Научная статья на тему 'KULTURELLE ÜBERSETZUNG ALS INTEGRATIONSSTRATEGIE. INTELLEKTUELLE BIOGRAPHIEN RUSSISCHER PHILOSOPHEN IM EXIL NACH 1945'

KULTURELLE ÜBERSETZUNG ALS INTEGRATIONSSTRATEGIE. INTELLEKTUELLE BIOGRAPHIEN RUSSISCHER PHILOSOPHEN IM EXIL NACH 1945 Текст научной статьи по специальности «Языкознание и литературоведение»

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INTELLEKTUELLE BIOGRAPHIEN / RUSSISCHE PHILOSOPHIE DER ZWEITEN HäLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS IM EXIL / INTEGRATION DURCH KULTURELLE ÜBERSETZUNG / MEHRSPRACHIGKEIT

Аннотация научной статьи по языкознанию и литературоведению, автор научной работы — Kissel Wolfgang Stephan

Der Artikel untersucht, wie sich russische Exilphilosophen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in westliche Wissenschaftssysteme integriert haben. Skizziert werden sechs sehr verschiedenartige intellektuelle Biographien von Ivan Il’in, Georgij Fedotov, Georgij Florovskij, Alexandre Koyré, Alexandre Kojève und Isaiah Berlin. Sie waren durch Geburt, Erziehung, Sprachkenntnisse eng mit Russland verbunden und gehörten einer zweiten und dritten Phase der russischen Emigrationsphilosophie an, die in die Zwischenkriegszeit von 1918-1939 und in die Nachkriegszeit seit 1945 fallen. So unterschiedlich die Biographien, Denkfiguren, Themen und Methoden dieser Philosophen waren, sie alle praktizierten im weitesten Sinn Formen kultureller Übersetzung, um sich in westlichen Wissenschaftsinstitutionen zeitweise oder auf Dauer zu etablieren und zumeist auch um ihrer potentiellen Hörer- und Leserschaft in den Gastländern USA, Großbritannien, Frankreich, Schweiz oder Deutschland eine Vorstellung von der Spezifik russischen Denkens zu vermitteln. Daher entwickelten sich ihre Forschungen oft transnational zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen bzw. zwischen den Disziplinen und Institutionen. Dieser Befund wirft die Frage auf, inwieweit sich die Emigrationsphilosophie auf russische Texte eingrenzen lässt bzw. inwieweit westliche Sprachen, in erster Linie Englisch, Französisch und Deutsch, als Sprachen des russischen philosophischen Diskurses betrachtet werden müssen. Da es sich nur um eine begrenzte Auswahl und Anzahl von Biographien handelt, sollten weitere Studien prüfen, ob bzw. welche Formen kultureller Übersetzung auch für andere russische Exilphilosophen charakteristisch waren.

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CULTURAL TRANSLATION AS A STRATEGY OF INTEGRATION. INTELLECTUAL BIOGRAPHIES OF RUSSIAN PHILOSOPHERS IN EXILE AFTER 1945

This paper examines how Russian philosophers in exile succeeded in integrating themselves into academic and scientific institutions in the West during the second half of the 20th century. It is based on sketches of the intellectual biographies of six philosophers, such as Ivan Ilyn, George Fedotov, Georges Florovsky, Alexandre Koyré, Alexandre Kojève, and Isaiah Berlin. None of these philosophers published exclusively in Russian, but all of them remained closely attached to Russia by birth, education, and language. They belonged to a second and third period of Russian philosophy in exile which took place during the interwar years from 1918-1939 and the post-war years after 1945. Their biographies, characteristic ways of thinking, topics, and methods were highly heterogeneous. However, they all practised what may be called cultural translation in order to establish themselves in Western academic and scientific institutions and to convey a particular idea of the specificity of Russian thinking to their Western audiences and readership, be it in the USA, in Great Britain, France, Switzerland or Germany...This paper examines how Russian philosophers in exile succeeded in integrating themselves into academic and scientific institutions in the West during the second half of the 20th century. It is based on sketches of the intellectual biographies of six philosophers, such as Ivan Ilyn, George Fedotov, Georges Florovsky, Alexandre Koyré, Alexandre Kojève, and Isaiah Berlin. None of these philosophers published exclusively in Russian, but all of them remained closely attached to Russia by birth, education, and language. They belonged to a second and third period of Russian philosophy in exile which took place during the interwar years from 1918-1939 and the post-war years after 1945. Their biographies, characteristic ways of thinking, topics, and methods were highly heterogeneous. However, they all practised what may be called cultural translation in order to establish themselves in Western academic and scientific institutions and to convey a particular idea of the specificity of Russian thinking to their Western audiences and readership, be it in the USA, in Great Britain, France, Switzerland or Germany. Therefore, their academic research often crossed the borders of different cultures, languages, disciplines, or institutions. Consequently, the production of Russian philosophers in exile and of philosophers of Russian descent encompassed texts written in English, French, and German as languages of philosophical thinking. This multilingualism (with a certain predominance of English) could alter our understanding of the Russian emigration as a cultural phenomenon of the 20th century. As the paper presents only a limited selection of six philosophers, further studies have to analyse different forms of cultural translation.

Текст научной работы на тему «KULTURELLE ÜBERSETZUNG ALS INTEGRATIONSSTRATEGIE. INTELLEKTUELLE BIOGRAPHIEN RUSSISCHER PHILOSOPHEN IM EXIL NACH 1945»

Hcmopum-fyunocofycKuü ем:егоднuк 2021. № 36. C. 221-250 yflK 172.1

History of Philosophy Yearbook 2021, No. 36, pp. 221-250 DOI: 10.21146/0134-8655-2021-36-221-250

Kulturelle Übersetzung als Integrationsstrategie. Intellektuelle Biographien russischer Philosophen im Exil nach 1945

Wolfgang Stephan Kissel

Dr. hab., Professor, Kultur- und Literaturwissenschaftler (Slavist). Universität Bremen. Bibliothekstr. 1, Bremen, 28359, Deutschland; e-mail: kissel@uni-bremen.de

Abstract. Der Artikel untersucht, wie sich russische Exilphilosophen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in westliche Wissenschaftssysteme integriert haben. Skizziert werden sechs sehr verschiedenartige intellektuelle Biographien von Ivan Il'in, Georgij Fedotov, Georgij Florovskij, Alexandre Koyre, Alexandre Kojeve und Isaiah Berlin. Sie waren durch Geburt, Erziehung, Sprachkenntnisse eng mit Russland verbunden und gehörten einer zweiten und dritten Phase der russischen Emigrationsphilosophie an, die in die Zwischenkriegszeit von 1918-1939 und in die Nachkriegszeit seit 1945 fallen. So unterschiedlich die Biographien, Denkfiguren, Themen und Methoden dieser Philosophen waren, sie alle praktizierten im weitesten Sinn Formen kultureller Übersetzung, um sich in westlichen Wissenschaftsinstitutionen zeitweise oder auf Dauer zu etablieren und zumeist auch um ihrer potentiellen Hörer- und Leserschaft in den Gastländern USA, Großbritannien, Frankreich, Schweiz oder Deutschland eine Vorstellung von der Spezifik russischen Denkens zu vermitteln. Daher entwickelten sich ihre Forschungen oft transnational zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen bzw. zwischen den Disziplinen und Institutionen. Dieser Befund wirft die Frage auf, inwieweit sich die Emigrationsphilosophie auf russische Texte eingrenzen lässt bzw. inwieweit westliche Sprachen, in erster Linie Englisch, Französisch und Deutsch, als Sprachen des russischen philosophischen Diskurses betrachtet werden müssen. Da es sich nur um eine begrenzte Auswahl und Anzahl von Biographien handelt, sollten weitere Studien prüfen, ob bzw. welche Formen

© Wolfgang Stephan Kissel

kultureller Übersetzung auch für andere russische Exilphilosophen charakteristisch waren.

Schlüsselbegriffe: Intellektuelle Biographien, russische Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Exil, Integration durch kulturelle Übersetzung, Mehrsprachigkeit

Empfohlene Zitierweise: Kissel, W.S. "Kulturelle Übersetzung als Integrationsstrategie. Intellektuelle Biographien russischer Philosophen im Exil nach 1945", Istoriko-fihsofskii ezhegodnik, 2021, No. 36, pp. 221-250.

I. Einführung

Philosophie und Philosophen spielten eine wichtige Rolle in den russischen Exilkulturen des 20. Jahrhunderts. Der Historiker Marc Raeff hat in seiner Kulturgeschichte der russischen Emigration von 1919-1939 vor allem die Verbindungslinien zwischen der Philosophie der Vorkriegszeit und der Emigration aufgezeigt und den Einfluss von Philosophen wie Nikolaj Berdjaev auf die westliche Philosophie hervorgehoben.1 In den Geschichten der russischen Philosophie von Vasilij Zen'kovskij und Wilhelm Goerdt ist das 20. Jahrhundert jedoch nur sehr selektiv vertreten.2 Diese Zurückhaltung ist einerseits durch den Entstehungszeitpunkt dieser Philosophiegeschichten, andererseits auch durch die Schwierigkeit des Gegenstandes bzw. der Materiallage zu erklären.3 Beide Autoren konzentrierten sich ebenfalls auf die Nachfolger Vladimir So-lov'evs auf dem Gebiet der Religionsphilosophie wie Nikolaj Berdjaev, Sergej Bulgakov oder Pavel Florenskij.4 Eine Vielzahl von

1 Raeff, M. Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration, 1919-1939. New York/Oxford: Oxford University Press, 1990, pp. 104-105.

