Журнал интегративных исследований культуры, 2019, т. 1, № 1 Journal of Integrative Cultural Studies, 2019, vol. 1, no. 1 _www.iik-journal.ru
Семиотика культуры
UDK 82.091 DOI: 10.33910/2687-1262-2019-1-1-5-14
Aleksandr Veselovskijs Konzept der Historischen Poetik und sein Echo im kulturwissenschaftlichen Diskurs Russlands und Deutschlands
A. I. ZherebinH1
1 Russische Staatliche Pädagogische Herzen-Universität, Moika-Kai 48, Sankt Petersburg 191186, Russland
Zusammenfassung. Der Artikel ist der Genese und Transformation des Konzepts der historischen Poetik gewidmet, die in den Arbeiten des Akademikers A. N. Veselovskij geprägt worden ist. Der grandiose Entwurf des russischen Wissenschaftlers — die historische Poetik der Weltliteratur — wurde, bekannterweise, von seinem Autor nur teilweise verwirklicht, aber das von ihm geschaffene Modell der kulturhistorischen Entwicklung des ästhetischen und künstlerischen Bewusstseins wirkte in verschiedenen Formen des wissenschaftlichen Diskurses des 20. Jahrhunderts nach und verlor seine Bedeutung bis heute nicht.
Im Gegensatz zur verbreiteten Meinung über den positivistischen Charakter der Veselovskij — Methodologie werden jene Elemente seines Denkens hervorgehoben, die auf die Tradition der romantischen Geschichtsphilosophie zurückgehen. Laut Veselovskij stellt die Weltliteratur keine Sammlung vereinzelter oder nur teilweise zusammenhängender Fakten dar, sondern ein dynamisches System, das eine Analogie mit dem Modell des Weltprozesses in der russischen Alleinheits-Metaphysik möglich macht: Vom anfänglichen Synkretismus über Differenzierung und Trennung zur polyphonen „Einheit der Vielheit" zur „transrationalen Einheit von Getrenntheit und Durchdringung" (S. Frank).
Das Konzept von Veselovskij leitet die Herausbildung des Problemfeldes ein, in dem unterschiedliche Ansätze der russischen Literaturtheorie mit Methoden und Konzepten der deutschen philosophischen Literaturwissenschaft sowohl auf der Ebene typologischer Zusammenhänge, als auch auf der und kontaktbezogener Beziehungen korrelieren und beeinflussen. Dies gilt erstens für das Konzept von drei aufeinanderfolgenden Typen des künstlerischen Bewusstseins, die von Veselovskij skizziert, aber erst in der russischen Literaturwissenschaft der 1980 / — 1990er Jahre unter dem Einfluss von Ernst Robert Curtius begründet wurde, zweitens, für die Dichotomie von Stil und Synkretismus in Renate Lachmanns Studie „Literatur und Gedächtnis" (1990), drittens für die Analogie zwischen der „Poetik der Modalität" in der „Historischen Poetik" (2001) von Samson N. Broytman und der „transzendentalen Texttypologie" in „Die Ästhetik der Moderne" (2001) von Silvio Vietta.
Schlüsselwörter: Weltliteratur, Historische Poetik, Metaphysik der Einheit, Palimpsest, Polyphonie, Synkretismus, Gattung, Texttypologie.
Für das Zitieren:
Zherebin, A. I. (2019) Aleksandr Veselovskijs Konzept der Historischen Poetik und sein Echo im kulturwissenschaftlichen Diskurs Russlands und Deutschlands. Journal of Integrative Cultural Studies, Bd. 1, Nr. 1, S. 5-14. DOI: 10.33910/2687-1262-2019-1-1-5-14 Erhalten am 11. April 2019; von Experten begutachtet am 19. Juni 2019; akzeptiert am 19. Juni 2019.
Copyright: © Der Autor (2019). Veröffentlicht von der Staatlichen Pädagogischen Herzen Universität, Russland. Offener Zugang unter CC BY-NC License 4.0.
The idea of historical poetics in the works of A. N. Veselovsky and its reflections in the Russian and German scientific discourse
A. I. Zherebin™
1 Herzen State Pedagogical University of Russia, 48 Moika River Emb., Saint Petersburg 191186, Russia
For citation: Zherebin, A. I. (2019) Aleksandr Veselovskijs Konzept der Historischen Poetik und sein Echo im kulturwissenschaftlichen Diskurs Russlands und Deutschlands. Journal of Integrative Cultural Studies, vol. 1, no. 1, pp. 5-14. DOI: 10.33910/2687-1262-2019-1-1-5-14
Received 11 April 2019; reviewed 19 June 2019; accepted 19 June 2019.
Copyright: © The Author (2019). Published by Herzen State Pedagogical University of Russia. Open access under CC BY-NC License 4.0.
