. Evangelischer Presseverband Für Bayern (1994), Evangelisches g Gesangbuch, Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und C Thüringen, München: Evangelischer Presseverband Für Bayern, 1624 p. a
2. Evangelische Verlagsanstalt (1982) Sagorsk I-III. Die theologischen t Gespräche zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und dem Bund der : Evangelischen Kirchen in der DDR. 1974-1976-1978. Berichte-ReferateDokumente (ed. Ch. Demke), Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 222 s.
3. Knaake J. K. F. (1914), D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (ed. J. K. F. Knaake), Weimar: Weimar H. Böhlaus, vol. 51, 775 p.
4. Kreuz Verlag (1985), Budapest 1984. „In Christus — Hoffnung für die Welt": Offizieller Bericht der Siebenten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, LWB-Report Nr. 19/20, Februar 1985 (ed. Carl H. Mau), Stuttgart: Kreuz Verlag, 333 p.
5. Melanchthons (1999), Philipp Melanchthon. Briefe für Europa. Internationale Wanderausstellung zum 500. Geburtstag Philipp Melanchthons (ed. Melanchthonhaus), 2 Budapest: Bretten, 64 p.
6. Osten-Sacken P., von der (2008) Martin Luther und die Juden. Ende einer Feindschaft?, Münsteraner Judaistische Studien, Münster: LIT-Verlag, vol. 23: Interesse am Judentum, pp. 262-281.
7. Stadt Arnsberg (2007), Glaubensbuch und Weltliteratur. Koranübersetzungen in Deutschland von der Reformationszeit bis heute (ed. H. Bobzin und P. M. Kleine), Arnsberg: Stadt Arnsberg, 64 p.
8. D Weimar H. Böhlaus (1886), D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (ed. J. K. F. Knaake). Weimar: Weimar H. Böhlaus, vol. 7, 736 p.
9. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft. 1995. N 66.
10. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft. 1996. N 67.