2 Vgl. Zen'kovskii, V.V. Istoriya russkoi filosofii [History of Russian Philosophy], 2 Vols. Paris: YMKA-Press, 1989 und Goerdt, W. Russische Philosophie. Zugänge und Durchblicke. Freiburg/München: Karl Alber, 1984.

3 Zen'kovskijs „Geschichte" wurde erstmals 1948-1950 in Paris publiziert, Goerdts „Geschichte" 1984.

4 Von den hier ausgewählten Philosophen erörtert Zen'kovskij nur den frühen Il'in ausführlicher, Florovskij sieht er als Theologen oder Kirchenhistoriker, Fedotov, Koyre, Kojeve, Berlin erwähnt er überhaupt nicht. Die Kategorien „Exilphilosophie"

Wiederentdeckungen, Editionen und Wiederauflagen, Biographien und Monographien sowie von Forschungsartikeln, die vor allem russische Historiker und Philologen seit Mitte der 1980er Jahre erarbeitet haben, hat den Kenntnisstand und die Materialbasis, über die die Forschung heute verfügten kann, wesentlich erweitert.5 Eine umfassende Geschichte der russischen Exilphilosophie des 20. Jahrhunderts rückt so allmählich in den Bereich des Möglichen.

Der folgende Artikel versteht sich als weitere Vorstudie zu einer solchen Gesamtgeschichte und sucht nach neuen Ansätzen und Verbindungslinien zwischen Vor-, Zwischen- und Nachkriegszeit. Er plädiert dafür, auch Vertreter anderer Denkströmungen in die Geschichtsschreibung der Exilphilosophie aufzunehmen, die nicht ausschließlich auf Russisch publizierten, wohl aber durch Geburt, Erziehung, Sprachkenntnisse eng mit Russland verbunden waren. Sie gehörten folglich einer zweiten und dritten Phase der russischen Emigrationsphilosophie an, die in die Zwischenkriegszeit von 1918-1939 und in die Nachkriegszeit seit 1945 fallen. Diese beiden Phasen lassen sich nicht auf eine einzelne Schule oder Richtung in der Philosophie reduzieren, sondern können adäquater am Beispiel repräsentativer Philosophen dargestellt werden, die weitgehend unabhängig voneinander Hauptströmungen des Jahrhundertbeginns weiterentwickelt haben.

Die beiden Phasen lassen sich auch nicht völlig trennscharf von der Ersten Emigration abgrenzen, vielmehr gibt es eine Reihe von Überschneidungen in der Ereignisgeschichte, in den Biographien der Akteure und in den philosophischen Themen und Forschungen. Schließlich können sie auch nicht der „Zweiten bzw. der Dritten russischen Emigration" zugeordnet werden, die durch eine

oder „Philosophen im Exil" diskutiert er nicht. Vgl. Zen'kovskij, Istoriya, Bd. II, pp. 269-461, hier besonders pp. 365-369 und pp. 459-460. Goerdt erwähnt Koyres Arbeit über Philosophie und russisches Nationalbewusstsein, würdigt ihn jedoch nicht als Wissenschaftstheoretiker. Isaiah Berlin erwähnt er im Zusammenhang mit Herzen, Il'in nur als Schüler von Novgorodcev. Florovskij, Fedotov und Kojeve erwähnt er gar nicht. Die Kategorie „Exilphilosophie" taucht bei ihm ebenfalls nicht auf. Vgl. Goerdt, Russische Philosophie, hier S. 155, 158, 523-527, 664.

5 Soweit sie für die Argumentation einschlägig sind, wurden sie in die Bibliographie aufgenommen bzw. werden sie im Abschnitt „intellektuelle Biographie" angeführt.

Flüchtlingswelle während des Zweiten Weltkriegs 1943-1945 bzw. eine Ausreise- und Ausweisungswelle während der späten sechziger und siebziger Jahre entstanden.6 Im Rahmen dieses Artikels soll beispielhaft gezeigt werden, dass Fragen nach den Details intellektueller Biographien, nach den Praktiken kultureller Übersetzung und nach Erfolg oder Misserfolg der Integration von Emigranten in andere Wissenschaftssysteme der Geschichte der russischen Exilphilosophie neue Impulse verleihen können.

II. Intellektuelle Biographien

Die nach diesen Vorgaben ausgewählten Philosophen Ivan Il'in, Georgij Fedotov, Georgij Florovskij, Alexandre Koyre, Alexandre Kojeve und Isaiah Berlin wurden im Russischen Reich zwischen 1883 und 1909 geboren und gehörten damit der Generation der „klassischen" Moderne an. Alle beherrschten das Russische muttersprachlich, alle mit Ausnahme Berlins durchliefen das russische Gymnasium, einige erreichten im Wissenschaftssystem noch erste Positionen, alle verließen Russland bzw. die Sowjetunion bis spätestens Mitte der zwanziger Jahre. Die Oktober-Revolution 1917 und die Flucht bzw. Vertreibung waren eindeutig die entscheidenden historischen Zäsuren bzw. die Schlüsselereignisse in ihren Biographien.

Doch nur Ivan Il'in reiste auf einem der „Philosophendampfer" im September 1922 ins Exil, die anderen gelangten auf anderen Wegen dorthin oder befanden sich schon dort. Wertet man den „Philosophendampfer" als Symbol für die Austreibung des liberalen Geistes aus dem sowjetischen Staat, dann hat dieses Symbol sicher für alle genannten Philosophen Gültigkeit, zugleich aber muss an die Verschiedenartigkeit ihrer „Denk-Wege" ins und im Exil erinnert werden. Daher ist es angemessener, von einer Ereignisabfolge

6 Zur Geschichte der Ersten Emigration und dem Problem der Abgrenzung von den folgenden Emigrationen vgl. Struve, G. Russkaya literatura v izgnanii [Russian Literature in Exile], Paris-Moscow: YMKA-Press, Russkii Put' Publ., 1996, pp. 27-35 und Schlögel, K. (hrsg.). Der große Exodus, Die russische Emigration und ihre Zentren 1917-1941. München: C.H. Beck, 1994, S. 9-20.

„Revolution - Errichtung einer Diktatur - Flucht oder Ausweisung" zu sprechen, mit der die Biographien der ausgewählten Philosophen im Zeitraum von 1917-1925 eng verflochten waren. Somit ergeben sich sechs Verflechtungsgeschichten zwischen individuellen Laufbahnen, Wissenschaftsinstitutionen und epistemischen Feldern.

Ivan Aleksandrovic Il'in (1883-1954) kann als paradigmati-scher Fall eines verbannten Philosophen betrachtet werden, der sich gegen das erlittene Unrecht ein Leben lang mit seiner philosophischen Produktion gewehrt hat. In Moskau als Sohn russischer und deutscher Adelsgeschlechter geboren, erhielt er eine Ausbildung in Jura und Philosophie, die ihn befähigte, eine konservative Lesart des russischen Staatsrechts auf eine eigenständige HegelExegese zu gründen. Nach einem Studium in Göttingen bei Husserl lehrte Il'in von 1912-1917 an russischen Universitäten. Er promovierte 1918 bei dem Rechtsphilosophen P.I. Novgorodcev mit einer Arbeit über Hegels Philosophie als Lehre über die Konkretheit Gottes und des Menschen (Filosofija Gegelja kak ucenie o konkretnosti Boga i celoveka), Hegel-Studien sollten ihn auch in den kommenden Jahrzehnten beschäftigen. Im selben Jahr schloss er sich der „weißen Bewegung" gegen die Bolschewiki an und hielt an dieser politischen Orientierung und erbitterten Feindschaft zeitlebens fest. Die Zwangsexilierung auf einem der PhilosophenDampfer im September 1922 beendete seine akademische Karriere in Russland abrupt.7

Georgij Petrovic Fedotov (1886-1951), im Gouvernement Saratov als Sohn eines höheren Verwaltungsbeamten geboren, durchlief ein weites Spektrum vom Studium der Ingenieurswissenschaften in Petersburg und politischem Engagement auf Seiten der Sozialdemokraten bis hin zu einer Konversion zur Orthodoxie, die auch über eine Umorientierung zu den historischen Wissenschaften, insbesondere zur Kirchen- und Religionsgeschichte erfolgte. Wiederholt wurde er wegen Unruhestiftung und revolutionärer Umtriebe verhaftet. Nach Deutschland ausgewiesen, studierte er in Berlin und Jena (1906/7) Geschichte und schloss 1908 ein Studium

7 Vgl. Poltorackii, N.P. Ivan Aleksandrovich Il'in. Zhizn', trudy, mirovozzrenie [Ivan Aleksandrovich Il'in. Life, Works, Worldview]. Tenafly (New York): Ermi-tazh Publ., 1989.