Abstract. The paper is devoted to the formation and transformation of the idea of historical-literary synthesis, outlined in the works of Academician A. N. Veselovsky. The grandiose conception of the Russian scientist — the historical poetics of world literature — was, as it is well-known, only partially realised by its creator. However, the stage model of the cultural-historical development of artistic consciousness, which he developed, has been represented in various forms of the 20th century scientific discourse and has not lost its significance. Contrary to popular belief regarding the positivist limitations of Veselovsky's methodology, the author of the article emphasises the systemic nature of his thought, based on the tradition of the romantic philosophy of history. According to Veselovsky, world literature is not just a collection of single isolated or only partially related facts, but a kind of a complex system, a dynamic palimpsest, allowing an analogy with the model of the world process of unity in Russian metaphysics, from initial, "continuous" syncretism through differentiation and separation, to the polyphonic unity of the sets, according to a later definition by S. L. Frank, "the transrational unity of separateness and interpenetration" Veselovsky's research forms the problem field, in which various transformations of historical poetic principles established in Russian literary theory correlate and interfere with the methods and concepts of German philosophical literature on the level of both typological and contact links. Such are, firstly, the concept of three types of artistic consciousness that succeed each other, outlined by Veselovsky and established in the Russian literary science in the 1980 and 1990s under the influence of E. R. Curtius; secondly, the dichotomous model of culture substantiated in the 1990s in the works of Renate Lachmann; and thirdly, the analogy between the category of artistic modality in "Historical poetics" (2001) by S. N. Broitman and the transcendental typology of genres in "The Esthetics of the Modern Age" (2001) by S. Vietta.
Keywords: world literature, historical poetics, metaphysics of unity, palimpsest, polyphony, syncretism, typology of genres.
I.
Die Historische Poetik gilt als eine russische Erfindung (Kemper 2013). Ihr Begründer ist, wie bekannt, Aleksandr N. Veselovskij (1838-1906), dessen groß angelegter Entwurf einer neuen Wissenschaft in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts fällt.
Als Veselovskij den Lehrstuhl für die Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität in Sankt-Petersburg übernahm (1872), schwebte ihm eine auf der Basis der vergleichenden Methode wachsende, historisch unterbaute diachronische Formenlehre vor — eine Art Formgeschichte der Weltliteratur, — die das Verhältnis von Inhalt und Form in seinem Werden seit mythisch-rituellen Ursprüngen über Jahrhunderte ernst zu nehmen
hatte. Seinen Gleichgesinnten in Deutschland sah Vesselovskij in Wilhelm Scherer, dessen postum erschienene „Poetik" (1888) er in dem Artikel „Die Definition der Poesie" (1888-1890) als „das einzige meinen eigenen Vorstellungen entgegenkommende Buch" (Veselovskij 2006, 84) einschätzte, weil diese das idealistische Systemdenken Hegelscher Prägung hinter sich ließe (Vgl. Mikhajlov 1998; Shaytanov 2006).
Doch weder in Deutschland, noch in Russland ist das Projekt der Historischen Poetik verwirklicht worden. Was eine wissenschaftliche Fachpoetik großen Stils werden sollte, teilte sich in beiden Ländern auf vergleichbare Weise: In der deutschen Wissenschaft differenzierten sich einerseits die psychologisch-synthetische Richtung, die von Wilhelm Dilthey ausging, andererseits
die ästhetisch-analytische Stilforschung von Oskar Walzel. Der letzteren entsprach gewissermaßen der russische Formalismus, der ersteren — die philosophische Literatur-und Sprachwissenschaft des Bakhtin-Kreises.
An der Petersburger Universität verwalteten das Veselovskij-Erbe seine unmittelbaren Schüler, die vor allem genetische Gattungsforschung betrieben, wie etwa der Romanist Vladimir F. Sismarev oder der Germanist Fjodor A. Braun. Der folgerichtigste Propagandist der Historischen Poetik in den dreißiger Jahren war Viktor M. Zirmunskij, der Begründer der sowjetischen Komparatistik, die er mit Recht als die Fortsetzung der historischvergleichenden Methode Veselovskijs betrachtete. Abgesehen von Bachtin, sind es der Folklorist Vladimir Propp („Die Morphologie des Volksmärchens", 1928), der Sagen-Forscher Aleksandr P. Skaftymov („Poetik und Genesis der Sage", 1924) und die Mythos-Forscherin Olga Freidenberg („Poetik der Gattung und des Sujets", 1936; „Der Mythos und die Literatur des Altertums", 1978, verfasst um 1930), die durch ihre bahnbrechende Entdeckungen im Vorfeld des europäischen Strukturalismus die Relevanz der Historischen Poetik erneut bewiesen haben. Alle setzten sich mit Veselovskijs Ideen auseinander, wussten aber, wie viel sie diesen Ideen verdanken.
In der Nachkriegszeit und besonders im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelten die Ansätze der Veselovskij-Poetik Orientalisten (I. Dyakonov), Indologen (P. Grintser) und Skan-dinavisten (M. Steblin-Kamenskij); zudem mit deutlichstem Bezug auf Veselovskij der Zirmunskij-Schüler Eleasar M. Meletinskij, dessen Arbeiten („Poetik des Mythos", 1976; „Einführung in die historische Poetik des Epos und des Romans", 1986; „Historische Poetik der Novelle", 1990) zum Kanon der russischen Literaturwissenschaft von heute gehören.
Der neue Aufschwung des Interesses für die Historische Poetik als theoretische Fundierung der russischen Literaturwissenschaft macht sich in den achtziger Jahren bemerkbar, insbesondere nachdem Sergej Averincev seine byzantinische und antike Studien durch theoretische Implikationen auf den Dialog mit der Kultur der Moderne hin gestaltet, und Alexandr Michajlov das Forschungsfeld der historischen Poetik über die Grenzen der Medievistik hinaus erweitert. Die erneute Hinwendung zur Historischen Poetik als basaler Theorie bezeugen vor allem zwei akademische Sammelbände: „Historische Poetik. Forschungsbericht und Perspektiven" (Khrapchenko 1986) und „Historische Poetik. Literarische Epochen und Typologie des künstlerischen Bewusstseins" (Grintser 1994).
Der Grund für diese Aufwertung lag wahrscheinlich in der Krise sowohl der Literaturgeschichte, die angesichts des nahenden Zusammenbruchs der marxistischen Legitimation, jedes Ordnungsprinzip in einer Art destruktiven Selbstanalyse in Frage zu stellen begann, als auch der Literaturtheorie, die von immer deutlicherem Bewusstsein gelähmt wurde, wie oft sie die Gefahr läuft, sich auf abstrakt-logischer Ebene bewegend, am widersprüchlichen Reichtum der literarhistorischen Fakten vorbeizudenken. In diesen Verhältnissen hatte die revidierte Historische Poetik die Aufgabe, den Folgen der unproduktiven Ausdifferenzierung der literaturwissenschaftlichen Diskurse (Literaturgeschichte, Literaturtheorie, Komparatistik) entgegenzuarbeiten und einerseits zur Konzeptualisierung der Literaturgeschichte (samt Komparatistik), andererseits zur Konkretisierung der Literaturtheorie beizutragen.
Die knappste Definition der Historischen Poetik von Veselovskij lautet: „Die Aufgabe der Historischen Poetik ist, die Funktion und die Grenzen der Überlieferung im Prozess der individuellen Produktion zu bestimmen" (Veselovskij 1940, 493). Ähnlich die erweiterte Fassung:
„Die historische Poetik hat zu verfolgen, auf welche Weise neue Lebensinhalte, dieses Element der Freiheit, das mit jeder neuen Generation hereinströmt, die alten Bildfelder durchströmt, diese Formen der Notwendigkeit, in die sich jede vorhergehende Entwicklung ergossen hat" (Veselovskij 1940, 52).
Im Mittelpunkt steht also nicht die Poetologie, sondern vielmehr eine sogenannte implizite Poetik der literarischen Werke. An ihnen sollte gezeigt werden, wie die verkrusteten Wahrnehmungsstrukturen aufgebrochen und unter dem Andrang der neuen Lebensinhalte sich so verwandeln, dass sich immer doch ein Bleibendes an formtypischer Prägung im historischen Wandel durchhält. Daraus folgt, dass die Historische Poetik neben der genetischen Forschung auch das retrospektive Intertex-tualitätsverfahren von Anfang an voraussetzte, das moderne Texte zum Ausgangspunkt machen konnte, um latente und verborgene Spuren von Texten der Vergangenheit, die Spezifik von deren Trans-formations-und Transpositionsmodi in ihnen zu erschließen, wie es etwa Meletinskijs Arbeiten über die Funktion der mythologischen Strukturen im Roman des 20. Jahrhunderts (Th. Mann, Musil, Kafka etc.) vorführen (Meletinskij 2001).
II.
Oft genug wird behauptet, dass die Poetik von Veselovskij durch den Einfluss der zeitgenössischen Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts geprägt
worden ist und sich die utopische Aufgabe stellte, „die ganze Vielfalt der Weltliteratur, von ihren frühesten Entwicklungsstufen an zu ordnen und wie die Tabelle chemischer Elemente überschaubar zu machen" (Mikhajlov 1995, 193). Im Folgenden möchte ich aber auf eine andere, wenn auch damit zusammenhängende Grundvorstellung aufmerksam machen, die über den naturalistischen Monismus in Richtung des neuromantischen Konzepts einer absoluten Realität hinausführt.