der Mediävistik bei I.M. Grevs in Petersburg an. Nach Abschluss seiner Studien und Beginn einer akademischen Laufbahn erwarb er 1916 den Titel eines Privatdozenten der Petersburger Universität, 1918 gründete er zusammen mit A.A. Mejer in Petersburg den philosophisch-religiösen Kreis Die Auferstehung (Voskresenie) und publizierte in dessen Zeitschrift Freie Stimmen (Svobodnye golosa). Die etwas liberalere sowjetische Ausreisepraxis Mitte der zwanziger Jahre gestattete ihm 1925 eine Studienreise nach Berlin, die zum dauerhaften Exil wurde.8

Der in Taganrog geborene, aus wohlhabender jüdischer Familie stammende Alexandre Koyre (1892-1964, Geburtsname Aleksandr Vladimirovic Kojranskij) absolvierte in Odessa ein humanistisches Gymnasium. Noch vor dem Ersten Weltkrieg ging er nach Göttingen, um bei Hilbert und Husserl, und nach Paris, um u. a. bei Bergson zu studieren. Früh vermittelte er die Philosophie Husserls nach Frankreich und Bergsons nach Deutschland. Nach Teilnahme am Ersten Weltkrieg und Flucht aus Russland ließ er sich 1920 endgültig in Paris nieder und gewann durch Studien zur Gottesidee von Anselm von Canterbury und zu Jakob Böhme bald erste Anerkennung im französischen Wissenschaftssystem.9

Georgij Vasil'evic Florovskij (1893-1979) stammte aus einer Priesterfamilie in Elisavetgrad, wuchs in Odessa auf, wo er an der historisch-philologischen Fakultät Philosophie und Naturkunde studierte, im Oktober 1919 wurde er zum Privatdozenten in Novor-ossijsk ernannt. Auf Grund der Gefahr für seine Familie emigrierte er jedoch bereits im Januar 1920 nach Bulgarien. Seine ersten Exilstationen in Sofija (1920-1921) und bald darauf in Prag (19211924) nutzte er für intensive Kontakte innerhalb der Exilkreise und für Forschungen und Publikationen zur Religionsphilosophie. In Prag, wo er als Privatdozent Rechtsphilosophie lehrte, gründete er zusammen mit dem Sprachhistoriker Nikolaj Trubeckoj, dem

8 Vgl. Boikov, V.F. "Sud'ba i grechi Rossii (filosofsko-istoricheskaya publitsi-stika G.P. Fedotova)" [The Fate and Sins of Russia (G.P. Fedotov's Writings on Philosophy of History)], in: G.P. Fedotov, Sud'ba i grehi Rossii [The Fate and Sins of Russia], 2 Vols. St. Petersburg: Sofija Publ. 1991, pp. 3-38.

9 Zur Biographie Koyres vgl. Zambelli, P. Alexandre Koyre in incognito. Florence: Olschki Editore, 2016.

Geographen und Ökonomen Petr Savickij und dem Musikologen Petr Suvcinskij die Bewegung der Eurasier, bevor er 1924 nach Paris übersiedelte.10

Alexandre Kojeve (1902-1968, Geburtsname Aleksandr Vladi-mirovic Kozevnikov), sympathisierte zwar mit der kommunistischen Ideologie, entstammte aber dem Moskauer Großbürgertum und musste daher nach der Oktober-Revolution um sein Leben fürchten. Auf der Flucht über Polen rettete er einen Teil seines Vermögens, von dem er ein Studium der Philosophie und fernöstlichen Sprachen und Religionen in Heidelberg finanzierte. Er schloss bei Karl Jaspers mit einer Dissertation über Vladimir Solov'evs Religionsphilosophie ab. Als Neffe Vasilij Kandinskijs hatte Kojeve auch Zugang zu Künstlerkreisen der Avantgarde und knüpfte bei Studien in Berlin und Paris, wohin er 1926 umsiedelte, Kontakte zu Intellektuellen wie Alexandre Koyre oder Leo Strauss, mit dem er lange Jahre regelmäßig korrespondierte.11

Der jüngste der sechs Philosophen, Isaiah Berlin (1909-1997), am westlichen Rand des Zarenreichs, in Riga geboren, wuchs in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus mit Russisch und Deutsch als Umgangssprachen heran. Die Eltern flohen mit dem Sohn 1916 nach Petrograd, wo Berlin beide Revolutionen des Jahres 1917 mit ihren Gewaltexzessen aus nächster Nähe erlebte. Seine heftige Aversion gegen Gewalt und die intensive Reflexion über das Wesen und die Grenzen der Freiheit hat er selbst in Zusammenhang mit diesen Eindrücken gebracht. Die Familie floh schließlich auch vor den Bolschewiki und ließ sich 1921 in England nieder. Innerhalb eines Jahres fand Berlin sich mit der neuen Umgebung und Sprache zurecht, blieb aber ein Leben lang der russischen Kultur verbunden. Die Entscheidung, ihn in diese repräsentative Reihe aufzunehmen,

10 Zur Biographie Florovskijs vgl. Senokosov, Y.P. (ed.). Georgii Florovskii: Svyashchennosluzhitel', bogoslov, filosof [Georgy Florovsky: Priest, Theologian, Philosopher]. Moscow: Progress - Kul'tura Publ., 1995.

11 Zu Kojève vgl. Auffret, D. Alexandre Kojève: La philosophie, l'état, la fin de l'histoire. Paris: B. Grasset, 1990. Meyer, M. Ende der Geschichte? München: Carl Hanser, 1993. Nichols, J.H. Alexandre Kojève: Wisdom at the End of History. Lan-ham, Md.: Rowman & Littlefield, 2007. Rejs, E.G. Kozhevnikov, kto Vy? [Kozhev-nikov, Who are you?]. Moscow: Russkij put' Publ., 2000.

kann sich auf Berlin selbst berufen, der sich nicht als englischen Philosophen betrachtete, sondern darauf bestand, ein „russischer Jude aus Riga" zu sein.12

III. Kulturelle Übersetzung

Als Hauptströmungen, an denen diese Philosophen ihr Werk ausrichteten, sind zu nennen: Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie, Religionsgeschichte, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Mit der Religionsphilosophie der Jahrhundertwende setzten sich der Mediävist und Historiker Georgij Fedotov und der Rechtsphilosoph und Patrologe Georgij Florovskij besonders intensiv auseinander. Beiden ging es um die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses Russlands, das sie durch die bolschewistische Revolution in seiner Substanz bedroht sahen. Beide haben das spirituelle Erbe der Rus' neu erschlossen. Doch setzten sie sehr verschiedene Akzente in ihren Forschungen.

Florovskij hielt auch nach seiner Abkehr von den Eurasiern fest an einer eher negativen Bewertung der petrinischen bzw. Petersburger Periode und einer mit Vorbehalten positiven Bewertung der Oktober-Revolution, da der Bruch mit dem petrinischen Erbe es erlaubte, wieder an den Byzantinismus und die Geschichte der eurasischen Rus' der vorpetrinischen Epoche anzuknüpfen. Diese Grundhaltung rief bei vielen seiner Kollegen heftigen Widerspruch hervor und beschädigte Florovskijs Ansehen in den Kreisen der russischen Emigration. Das Schwergewicht seiner Forschungen lag eindeutig auf der Auseinandersetzung mit der Religionsphilosophie Vladimir Solov'evs, den er bei seinen frühen Studien in Odessa und Sofia noch als seinen Lehrer betrachtet hatte. Seit Ende 1922 -Anfang 1923 zeichnete sich eine zunehmend kritischere Einschätzung, insbesondere der Sophiologie ab. Solov'evs Mystik führe

12 Ignatieff, M. Isaiah Berlin: A Life. London: Chatto & Windus, 1998. Lilla, M. The Legacy of Isaiah Berli, New York: New York Review Books, 2001. Wokler, R. „Isaiah Berlin's Enlightenment and Counter-Enlightenment," Isaiah Berlin's Counter-Enlightenment, ed. by J. Mali and R. Wokler. Philadelphia, PA: American Philosophical Society, 2003, pp. 13-31.

in „Sackgassen", die mit der theistischen Lehre der Orthodoxie nicht vereinbar seien.13

In Paris setzte er am Institut de théologie orthodoxe Saint-Serge (Svjato-Sergievskij pravoslavnyj bogoslovskij institut) seine Studien zur östlichen Patristik fort, die mit historischen Methoden und Quellenkritik die theologische Substanz der orthodoxen Kirchenväter rekonstruieren und auf diesem Weg eine neopatristische Synthese erreichen sollten. 1937 schloss er die Übersichtsdarstellung Die Wege der russischen Theologie (Puti russkogo bogoslovija) ab, mit der er die Grundlagen orthodoxer Theologie erneuern und zugleich eine schärfere Grenze zwischen Religionsphilosophie und Theologie ziehen wollte.14

Die Theologie sollte ihre Antworten auf die Moderne des 20. Jahrhunderts in den genuin orthodoxen Wissensbeständen finden, nicht durch den Import westlicher philosophischer Systeme. Florovskij gelangte zu dem ausdrücklichen Schluss, dass es eine neue Offenbarung auch im Kreis der gottsuchenden Schriftsteller und Philosophen Lev Tolstoj, Fedor Dostoevskij, Nikolaj Fedorov oder Konstantin Leont'ev nicht gegeben habe. Seine Kritik weitete er aus auf die Nachfolger Solov'evs wie Pavel Florenskij, Nikolaj Berdjaev und nicht zuletzt auf Sergej Bulgakov, der ebenfalls am Institut Saint-Serge lehrte und den er vom Standpunkt seiner historischen Rekonstruktion der Patristik und der byzantinischen Wurzeln der Orthodoxie besonders scharf kritisierte.