Was es mit dieser Vorstellung auf sich hat, ist seit der romantischen Poetisierung der Welt bekannt. Die absolute Realität sei der Gegensatz zur illusionären empirischen Wirklichkeit der Wissenschaft und der Geschichte. Sie entstehe im Binnenraum der modernen Subjektivität, durch deren mystische Entgrenzung und Transgression. Sie sei das Kunstwerk der entgrenzten Seele, die Totalität des ästhetisch konstituierten Sinnzusammenhanges. Sie sei weiterhin ein kreatives Weltprinzip und eine nie zu erschöpfende Potenzialität, die sich nicht «ante res», sondern allein „in rebus" behauptet, im permanenten Werden und Vergehen der endlichen Dinge. In ihr seien sämtliche Spaltungen und Grenzen aufgehoben, die das Weltbild der rationalistischen Moderne geprägt haben, letztlich auch diejenige zwischen Transzendenz und Immanenz. Ihre Einheit sei jedoch nicht abstrakt, sondern konkret, d.h. sie stelle eine in sich differenzierte Einheit der Vielheit dar. Zu ihrer vollen Entfaltung komme sie nur in der Totalität aller Erscheinungen, aber jede einzelne Erscheinung trage in sich das Ganze als Potenzialität, sei eines dessen Organe, sei die Äußerung und Seinsmodus jenes Allzusammenhanges, in dem sie gerechtfertigt sei und den sie in individueller Form zum Ausdruck bringe.
Im Russland des späten 19. Jahrhunderts hat die „Metaphysik der konkreten Alleinheit" eine große Karriere gemacht, die bis in die Nachkriegszeit zu verfolgen ist. Eine von ihrer Ausprägungen vertrat der Anfang der zwanziger Jahre aus der Sovjet-russland ausgewiesene Simon Frank, der Erfinder der „Wir-Philosophie".
„Das Wir, schrieb er 1926 im Aufsatz «Die russische Weltanschauung, ist, kurz gesagt, ein konkretes Ganzes von der Art, dass nicht nur seine Teile in ihm allein existieren können und von ihm untrennbar sind, sondern dass es innerlich seine Teile durchdringt und in jedem vollständig anwesend ist. Das Ich in seiner Eigentümlichkeit und Freiheit wird dadurch aber gar nicht verneint, sondern die Meinung ist eben die, dass es seine Eigentümlichkeit und Freiheit aus diesem Zusammenhang mit dem Ganzen überhaupt erst erhält, dass es sozusagen seinen Lebenssaft aus der überindividuellen Ganzheit der Menschheit schöpft — so, wie ein Blatt
am Baum, das sich äußerlich mit einem anderen Blatt gar nicht oder nur zufällig berührt, innerlich aber durch die Vermittlung von Zweigen und Ästen mit dem Stamme als Ganzem und also auch mit allen übrigen Blättern verbunden ist und ein gemeinsames Leben mit ihnen führt. Es ist sozusagen eine Wir-Philosophie im Gegensatz zur Ich-philosophie des Westens" (Frank 1926, 23).
Es ist dieses substanzialistische Modell, dem auch Veselovskijs Entwurf der Historischen Poetik verpflichtet ist. Die Weltliteratur wird als eine konkrete All-Einheit gedacht, Einheit der Vielheit, die die Summa der ganzen literarischen Überlieferung umgreift, in der jedes neue literarische Werk verwurzelt ist und die es gegen den Anschein geschichtlicher Innovation letztlich nur abwandelt und in modifizierter individueller Form expliziert. „So wie ein Blatt am Baum" wird auch das Subjekt der Kulturgeschichte vorgestellt, sei es ein Einzelwerk oder eine literarische Gattung, ein wissenschaftlicher Diskurs oder ein Kommunikationssystem, eine historische Epoche oder eine nationale Literatur.
Das Wurzelwerk des Baumes, von dessen Lebenssaft alles lebt, darf als eine Metapher für die europäische Kulturtradition in ihrer Dynamik gelten, wodurch auch das gegenseitige Verhältnis der Kultursubjekte eine grundsätzliche Veränderung erfährt: Dem positivistischen Prinzip der mechanischen Kausalität wird das der verdeckten organischen Verwandtschaft und Konvergenz, der symbolistischen «correspondance» gegenübergestellt. Jedes Subjekt der Kulturgeschichte ist zwar ein individuelles Zeichensystem, aber nicht isoliert, hat keine absolute Grenze und „führt ein gemeinsames Leben mit allen anderen". Es ist eine Art semiotische Persönlichkeit, die sich nur im Blick des Anderen konstituieren kann, nur im Erlebnis des Anderen als seines „Du", mit dem es verbunden und in der letzten Tiefe identisch ist. So sind auch das Eigene und das Fremde, beispielsweise das Blatt der Moderne und das der Antike, oder das der deutschen und das der russischen Kultur untrennbar in gegenseitigen Projektionen der Selbstoffenbarung und Selbstwerdung amalgamiert.
Den deutschen Wissenschaftler wird das Konzept der Historischen Poetik wohl an Ernst Robert Cur-tius erinnern, insbesondere an seine gegen die scharfe Abgrenzung literarischer Epochen und literaturwissenschaftlicher Disziplinen gerichtete Passage:
«Humanismus, Renaissance, Klassik, Romantik, Vorromantik, Vorhumanismus — mit dieser ärmlichen Ausrüstung ist nichts mehr zu machen [...] (Curtius 1992, 396). Die europäische Literatur ist der europäischen Kultur zeitlich koexistent umfasst
also einen Zeitraum von etwa sechsundzwanzig Jahrhunderten (von Homer bis Goehte gerechnet). [...]. Wer nur das Mittelalter und die Neuzeit kennt, der versteht nicht einmal diese beiden. Denn auf seinem kleinen Beobachtungsfeld findet er Phänomene wie „Epik", „Klassik", „Barock" (d.h. Manierismus) und viele andere vor, deren Geschichte und Bedeutung nur aus den älteren Zeiträumen der europäischen Literatur zu verstehen ist. Die europäische Literatur als Ganzes zu sehen, ist nur möglich, wenn man sich ein Bürgerrecht in allen ihren Epochen von Homer bis Goethe erworben hat [...]. Die Aufteilung der europäischen Literatur unter eine Anzahl unverbundener Philologien verhindert das fast vollkommen» (Cur-tius 1992, 22).
Ebenso dachte auch Bachtin, der oft Jahrhunderte überspringt, um auf entlegenste Bestände zurückzugreifen und etwa mittelalterliche Narrenspiele und die Avantgarde sich im gemeinsamen Raum der fast zeitlosen Lachkultur überschneiden zu lassen. Generell stimmt für Bachtin, was auch Curtius schreiben könnte: „Nichts geht im großen Zusammenhang der Weltkultur verloren, alles wacht zum neuen Leben auf, jedes Faktum erhält seinen Sinn über das Andere" (Bakhtin 1995, 8).
Die Übereinstimmung zwischen Curtius und dem russischen, bachtinschen Konzept der großen Zeiträume ist kein Zufall, auch keine bloß typolo-gische Parallelität. Als Mittler wirkte der Dichter und Theoretiker des russischen Moderne Vjaceslav Ivanov, der seit Ende der zwanziger Jahre in Italien lebte. Sein Briefwechsel mit Curtius bezeugt eine große geistige Affinität, auf die Michael Wachtel im Artikel „Vjaceslav Ivanov als missing link in Ernst Robert Curtius Kulturphilosophie" eingeht (Wachtel 1992, 72-106).
Ich möchte nur unterstreichen, dass es vor allem Ivanovs Konzept des kulturellen Gedächtnisses ist, von dem Curtius schrieb, er verdanke seinem russischen Freund die Initiation. Im Hauptwerk von Curtius ist zu lesen:
«Erinnerung (Mnemosyne) ist nach dem griechischen Mythos die Mutter der Musen. Die Kultur, sagt Wjatscheslaw Iwanow, ist die Erinnerung an die Weihen der Väter: „In diesem Sinne ist die Kultur nicht nur monumental, sondern auch initiativ im Geiste. Denn die Erinnerung, die oberste Herrscherin, läßt ihre wahren Diener der Initiationen der Väter teilhaftig werden und vermittelt ihnen, indem sie solche in ihnen erneuert, die Kraft neuer Anfänge, neuer Ansätze. Die Erinnerung ist ein dynamisches Prinzip; das Vergessen ist Müdigkeit und Unterbrechung der Bewegung, Niedergang und Rückkehr zum Zustand einer relativen Trägheit"» (Curtius 1992, 398-399).
Und ein paar Seiten weiter noch eine Erwähnung des Russen: „Kultur als initiative Erinnerung. Iwanow schrieb seine Gedanken 1920 im Moskauer Erholungsheim für Arbeiter der Wissenschaft und Kultur" (Curtius 1992, 400).