Auch der Historiker Georgij Fedotov gehörte seit 1926 zum Lehrkörper von Saint-Serge. Er legte einen Schwerpunkt auf Kirchen- und Religionsgeschichte des (russischen) Mittelalters und trat mit einer Monographie zu den Heiligen des alten Russlands (Svja-tye Drevnej Rusi, 1931) hervor. Diese Linie seiner Forschungen über die Religiosität (religioznost') der Rus' sollte Fedotov in den kommenden Jahren konsequent fortsetzen. Ein Stipendium des

13 Vgl. dazu: Gavrilyuk, P.L. Georges Florovsky and the Russian Religious Renaissance. Changing Paradigms in Historical and Systematic Theology. Oxford: Oxford University Press, 2013.

14 Vgl. Raeff, M. Russia Abroad, pp. 178-181 hebt die Bedeutung der Puti russkogo bogosloviya für die gesamte folgende russische Kultur- und Ideengeschichte hervor.

Bachmetev Fund erlaubte es ihm, den ersten Band seiner Geschichte der orthodoxen Religiosität abzuschließen, der unter dem Titel The Russian Religious Mind. Kievan Christianity 1946 erschien. Seine Erläuterungen zum englischen Titel, die er der Monographie vorausschickte, geben einen Einblick in die Relevanz der Sprachwahl und der damit verbundenen Weichenstellung bei der kulturellen Übersetzung:

It is not without some hesitation that I have chosen as my title The Russian Religious Mind.

Although in English the word mind has mainly an intellectual connotation, it can also be used in the sense of the whole content of consciousness. Since I am writing the history not of Russian religious thought, but of Russian religious consciousness, it is in this larger sense that I employ the term throughout the book. Were I writing in Russian, I would choose a word corresponding to the German Religiosität (religioznost'). The French prefer sentiment religieux, which has a richer meaning than merely religious feeling. For the English reader, 'religious mind' appears to be the nearest approximation to the idea.15

Das semantische Feld, das in diesen knappen Bemerkungen umschrieben wird, besteht aus vier Begriffen in vier Sprachen: „religious mind", „Religiosität", „religioznost'", „sentiment religieux". Jeder dieser Begriffe hätte als Titel eines anderen Buches in einer anderen Sprache dienen können. Die Entscheidung zugunsten des Englischen fiel auf Grund der persönlichen Exilsituation des Autors, seiner Flucht aus Frankreich und Umsiedlung in die Vereinigten Staaten, wo er wesentlich günstigere materielle Existenzbedingungen vorfand. Doch die vier wichtigsten Sprachen der russischen Exilkultur bleiben im Hintergrund, wenn auch in unterschiedlichem Maße, wirksam. Wie diese tendenzielle Mehrsprachigkeit, so zeichnet auch der transdisziplinäre Charakter die Monographie aus. Mit einem eindeutigen Schwerpunkt auf den religiösen Praktiken nahm die Studie Verfahren der späteren historischen Anthropologie bzw. der Anthropologie der Religion vorweg. Dadurch traten das lange

15 Fedotov, G.P. The Russian Religious Mind, 2 Vols. Cambridge (MA): Harvard University Press, 1966. Vol. I, p. ix.

Fortwirken heidnischer Praktiken bzw. der Synkretismus christlicher und heidnischer Praktiken ebenso wie die kenotische Ausrichtung der russischen Volksfrömmigkeit deutlicher hervor als in der früheren Forschung.16

In seiner Publizistik betonte Fedotov hingegen stärker epochendiagnostische bzw. kulturphilosophische Interessen. In zahlreichen Artikeln, Kommentaren, Glossen, die u.a. in den Exilzeitschriften Novyj grad und Sovremennye zapiski erschienen, profilierte er sich als scharfer Beobachter des Zeitgeschehens in der Sowjetunion. So lieferte er mit den Briefen über die russische Kultur von 1939 einen der frühesten und luzidesten Kommentare zum stalinistischen Elitenwechsel und zur Vertreibung oder physischen Auslöschung der (vor)revolutionären Intelligenz. Seine Publizistik suchte aber auch nach Wegen, um die Zukunft für eine russische Gesellschaft offen zu halten, die nach dem Kommunismus zu demokratischen Institutionen und liberaler Meinungsvielfalt zurückfinden sollte.

Im Vergleich zu Florovskij und Fedotov tendierte Ivan Il'in deutlich stärker zu einer problematischen Variante von spekulativer Geschichtsphilosophie, die in vieler Hinsicht in eine rückwärtsgewandte Ideologie überging. Der Anhänger der Monarchie und des Zaren widmete viele seiner tagespolitischen Schriften einer potentiellen Restauration des vorrevolutionären autokratischen Russlands. Er ließe sich als russischer Rechtshegelianer beschreiben, der die Herausbildung der autokratischen Staatlichkeit in der vorpetrinischen Epoche als Vollendung einer christlichen Teleologie interpretierte und auf dieser Basis ein monarchisch-ständestaatlich erneuertes post-kommunistisches Russland entwarf.

Da Russland noch nicht demokratiefähig sei, bedürfe es einer Restauration der Monarchie, der Geistlichkeit, des Adels, eines Ständestaats, um die verlorene Harmonie von Staat und Gesellschaft wiederherzustellen. Hegels (angebliches) Staatverständnis wird übersetzt in eine Rangordnung, die auf der Autorität des monarchisch-aristokratischen Machtzentrums basiert. Die erneuerte Aristokratie werde einen selbstverständlichen Anspruch auf die

16 In diesem Sinn stellt Raeff Fedotovs Werdegang dar und nimmt eine ausführliche Bewertung seines bedeutendsten Buches vor. Vgl. Raeff, M. Russia Abroad, pp. 181-185, hier insbesondere p. 184.

Führung des desorientierten Landes erheben und die Rückkehr zu einer hierarchisch geordneten, holistischen und daher harmonischen Gesellschaft ohne Parteiensystem erfolgreich vollziehen. Absoluten Vorrang hatten für ihn die radikale Ablehnung der bolschewistischen Oktoberrevolution und die scharfe Abgrenzung zur Sowjetunion. Aus dieser Perspektive begrüßte er die sog. „Machtergreifung" durch den Nationalsozialismus im Jahr 1933 als „neuen Geist," dem man unvoreingenommen gegenübertreten müsse.

Alexandre Koyré konnte bereits in den frühen zwanziger Jahren an der École pratique des hautes études (EPHE) promovieren und weiter im französischen Wissenschaftssystem aufsteigen. Im Austausch mit dem in Paris ansässigen Erkenntnistheoretiker Emile Meyerson wandte er sich der Genese und Entwicklung des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Denkens zu und gewann als Philosophiehistoriker und Wissenschaftstheoretiker grundlegende Erkenntnisse über die Entstehung der modernen Astronomie. Er erkannte und beschrieb, wie eine Naturforschung, die noch eng mit Theologie und Mystik verbunden war, naturwissenschaftliche Praktiken förderte, z. B. durch exakte Beobachtung und Berechnung, dokumentiertes Sammeln, protokollierte Experimente, die die Grundlagen moderner Wissenschaftlichkeit bildeten.

Seine Übersetzer- und Herausgebertätigkeit (Galilei, Copernicus, Kepler, Newton) stellte einen integralen Bestandteil seiner philosophischen Methode dar, die Philosophiegeschichte auch als Geschichte von Theologie, Mystik und Naturwissenschaften verstand. Auf der Suche nach den treibenden Kräften der Wissenschaften entwickelte er lange vor Foucault ein Denken in Diskontinuitäten und Brüchen (ruptures). In seinen bahnbrechenden „Etudes ga-liléennes" untersuchte er die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Ideen und eine spezifisch neuzeitliche Wahrnehmung, Beschreibung und Konstruktion des Wirklichen, die zu einer Wandlung des menschlichen Geistes selbst („mutation de l'intellect humain") führen.