Ivanovs Formel „Kultur als initiative Erinnerung" bildet bei Curtius den Angelpunkt seines Traditionsverständnisses. Er hält es beiden falschen „Idealbegriffen" entgegen, an die das Verhältnis zur Tradition gebunden wurde — dem einer „Schatzkammer" und dem einer „tabula rasa". Das einzig Produktive sei der Dialog mit der Vergangenheit, die Einbeziehung der „Toten" und die Umbildung der Tradition im Medium des modernen Bewusstseins. Genau das meinte ein Vierteljahrhundert vor Curtius der gleichfalls von Ivanov inspirierte Ossip Mandelstam, der Meister des poetischen Weiterschreibens: „Der gestrige Tag ist noch nicht geboren worden. Homer, Shakespeare, Goethe — es gab sie noch nicht wirklich. Aber welch große Vorahnungen!" (Mandelshtam 1990, 169-170). Und etwa ein Vierteljahrhundert nach Curtius wiederholt Gadamer: „Sie (die Überlieferung) ist nicht einfach eine Voraussetzung, unter der wir schon immer stehen, sondern wir erstellen sie selbst sofern wir verstehen, am Überlieferungsgeschehen teilnehmend, und es dadurch weiter bestimmen" (Gadamer 1965, 277).
Auch diese Art, die Tradition zu verstehen, geht auf die „Sattelzeit" der Moderne zurück. Der Dichter habe mit der Tradition, wie Bildhauer mit Bronze zu arbeiten, sagt Novalis und erläutert: „Die Zeit vor der Welt liefert gleichsam zerstreute Züge der Zeit nach der Welt, wie der Naturstand ein sonderbares Bild des ewigen Reiches ist. In der künftigen Welt ist alles wie in der ehemaligen und doch alles ganz anders. Die künftige Welt ist das vernünftige Chaos, das Chaos, das sich selbst durchdrang" (Novalis 1907, 309).
Offensichtlich steht dahinter das idealistische Paradigma der Heilsgeschichte mit dem DreiPhasen-Modell von Einheit, Entfremdung und neuer gesteigerter Einheitserfahrung. Die Historische Poetik knüpft daran unausgesprochen an, indem sie quer zu den traditionellen Mikroepo-chenbegriffen drei große Stadien oder Paradigmen der Kunst-und Kulturgeschichte thematisiert.
Das erste Stadium bzw. Paradigma — die Vorgeschichte der Kunst — wird in einem Zeitraum von Paleolitis bis 5-6. Jahrhundert v. Chr. verortet. Die Leikodierung dieses Stadiums, von der sie geprägt und gesteuert wird, ist der Mythos. Das Ritual, durch den der kollektive Glauben an den Mythos zum Ausdruck kommt, beinhaltet, nach Veselovskij, Ansätze der künftigen Kunstgattungen (Lyrik, Epos, Drama), indem es den Ton, die Geste
und das Wort verbindet, noch bevor eine die Zei-chensystheme diversifizierende Entwicklung einsetzt. Daher der von Veselovskij geprägte Begriff des archaischen Synkretismus, der vorliteraische Formen der Urdichtung auszeichnet. Die archaische Dichtung, die sich nach und nach aus der polifunktio-nalen Kommunikationssituation der Ritualhandlung herauslöst, kennt noch keine distinkte Redeziele und folglich keine Differenzierung in Redegattungen und entsprechende Stile (Veselovskij 2006, 173-200).
Bereits bei Veselovskij meint jedoch der Begriff „Synkretismus" — über die Gattungspoetik hinaus — auch das Weltbild des archaischen Menschen, jene ganzheitliche Weltschau, für die Ich und Umwelt, Wort und Ding, Ton und Duft, Ritus und Alltag, Kunst und Leben im Verhältnis der vorreflexiven semantischen Identität stehen. Viele Merkmale dieses archaischen Weltbildes werden dann, besonders seit der romantischen Auflehnung gegen die rationalistische Moderne und namentlich im Symbolismus und Avantgardismus des 20. Jahrhunderts redselig aufgewertet und sehnsüchtig aufgerufen. Ein Beispiel für die bewusste Wiederaufnahme des „archaischen Kodes" in der Dichtung der Moderne bietet etwa Rainer Maria Rilkes Entgrenzungspoetik, in der „die Eigenschaften werden zu Allerschaften" (Musil 1984, 278; Pavlova 2011, 221-234).
Im zweiten Stadium, das, Curtius nach, sechsundzwanzig Jahrhunderte von Homer bis Goethe umfasst, dominiert die Rhetorik, es herrschen Logos und Stil, Kanon und Hierarchie. Der Übergang zum neuem Paradigma bedeutet die Verdrängung der Leitidee „Mythos" durch die Leitidee „Logos". Die Abspaltung des Individuums von dessen Umwelt und die wachsende Entfremdung der Wirklichkeit wird durch die Erfindung der metaphysischen Universalien und die Zweiteilung der Welt abgefangen. Das Prinzip „Logos" restituiert die brüchige Totalität, indem es die semantische Identität durch die semantische Struktur ersetzt.