Insgesamt leistete er grundlegende Beiträge zur Erkenntnistheorie und zur Geschichte der Wissenschaftsrevolution des 17. Jahrhunderts, die die Voraussetzungen für die Aufklärung erst schuf. Koyrés Kenntnis der theologischen Literatur erlaubte es ihm, darüber hinaus festzustellen, dass das säkulare Denken des 18. und

19. Jahrhunderts Züge einer Übersetzung theologischer Fragestellungen in philosophische trug, ein Ansatz, der bis heute ungemein produktiv geblieben ist. Schließlich zog er in seiner philosophischen Summa Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum aus seinen Erkenntnissen Konsequenzen, die bis heute allgemeine epis-temologische Gültigkeit beanspruchen können. Das Weltall der modernen Wissenschaft hat kein Zentrum und keinen hierarchischen Aufbau mehr wie der Kosmos des Aristoteles, sondern dehnt sich in alle Richtungen gleichmäßig aus. Dieses Universum, das allerdings nur zum Teil von der Erde aus sichtbar ist und beobachtet werden kann, wird von Naturgesetzen bestimmt, denen kein religiöser oder ethischer Wert mehr zukommt. Die Dichotomie zwischen Erde und Kosmos bei Aristoteles verschiebt sich damit hin zu einer Dichotomie zwischen den Phänomenen der menschlichen Welt und den Naturgesetzen, d.h. die Mathematisierung bzw. Geometrisierung des Raums mündet ein in eine Dichotomie von Wertewelt und Welt der Fakten.

Koyre hielt von 1931-1933 an der Ecole pratique des Hautes Etudes ein Hegel-Seminar ab. Als er eine Professur in Kairo annahm, übergab er die Seminarleitung an Alexandre Kojeve, den er von Heidelberg her kannte und schätzte. Kojeve nutzte die Chance, die ihm die weitgehend fehlende französische Hegel-Rezeption bot, um eine „dialektische Wende" der französischen Philosophie herbeizuführen und seiner einseitigen und durchaus anfechtbaren Interpretation Hegels zumindest für die Jahre bis 1939 zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei verlieh ihm seine Herkunft und Biographie die Aura eines Eingeweihten, der den Untergang einer Welt, den Philosophen wie Vladimir Solov'ev noch visionär antizipierten, als Zeitzeuge erlebt hatte. Nicht nur hatte er revolutionäre Gewalt und Bürgerkrieg, Flucht und Exil unmittelbar erfahren, sondern sich in diesen Untergängen eine gewisse Kaltblütigkeit und ein distanziertes Erkenntnisinteresse bewahrt. In seinen Seminaren über Die Phänomenologie des Geistes versammelte sich ein kleiner Kreis kongenialer Hörer, zu denen u. a. Maurice Merleau-Ponty, Jean Hyppolite, Raymond Aaron, Jacques Lacan und Georges Bataille gehörten. Jean Hyppolite übersetzte 1939-1941 Hegels Phänomenolo-gie des Geistes ins Französische, wobei er sich auf Kojeves Vorlesungen bezog und zugleich von Kojeves Hegel-Deutung abgrenzte.

Kojève hat aus der Zeitfigur einer vollendeten Zukunft, mit der die russische Religionsphilosophie experimentierte, maximalen Profit geschlagen. Die apokalyptisch-eschatologische Erwartungshaltung der Zeit um 1900 verwandelte sich in seiner Hegel-Exegese in eine säkularisierte, aller religiösen Substanz entleerte Endzeit von unbestimmter Dauer, da mit der universellen Anerkennung der „Menschenrechte" auch der Stimulus historischer Konflikte entfiel. Im Zentrum seiner Auslegungen stand das Kapitel über „Herr und Knecht," dem er weit stärkeres Gewicht beimaß, als es der Gesamtarchitektur des Werkes entsprach.

Ein kurz vor seinem Tod vollendeter dreibändiger Essai d'une histoire raisonnée de la philosophie païenne belegt, dass er die gesamte Philosophiegeschichte von der Antike bis in die Gegenwart auf Hegel hin, d.h. auf sein eigenes Theorem vom „Ende der Geschichte" konzipierte. Durch alle Kriege und Katastrophen hindurch zielt der Weltgeist im 20. Jahrhundert auf eine staatlich-gesellschaftliche Weltordnung, die weniger zum Weltfrieden als zur Abwesenheit von Konflikten auf Grund allgemeiner Bedürfnisbefriedigung führt. Als aktuelle Belege für diese Situation galten Kojève der Wirtschaftsboom und Lebensstil in den USA der fünfziger und sechziger Jahre oder der ästhetisierte Lebensstil in Japan, den er auch als Spielart des Snobismus klassifizierte und als potentiell globalen Habitus prognostizierte.

In seinen politischen Präferenzen bewies er eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit. Phasenweise zog er den Stalinismus als Endstufe der Menschheitsgeschichte ernsthaft in Betracht. 1942 näherte er sich in einer Abhandlung über La Notion de l'autorité dem Vichy-Regime und Maréchal Pétain an, nach dem Krieg plädierte für ein erneuertes „Empire latin" als mediterranen Staatenbund, um sich dann der Montanunion und der EWG als letzten Manifestationen des Weltgeistes zuzuwenden.17

In Großbritannien hat Isaiah Berlin bleibende Beiträge zur Ideengeschichte und politischen Theorie geleistet, insbesondere zum Begriff der Freiheit und zum Antagonismus von Aufklärung und

17 Kojève, A. "L'Empire latin (Esquisse d'une doctrine de la politique française)", La règle du jeu. Littérature, Philosophie, Politique, Mai 1990, No. 1, pp. 82-144.

Gegenaufklärung.18 Berlins Philosophie ist nicht mit den Maßstäben der deutschen Systemphilosophie, der angelsächsischen analytischen Philosophie oder der französischen dekonstruktiven Theorie zu messen. Er wollte keine neue Doxa, kein geschlossenes System schaffen, sondern beobachtete das Leben der Ideen in ihrem historischen Kontext. Ebenso wie an den „Brüchen" war er an historischer Kontinuität interessiert. Er verbarg dieses durchaus ambitionierte philosophische Projekt hinter einem Schutzschild von Bescheidenheit und vermittelte den Eindruck, eher den Gelegenheitsessay als die systematische Abhandlung zu bevorzugen. Skeptisch gegenüber dem Schreiben und den Publikationsroutinen, fand er sein kongeniales Medium im Gespräch und der Aufzeichnung des gesprochenen Worts per Tonband oder Mikrophon. Doch ist sein Werk heute dank umfassender, teilweise posthumer Editionen durch Henry Hardy auch im Druck präsenter denn je, und dies nicht nur in der englischsprachigen Welt.

Nach Philosophie- und Politikstudium in Oxford wurde er zum ersten jüdischen Fellow von All Souls College gewählt. Er bezeichnete sich als agnostisch und religiös indifferent, aber hat sein Judentum wie auch seine russische Prägung immer als ebenso wichtig wie seine Sozialisation in Großbritannien betrachtet. Vom Kokon der Eliteuniversität geschützt, konnte Berlin seine besonderen Gaben entfalten und eine Variante der Oxforder philosophischen Tradition besonders beeindruckend verkörpern. Seine häufig zitierte Selbstbeschreibung als „russischer Jude aus Riga" trifft den Hauptantrieb seiner geistigen Suche: die unaufhebbare Verschiedenartigkeit, die in seiner Herkunft angelegt war und die er in Oxford nur umso stärker empfinden musste, aber auch als eine Quelle seiner philosophischen Produktivität kultivierte.

In vielen Vorträgen variierte er die Grundfrage der Ethik seit der Antike, die Frage nach dem guten, richtigen Leben, und betonte, dass unsere Epoche darauf nicht mehr die eine Antwort geben könne, sondern eine Diversität und Pluralität von Ansätzen zulassen müsse. Seine Auffassung der Freiheit in Two Concepts

18 Wokler, R. "Isaiah Berlin's Enlightenment and Counter-Enlightenment", Isaiah Berlins Counter-Enlightenment, ed. by J. Mali and R. Wokler. Philadelphia, PA: American Philosophical Society, 2003, pp. 13-31.

of Liberty differenziert zwischen negativer Freiheit, der Abwesenheit von äußerem Zwang, und positiver Freiheit, die sich gliedert einerseits in die Freiheit, willentlich gesetzte Ziele zu verfolgen, und andererseits in die Freiheit, autonom, eigenbestimmt zu agieren.

IV. Formen institutioneller Integration

Das Wirken der Emigrationsphilosophen lässt sich unter verschiedenen Aspekten gliedern. Chronologisch vor allem in eine Zwischen- und Nachkriegszeit. In den zwanziger und dreißiger Jahren versuchten die bereits durch Publikationen ausgewiesenen Philosophen Fedotov, Florovskij, Koyré und Kojève mehr oder weniger erfolgreich, sich in westliche akademische und kulturelle Institutionen zu integrieren. Der eindeutige Schwerpunkt lag dabei in Paris, seit Mitte der zwanziger Jahre auch als Hauptstadt der Ersten Emigration bezeichnet. Fedotov und Florovskij lehrten seit Mitte der 1920er Jahre am Institut de théologie orthodoxe Saint-Serge (Svjato-Sergievskij pravoslavnyj bogoslovskij institut), Koyré seit Mitte der zwanziger Jahre und Kojève seit Anfang der dreißiger Jahre an der École pratique des hautes études (EPHE). Damit sind nicht nur zwei Institutionen, sondern auch zwei Denkrichtungen benannt, die einerseits für Kritik an der westlichen Aufklärung bzw. eine Renaissance der (russischen) Orthodoxie (und des Byzantinismus) und andererseits für ein vertieftes Verständnis der Voraussetzungen der westlichen Aufklärung und einer Abschätzung ihrer künftigen Entwicklung standen.

Anfang 1923 eröffnete die Gründung eines Russischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin Ivan Il'in eine anders gelagerte Chance zum Einstieg in eine westliche Institution. Von 1923-1931 gehörte Il'in zu den Dozenten, ungeklärt bleibt bis heute, ob er auch an der Friedrich-Wilhelms-Universität lehrte.19 Im Vergleich zu den

19 Vgl. etwa Vogt, G. "Otto Hoetzsch, Karl Stählin und die Gründung des Russischen Wissenschaftlichen Instituts," Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg, hrsg. K. Schlögel. München: C.H. Beck, 1994, S. 267-278.

theologischen und wissenschaftshistorischen Institutionen in Paris überwog in Berlin der politische Parteienstreit und Machtkampf. Der Historiker Otto Hötzsch, einer der Gründer einer deutschen SU-Forschung, wollte angesichts der begrenzten Zahl von Lehrstühlen mit Schwerpunkt Osteuropa eine unabhängige, staatlich unterstützte Institution schaffen, um den steigenden Bedarf an Osteuropa-Expertise zu befriedigen. Sie sollte einerseits Kontakte zu sowjetischen Wissenschaftsinstitutionen herstellen, andererseits aber auch Emigranten eine wissenschaftliche Wirkungsstätte in Deutschland bieten. In den Anfangsjahren zog das Institut tatsächlich viele Studenten an, dann wurde es allmählich in den politischen Spannungen zerrieben, wozu auch Il'ins Vortrags- und Publikationstätigkeit beitrug. Entgegen der Hoffnung der Institutsgründer auf politische Neutralität äußerte er sich von Anfang an unzweideutig und wollte die deutsche Öffentlichkeit über die wahre Natur des Bolschewismus aufklären Mit Publikationen wie Gift. Geist und Wesen des Bolschewismus hoffte er, sich den im Aufstieg begriffenen nationalsozialistischen Politikern genehm zu machen, doch war er diesen als konservativer russischer Emigrant und Monarchist von vor-neherein verdächtig.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lösten sich die Zentren der russischen Emigration in Europa auf, viele Intellektuelle und Künstler flohen in die USA, die für vier der behandelten Philosophen zum dauerhaften oder zeitweisen Lebensschwerpunkt wurden. Fedotov floh vor der nationalsozialistischen Invasion 1940 und lehrte als Gastdozent auf Einladung des Theologischen Seminars der Universität Yale / New Haven von 1941-1943. Seit 1944 lehrte er am St Vladimir's Orthodox Theological Seminary in New York. Er blieb ein leidenschaftlicher und scharf formulierender Autor von Kommentaren zur Politik seiner Epoche, die im New Yorker Novyj zurnal erschienen, einer neuen Exilzeitschrift, die Mark Aldanov und Michail Cetlin 1942 gründeten und die die Traditionen der Pariser Sovremennye zapiski fortsetzten.

Die geschichtsphilosophischen Essays Die Geburt der Freiheit (Rozdenie svobody, 1944), Russland und die Freiheit (Rossija i svo-boda, 1945) und Das Schicksal der Imperien (Sud'ba imperij, 1947) schließen sein publizistisches Werk mit Ausblicken auf die Chancen für die Demokratie in Europa und Russland nach dem Krieg ab und

gehören zur besten philosophischen Prosa des Exils. In Die Geburt der Freiheit bekannte er sich als Feind des Denkens in „Quantitäten" und bestand auf der Einzigartigkeit des menschlichen Intellekts und Bewusstseins. Er lehnte jegliche biologische Determiniertheit des Menschen wie jegliche Verklärung des Naturzustandes aufs schärfste ab: „Entweder schließen wir uns dem quantitativen Denken an, dann ist die Erde, der Mensch nichts oder wir ziehen den Schluss, dass alle unzählbaren Galaxien nur dazu da sind, um ihn hervorzubringen, das freie und vernünftige Körperwesen, bestimmt zur Königsherrschaft über das Universum." Mit dieser „Königsherrschaft" ist nicht die materielle Ausbeutung gemeint, sondern die Erkenntnis der einzigartigen Position des Menschen und die Bewusstwerdung seiner Freiheit. Diese Freiheit wird als spätes Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung der (west)europäischen Kultur aufgefasst, nur in unserer Gegenwart, einer Epoche, deren Grenzen offenbleiben müssen, finde sich diese spezifisch moderne Freiheit. Die Vielfalt von konstitutionell verankerten Rechten leitet Fedotov von der Grundfreiheit des Glaubens bzw. der Überzeugung einerseits und andererseits von der Grundfreiheit des Geistes ab, die den Individuen rechtlichen Schutz vor den Interventionen der staatlichen Macht gewähre.

Auch Florovskij, der den Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien und Prag überstand, übersiedelte in die USA und erkannte dort eine organisatorische Aufgabe in der Erneuerung der amerikanischen orthodoxen Kirche und ihrer Beziehungen zur Ökumene. Bei der Gründung des Ökumenischen Rats der Kirchen 1948 in Amsterdam wirkte als Vertreter der russischen Orthodoxie mit. Wiederauflagen der Wege der russischen Theologie machten ihn auch in Kreisen amerikanischer Slawisten und Osteuropahistoriker bekannt. Am Saint Vladimir's Orthodox Theological Seminary in New York sammelte er einen neuen Schülerkreis um sich, von 1956-1964 bekleidete er eine Professur für Kirchengeschichte in Harvard, nach seiner Pensionierung lehrte er in Princeton.

Koyré wirkte gleichermaßen erfolgreich als eine Gründerfigur der modernen Wissenschaftsgeschichte und als Wissenschaftsorganisator zunächst an der École pratique des hautes études (EPHE) in Paris, dann in Kairo. Schließlich bot er de Gaulle seine Dienste für „La France libre" an und wurde in die USA entsandt, wo er an der

New School for Social Research in New York, in Princeton (Institute of Advanced Studies) und Baltimore (Johns Hopkins University) lehrte.20 Wenn auch seine Kandidatur am Collège de France 1950 scheiterte, so gelang doch im Jahr 1958 an der École pratique die Gründung eines Centre de recherches d'histoire des sciences et des techniques, das heute den Namen Centre Alexandre Koyré trägt. Die Summe seiner wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Studien erschien zunächst auf Englisch: From the Closed World to the Infinite Universe, Baltimore 1957.

Während des Zweiten Weltkriegs verließ Berlin Oxford und arbeitete für die British Information Services in New York (19401942) und bei der Britischen Botschaft in Washington, DC von 1942-1946, jeweils mit dem Auftrag, die USA zu beobachten. Von September 1945 an wurde er für einige Monate in die SU, vor allem nach Moskau entsandt, wo er mit Künstlern und Schriftstellern wie z. B. Boris Pasternak zusammentraf. In Leningrad konnte er Anna Achmatova aufsuchen, die ihn im Verszyklus Poem ohne Held als „Gast aus der Zukunft" apostrophierte. Sie war überzeugt, sein Erscheinen habe ihre jahrelange Isolation durchbrochen, zugleich aber auch eine erneute Verfolgungswelle gegen sie ausgelöst. Die Konfrontation mit Krieg und Holocaust, der Aufenthalt in den USA und der SU bewirkten eine Wende Berlins zur (russischen) Ideengeschichte und zur öffentlichen Wirksamkeit. Nach seiner Rückkehr nach Oxford setzte er zwar seine Universitätslaufbahn fort, wurde aber über Rundfunkvorträge und Fernsehauftritte in weiten Teilen der englischsprachigen Welt zu einem „public intellectual." Die wachsende Anerkennung trug ihm zunächst einen Chichele Chair of Social and Political Theory (1957-1967) ein, den er mit einer Vorlesung unter dem Titel The two concepts of liberty 1958 antrat (s.o.). Schließlich leitete er als Präsident das Wolfson College (19651975), eine Institution zwischen Natur- und Humanwissenschaften von internationalem Rang.

20 Dort lernte Koyre Hannah Arendt kennen, die ihn überaus schätzte. Vgl. bei Zambelli, p. 254 und p. 265, note 22 die brieflich belegte Äußerung Arendts: „ein russischer Jude nach Frankreich verschlagen und ganz französisiert. Aber eben doch ganz ein russischer Jude."

Vier dieser aus Russland stammenden Philosophen gestalteten also die Erfolgsgeschichte des englischsprachigen Wissenschaftssystems und der Anglisierung der weltweiten (Natur)Wissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg tatkräftig mit: Berlin durch seine mediale Präsenz in der englischsprachigen Welt und seine virtuose Vortragstätigkeit, Koyre durch intensive Forschungsaktivität in Gestalt englischer Monographien und Editionen, Fedotov und Florovskij durch Lehre und Forschung in den USA. So wirkten sie an dem Internationalisierungsschub mit, der das Wissenschaftssystem bis in die sechziger Jahre grundlegend umformte. An den Biographien der vier russischstämmigen Philosophen lässt sich das Zusammenwirken von Anglisierung, Institutionalisierung und Professionalisie-rung im Detail darstellen.