Durch die Vermittlung der Universalien, die, nach Aristoteles, als prägendes Prinzip der inneren forma der Erscheinungswelt innewohnt, wird die fremdgewordene Welt wieder gezähmt und als Gegenstand der mimesis naturae für das Individuum zurückgewonnen. Die logischen Begriffe, die der Wirklichkeit zugrunde gelegt werden, finden ihre Entsprechung in den ewigen idealen Kunstnormen, an die ihre Nachahmung gebunden wird und die der literarische Kanon zu vertreten hat. Der Vormacht der Idee über die empirische Wirklichkeit entspricht die Vormacht der literarischen Normen über ihre konkrete individuelle Ausprägungen, die als imitatio der normgerechten Muster gedacht werden. Die Kunst wird zum Spiel nach
den vorgegebenen Regeln, die in theoretischen Metatexten von Aristoteles bis „bon goût" — Ästhetik des Klassizismus formuliert und reflektiert werden. Sergej Averintsev bezeichnete das zweite Stadium der Literatur-und Kulturgeschichte als das des „reflexiven Traditionalismus" oder des „rhetorischen Wortes".
Der Übergang vom ersten zum zweiten Stadium bildete, wie schon angedeutet, das Hauptthema der russischen Forschungen in der Nachfolge von Veselovskij die sich im Bereich der Medievistik auf der Ebene der genetischen Gattungspoetik konzentrierte. Weniger Aufmerksamkeit schenkte man der Grenze zwischen dem zweiten und dem dritten Stadium, die ebenso fließend und problematisch, als Domäne der Neueren Literaturgeschichte galt und bis 1980-er Jahre fast ausschließlich im Rahmen der Opposition von Aufklärung und Romantik gedeutet wurde.
Erst nach der Publikation des „Rabelais" (Bakhtin 1965) von Bakhtin stellte sich immer deutlicher heraus, wie häufig die Herrschaft des Logos und des Stils schon seit Mittelalter unterminiert und in Frage gestellt wurde, indem der offiziellen Gattungsund Stilpoetik eine Art antirhetorische Gegenpoetik entgegentrat, ohne jedoch sie zu einem expliziten Metatext ausgeformt zu haben. Unter der Kultur des Logos lauerte eine zweite, inoffizielle Kultur, die in der Volkstradition stand und der Tendenz zur Detotalisierung, Dehierarhisierung und Dekanonisierung Ausdruck gab. Auf Veselovskijs Arbeit „Romangeschichte oder Romantheorie?" (1886) zurückgreifend, verband sie Bachtin mit dem Aufstieg des Romans als einer synkretischer, stilmischender Gattung par exellence (Tamarchenko 2011, 263-302).
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wird der Roman zum Kernbereich der antirhetorischen Poetik. Seine Durchsetzung ist ein Zeichen für den Übergang zum dritten Stadium der Weltliteratur, das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beginnt und einen gegenwartsbezogenen, zukunftsoffenen Zeitkontinuum beschreibt. Die Literatur wird zum Spiel nach den Regeln, die durch das Spiel selbst hervorgebracht werden, sie generiert eine moderne Produktions-und Ausdrucksästhetik. Die Autoren des Bandes „Historische Poetik" (Averintsev, An-dreev, Gasparov, Grintser, Mikhajlov), dessen Erscheinen 1994 den Durchbruch des poetologischen Drei-Phasen-Schemas bedeutet hat, bezeichnen dieses Stadium als „Poetik der individuellen Autorschaft" bzw. als „Epoche des schöpferischen Bewusstseins" (Grintser 1994, 32-38), Valerij Typa später als „Poetik der Kreativität" (Typa 2004, 96105), Samson Brojtman als „Poetik der Modalität" (Brojtman 2001, 253-269). Sämtliche Definitionen
betonen den Bruch mit dem Traditionalismus und dem Prinzip der Nachahmung, die in der Leitidee „Logos" ihre Begründung hatten.
Durch die Transzendentalphilosophie wird diese Begründung außer Kraft gesetzt. Die Funktion des Logos — die der Vermittlung zwischen Ich und Wirklichkeit — übernimmt die Subjektivität des Autors, die zum Schlüsselbegriff der modernen Poetik und zentralen Konstruktionsprinzip der dargestellten Welt avanciert. Die Literatur der Moderne eröffnet ihre Sicht der Wirklichkeit in und durch das Medium eines subjekthaftes Bewusstseins, unter ihrer Modalität.