Zwei Abweichungen gibt es jedoch: Alexandre Kojeve partizipierte nicht am englischsprachigen Paradigmenwechsel der russischen Emigrationsphilosophie. In den Monaten nach Kriegsende 1945 trat er mit einem außenpolitischen Entwurf L'Empire latin hervor, der lange unveröffentlicht blieb, aber bei französischen Funktionären auf Interesse stieß. Eine um Frankreich zentrierte Mittelmeerunion unter Ausschluss von Deutschland und Großbritannien sollte entstehen und die Basis einer französischen Kontinentalhegemonie bilden. Eventuell auf diesen Entwurf hin wurde er für höhere Aufgaben empfohlen, und der Links-Hegelianer (und phasenweise Stalinist) verwandelte sich in einen EWG-Funktionär. Kojeve engagierte sich innerhalb der neu entstehenden Bürokratie in erster Linie für den Aufbau eines kontinentalen Wirtschaftsraums im französischen Interesse. In dieser Leitungsfunktion bei der Montanunion bzw. EWG ließ er sich vom KGB anwerben, wie mittlerweile feststeht, und berichtete regelmäßig nach Moskau. Die USA und die englischsprachige Welt blieben ihm fremd, und er blieb ihnen aus guten Gründen fern.

Ivan Il'in, die zweite Ausnahme, hatte unter dem Nationalsozialismus seit 1934 Lehrverbot, 1938 verließ er Deutschland. In seinem zweiten Exil, der Schweiz, erreichte nur noch eine eingeschränkte Hörer- bzw. Leserschaft. Während der vierziger und frühen fünfziger Jahre arbeitete der Hegel-Spezialist weitgehend isoliert in Zollikon bei Zürich, u. a. an einer gekürzten deutschen Fassung seiner Studie über Hegels Philosophie als Lehre über die Kon-

kretheit Gottes und des Menschen, die 1946 erschien. Auch nach den katastrophischen Erfahrungen des Krieges blieb er überzeugt, dass nur eine „nationale, patriotische, keineswegs totalitäre, sondern autoritäre, erzieherische und erneuernde Diktatur" (Über die Staatsform / O gosudarstvennoj forme, 1948) Russland führen könne.

Erst seine Wiederentdeckung im postsowjetischen Russland machte Il'in über einen engen Kreis von Spezialisten hinaus bekannt. Seine Schriften stießen seit der späten Perestrojka auf Interesse, vor allem seine antimodernen und antiaufklärerischen Positionen fanden vermehrt Anklang bei russischen Intellektuellen. Angesichts der chronischen Krise der neunziger Jahre schienen seine Prognosen und Prophezeiungen an Plausibilität zu gewinnen. Ein Diskurs, der in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren keinerlei Anschlussfähigkeit besaß, gewann so im post-kommunistischen Russland einen neuen Resonanzraum. Auch aus Sicht der Regierung Putin schienen seine Schriften ein ideologisches Vakuum zu füllen. Das Theorem der „Erziehungsdiktatur", die einzig berufen sei, das strukturelle Demokratiedefizit der russischen Geschichte zu korrigieren, fügte sich ein in den Baukasten der Politik-Technologen in der Präsidialadministration. Die Rahmenbedingungen für eine adäquate Rezeption wurden entsprechend verbessert: durch die intensivierte Erforschung seines Werks, eine zehnbändige Gesamtausgabe und die Umbettung der sterblichen Überreste des Ehepaars Il'in von Zollikon auf den alten Friedhof des Don-Klosters in Moskau im Jahr 2005.

Es ließe sich also als weiterer Gliederungspunkt ein Spektrum von Inklusion in und Exklusion aus den westlichen Institutionen entwerfen, bei dem Il'in am äußersten Pol der Isolation und (der späteren totalen Immersion in das post-sowjetische Russland), Berlin und Koyre am anderen Pol der gelungenen und international ausstrahlenden Integration anzusiedeln wären. Auch Florovskijs Zugehörigkeit zum Ökumenischen Rat der Kirchen, Berlins Intermezzo im Foreign Office, vor allem aber seine Leitung des Wolfson College, und Kojeves erfolgreiches Agieren im Funktionärsapparat der EWG sind Beispiele solch gelungener Integration in internationale bzw. westliche Institutionen.

Als weiteres Merkmal der Emigrationsphilosophie der zweiten und dritten Phase lässt sich ein Spektrum von Distanz und Nähe zu

Russland und zum Westen bzw. zu westlichen Aufklärungstraditionen herauskristallisieren. Die Frage eines spezifisch „russischen" Charakters dieser Philosophie stellt sich also noch einmal neu und auf andere Weise. So sehr sich ihre Vertreter auch räumlich von Russland entfernten, bezogen sie sich doch alle im Laufe ihrer Karriere explizit auf russische Philosophie oder auf Russland. In diesen Zusammenhang gehört auch das Thema der „Rückkehr nach Russland", das für die Kultur der Perestrojka und des post-sowjetischen Russland besonders hohe Bedeutung hatte. Sie vollzog sich am deutlichsten bei Il'in, aber auch bei Florovskij und Fedotov, deren theologische und religionshistorische Referenzwerke in die orthodoxe Restauration eingegliedert wurden und den aktuellen Diskurs im post-kommunistischen Russland auf diesem Feld bis heute mitprägen. Auch Kojève, als außergewöhnlicher Fall eines „stalinistischen" Philosophen und EWG-Technokraten, und Koyré als international anerkannter Wissenschaftshistoriker wurden zwischen 1990 und 2010 ins Russische übersetzt und rezipiert.

Russland lässt sich als Bezugspunkt des Denkens bei allen ausgewählten Emigrationsphilosophen der zweiten und dritten Phase belegen. Florovskijs historisch-kritisch orientierte Forschungen zur Geschichte der Theologie Puti russkogo bogoslovija und Fedotovs Studien zur Geschichte der Religiosität The Russian Religious Mind trugen Russland schon im Titel, ebenso viele Publikationen Il'ins, die eine retrograde antimoderne Utopie eines post-kommunistischen, monarchischen Russland entwarfen. Von Koyrés Kennerschaft auch in russischer Ideengeschichte zeugten seine Monographien La Philosophie et le problème national en Russie au début du XIXe siècle, vor allem aber seine Etudes sur l'histoire de la pensée en Russie, die in das Werk Ivan Kireevskijs, Petr Caadaevs und Alexander Herzens sowie in die Rezeption Hegels in Russland einführten.

Wie intensiv auch Isaiah Berlin einige russische Denker und Schriftsteller rezipierte, wurde spätestens mit dem Band Russian Thinkers von 1978 deutlich.21 Bei seinen Studien zu einer frühen Biographie über Karl Marx war Berlin schon in den späten dreißi-

21 Berlin, I. Russian Thinkers, ed. by Henry Hardy and Aileen Kelly, with an introduction by Aileen Kelly. New York: Viking Press, 1978.

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ger Jahren auf die Schriften Alexander Herzens gestoßen, der zu einer Leitfigur seiner eigenen Konzeption von Freiheit, Liberalismus und Wertepluralismus wurde.22 Herzens Plädoyer für den Primat des menschlichen Individuums vor Theorien und Abstraktionen traf bei Berlin auf besondere Resonanz. In vielen Vorträgen und Aufsätzen wies er unter Berufung auf Herzen teleologische Konstruktionen zurück, die das menschliche Leben höheren Zielen wie einer klassenlosen Gesellschaft oder dem technischen Fortschritt unterordneten.23

Die Autobiographie Herzens Erinnerungen und Gedanken (Byloe i dumy), die den Zeitraum von 1812 bis in die späten 1860er Jahre umfasst, stufte er als Sprachkunstwerk von hohem Rang ein. Aus Herzens Sicht schmälert die eingeschränkte Reichweite menschlicher Entscheidungen und die Bedeutung des Zufalls nicht die Freiheit und Würde des Menschen, in der Rückschau kann das schreibende Subjekt seine eigene Kontingenz in der Geschichte rekonstruieren und auf diese Weise mit neuem Sinn erfüllen. Diesen Leitgedanken demonstriert er am Material seiner Autobiographie. Herzen verbindet ein starkes Interesse an wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden und generell einen starken Wissenschaftsbegriff mit einer scharfen Kritik am Fortschrittsdenken, eine komplexe Position, die auf eine Dialektik der Aufklärung vorausweist. Berlin hat das philosophische Potential Herzens als erster in seiner ganzen Tragweite erkannt. Auf Grund seiner auch durch die Herzen-Lektüre gewonnenen Überzeugung, das Leben könne nur in sich Ziel und Sinn haben, bewahrte Berlin allen reinen Theorien und Theoretikern gegenüber Distanz. Umso mehr richtete er seine Aufmerksamkeit auf Kontingenzen und ihre Bedeutung für die Genese von Ideen(systemen).

Weiterhin lässt sich für die Zwischen- und die Nachkriegszeit und für alle sechs Philosophen unbestreitbar eine Tendenz zur Historisierung der Philosophietraditionen bzw. zur Praxis der Philosophie als (akademischer oder universitärer) Philosophiegeschichte konstatieren. Für alle philosophischen Entwürfe sind aufklärungskritische, religionsnahe oder aufklärungsaffirmative, religionskriti-

22 Berlin, I. Karl Marx. His Life and Environment, 4th ed. Oxford: Oxford University Press, 1978.

23 Kelly, A.M. The Discovery of Chance. The Life and Thought of Alexander Herzen, Cambridge (MA) / London: Harvard University Press, 2016.

sche Leitmotive, aber auch paradoxe Kombinationen beider Oppositionen, charakteristisch.

Koyre richtete seine Forschungen am striktesten wissenschaftsund begriffshistorisch aus. Auf dieser Grundlage gelang ihm der Nachweis von Übergängen zwischen christlichen Glaubenssystemen und naturwissenschaftlicher Episteme, aber auch die in vieler Hinsicht hochaktuelle und relevante Einsicht in eine charakteristisch neuzeitliche Dichotomie zwischen „Welt der Fakten" und „Wertewelt". Fedotov und Florovskiij suchten in der historisch-kritischen Aufarbeitung religiöser Praktiken und Texte eine Alternative zur dominanten Rationalität der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie der Rechtshegelianer Il'in ging auch der Linkshegelianer Kojeve weit über eine solche wissenschaftliche Historisierung hinaus und leitete aus seinen Hegel-Deutungen radikale Varianten von Geschichtsphilosophie ab. Dabei arbeitete er sich zunächst an der apokalyptisch-eschatologischen Religionsphilosophie Solov'evs ab, dann reduzierte er Hegels Erzählung von der Selbstbewusstwerdung des Geistes auf den Kampf um Anerkennung, um „Menschenrechte", der unausweichlich in ein „Ende der Geschichte" einmünden musste. Dem „Weisen" blieb danach nur noch, als Technokrat die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mitzugestalten.

Nach den Katastrophen des Krieges und angesichts der totalitären Diktatur in der Sowjetunion war Berlin mehr denn je überzeugt, mit Mitteln der Philosophie den britischen Liberalismus und Wertepluralismus verteidigen zu müssen. So wandte er sich der (russischen) Ideengeschichte zu, um die Genese aufklärerischer und gegenaufklärerischer Strömungen besser nachvollziehen zu können. Joseph de Maistres oder Edmund Burke dienten ihm als Beispiele antiaufklärerischer Positionen, an denen man die Stärken eines Liberalismus, wie ihn nicht zuletzt Alexander Herzen verkörperte, umso deutlicher herausarbeiten konnte. In The Roots of Romanticism, den gesammelten Mellon Lectures, analysierte er die Ambivalenz eines Denkens, das sowohl Gegenaufklärer wie Joseph de Maistre als auch Aufklärer wie Diderot oder Rousseau hervorgebracht hat.24 Im Fortgang seiner Untersuchungen wurde die Ideengeschichte ein Instrument der Aufklärung über die Aufklärung, die

24 Vgl. Berlin, I. The Roots of Romanticism. London: Chatto & Windus, 1999.

Historisierung der Ideen und ihrer Träger diente zur Reflexion über die Grenzen und Fragilität jeder Freiheitskonstruktion.

V. Schlussfolgerungen

So unterschiedlich die Biographien, Denkfiguren, Themen und Methoden der sechs ausgewählten Philosophen waren, sie alle praktizierten im weitesten Sinn Formen kultureller Übersetzung, um sich in westlichen Wissenschaftsinstitutionen zeitweise oder auf Dauer zu etablieren und zumeist auch um ihrer potentiellen Hörer- und Leserschaft in den Gastländern USA, Großbritannien, Frankreich, Schweiz oder Deutschland eine Vorstellung von der Spezifik russischen Denkens zu vermitteln. Daher entwickelten sich ihre Forschungen oft transnational zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen bzw. zwischen den Disziplinen und Institutionen. Folglich lässt sich diese Phase der Emigrationsphilosophie nicht auf russische Texte eingrenzen, sondern umfasst Englisch, Französisch und Deutsch als Sprachen des russischen philosophischen Diskurses. Angesichts der Zahl von nur sechs intellektuellen Biographien und des begrenzten Textkorpus lassen sich die Beobachtungen nicht auf die gesamte Emigration ausdehnen, doch können sie dazu dienen, produktive Fragen formulieren, bei denen weitere Forschung anzusetzen hätte, und neue Ansätze zu entwickeln, um diese Fragen zu beantworten. Dazu gehört eine vergleichende Übersicht über die Gesamtheit der intellektuellen Biographien aller russischen Exilphilosophen des 20. Jahrhunderts, eine Übersicht über die Formen kultureller Übersetzung und institutioneller Integration sowie ein schärferer Fokus auf Zwei- oder Mehrsprachigkeit, als dies bisher in den meisten Studien zur Philosophie der Emigration der Fall war.

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Культурный перевод как стратегия интеграции. Интеллектуальные биографии русских философов-эмигрантов после 1945 г.

Киссель Вольфганг Штефан - профессор, специалист по культуре и литературе стран Восточной Европы, сотрудник Института европейских исследований. Университет г. Бремен, Германия. Bibliothekstr. 1, Bremen, 28359, Deutschland; e-mail: kissel@uni-bremen.de

Аннотация. В статье исследуются принципы интеграции русских философов-эмигрантов в западные научные системы во второй половине ХХ в. Рассмотрены интеллектуальные биографии шести русских философов: Ивана Ильина, Георгия Федотова, Георгия Фло-ровского, Александра Койре, Александра Кожева и Исайи Берлина. Все они были тесно связаны с Россией происхождением, воспитанием, знанием языка и культуры и принадлежали ко второму и третьему этапам философии русской эмиграции, приходящимся на межвоенный период 1918-1939 гг., а также на послевоенный период начиная с 1945 г. Хотя их биографии, характерные приемы мышления, темы и методы философствования были крайне различны, они все практиковали формы культурного перевода, ставя перед собой две основные цели: во-первых, они добивались более прочных позиций внутри национальных научных систем и сообществ, во-вторых, они хотели передать своим потенциальным слушателям и читателям в США, Вели-

кобритании, Франции, Швейцарии и Германии более точное представление о способе русского мышления. По этим причинам их творчество развивалось чаще всего транснационально, между разными культурами и языками, а также между разными дисциплинами и институциями. Эти размышления приводят нас к вопросу о том, до какой степени философия эмиграции может быть ограничена русскими текстами и в какой мере западные языки, в первую очередь английский, французский и немецкий, должны рассматриваться как языки русского философского дискурса. Поскольку в данной статье представлено лишь малое количество биографий, дальнейшие исследования будут способствовать пониманию того, были ли определенные формы (и какие именно формы) культурного перевода характерны и для других русских философов в изгнании.

Ключевые слова: Русская зарубежная философия второй половины XX в., Иван Ильин, Георгий Федотов, Георгий Флоровский, Александр Койре, Александр Кожев, Исайя Берлин, культурный перевод, многоязычие, глобальный проект просвещения

Для цитирования: Kissel W.S. Kulturelle Übersetzung als Integrationsstrategie. Intellektuelle Biographien russischer Philosophen im Exil nach 1945 // Историко-философский ежегодник. 2021. № 36. С. 221-250.

Cultural Translation as a Strategy of Integration. Intellectual Biographies of Russian Philosophers in Exile After 1945

Wolfgang Stephan Kissel

Dr. hab., Professor, Literatures and Cultures of Eastern Europe. Institute of European Studies, Bremen University, Germany. Bibliothekstr. 1, GW2 B2340, 28359, Bremen, Deutschland; e-mail: kissel@uni-bremen.de

Abstract. This paper examines how Russian philosophers in exile succeeded in integrating themselves into academic and scientific institutions in the West during the second half of the 20th century. It is based on sketches of the intellectual biographies of six philosophers, such as Ivan Ilyn, George Fedotov, Georges Florovsky, Alexandre Koyre, Alexandre Kojeve, and Isaiah Berlin. None of these philosophers published exclusively in Russian, but all of them remained closely attached to Russia by birth, educa-

tion, and language. They belonged to a second and third period of Russian philosophy in exile which took place during the interwar years from 19181939 and the post-war years after 1945. Their biographies, characteristic ways of thinking, topics, and methods were highly heterogeneous. However, they all practised what may be called cultural translation in order to establish themselves in Western academic and scientific institutions and to convey a particular idea of the specificity of Russian thinking to their Western audiences and readership, be it in the USA, in Great Britain, France, Switzerland or Germany. Therefore, their academic research often crossed the borders of different cultures, languages, disciplines, or institutions. Consequently, the production of Russian philosophers in exile and of philosophers of Russian descent encompassed texts written in English, French, and German as languages of philosophical thinking. This multilin-gualism (with a certain predominance of English) could alter our understanding of the Russian emigration as a cultural phenomenon of the 20th century. As the paper presents only a limited selection of six philosophers, further studies have to analyse different forms of cultural translation.

Keywords: Intellectual biography, Russian philosophers in exile during the second half of the 20th century, integration via cultural translation, multilingualism

For citation: Kissel, W.S. "Kulturelle Übersetzung als Integrationsstrategie. Intellektuelle Biographien russischer Philosophen im Exil nach 1945", Istoriko-filosofskii ezhegodnik, 2021, No. 36, pp. 221-250.

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