Doch selbstsicher und unproblematisch ist dieses Bewusstsein nie gewesen. Seit der Romantik gerät das Konzept der Subjektivität in Krise und Wandlung, die darauf hinausläuft, dass sie weder ein naturabhängiges Produkt der empirischen Wirklichkeit, noch eine autonome, die Wirklichkeit setzende Entität ist. Für das erstere steht etwa das negative Bild des Automaten, für das letztere das der fälligen Bau, wie es etwa Rilke in der „Achten Duineser Elegie" entworfen hat: „Wir ordnens. Es zerfällt, / Wir ordnens wieder und, / Zerfallen selbst" (Rilke 1987, 68-69). Nicht erst bei Rilke, sondern bereits in der romantischen Mystik setzt eine Positivierung des Ich-Zerfalls ein, weil er möglich macht, „daß man eins wird mit den Wesen außerhalb von unserem Selbst" (Baudelaire 1975, 176).
Weder Herrscherin, noch die Beherrschte, bedeutet die Subjektivität vielmehr einen Sinnraum, in dem das autonome Ich sich entgrenzt, zu dem Anderen in Beziehung tritt und sich erst durch diese Beziehung als wahres Welt-Ich konstituiert. Ein Dichter, der seine Subjektivität zum Ausdruck bringt, schafft eine modale Realität, die sich durch den Gegensatz von Geist und Natur definiert und dessen Aufhebung in Aussicht stellt, damit das Subjekt, ohne seine Autonomie einzubüßen, zum Träger der überpersönlichen Bindungen werden kann. Bachtin spricht von einer „autonomen Partizipation" (Bakhtin 1979, 36), der auf der Ebene der Werkpoetik entgrenzte heteronome Strukturen und Verfahren entsprechen (Interauktoralität, In-tertextualität, Intermedialität und die Idee des Gesamtkunstwerks, die Groteske und andere Mischformen in der Bildstruktur), die das von Samson Brojtman in seiner „Historischen Poetik" (2001) ausgewiesenes Phänomen des „Neusynkretismus" der Moderne begründen.
III.
Das dritte Stadium der Literaturgeschichte beinhaltet genau diejenige Erscheinungen und Prozesse, die von der deutschen Moderneforschung
über den Begriff der ästhetischen Moderne als Makroepoche definiert wird (Kemper 1998, 97-126). Während für die russische Literaturgeschichtsschreibung der erweiterte Modernebegriff bis heute ein gewagtes Novum darstellt, kennt sie die Historische Poetik spätestens seit Anfang der 1980-er Jahre, als Sergej Averintsev (Averintsev 1981, 3-14) und Aleksandr Mikhajlov (Mikhajlov 1983, 99-135) deutliche Zeichen des großen Paradigmenwechsels — von der Poetik des vorgegebenen rhetorischen Wortes zur Poetik des Autors — an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert feststellen. Die „Sattelzeit" der Moderne thematisierte man in Russland, ohne den Begriff „die Moderne" bemüht zu haben, unter dem Namen der Epoche des Bruchs mit der Tradition des rhetorischen Wortes und des Übergangs zur Poetik der personalen Kreativität.
Da die neuesten Trends der deutschen Kulturwissenschaft im Russland von damals kaum zugänglich waren, berief man dabei nicht etwa auf begriffsgeschichtliche Analysen von Reinhard Kosellek oder Niklas Luhmann, sondern auf die Autoren und literarturwissenschaftliche Texte der Nachkriegszeit. Man kannte beispielsweise Paul Böckmann, bei dem in der „Formgeschichte der deutschen Dichtung" (1949) zu lesen war:
„Wenn das sinnbildende Sprechen auf die Schöpfungsordnung bezogen blieb und sie in Sinnbildformen zur Geltung zu bringen suchte, so weist das ausdruckshafte Sprechen nun ganz auf das Personsein des Menschen zurück, um allein von der inneren Selbstgewißheit aus alle objektive Ordnung zu bewältigen. <...>. Insofern wird man sagen können, daß die literarische Formgeschichte seit Herder und dem Sturm und Drang nichts anderes sichtbar machen konnte, als die Entfaltung der Ausdruckssprache zur Vielfalt der ihr eigenen Möglichkeiten. Die üblich gewordenen Einteilungen in Klassik, Romantik, Realismus, Naturalismus, Symbolismus sind nichts anderes, als jeweils bestimmte Folgerungen ais der Grundsituation des ausdruckhaften Sprechens und eines verschieden begriffenen individuellen Persönlichkeitsbewusst-seins" (Böckmann 1965, 692).
Als wichtigster Vorläufer des literarhistorischen Denkens in Langzeitzusammenhängen galt seit dem Erscheinen Alexandr Michajlovs Artikel „Historische Poetik im Kontext der westeuropäischen Literaturwissenschaft" (Khrapchenko 1986, 53-71), Curtius, der insbesondere durch das Schlußkapitel seines Werks („Nachahmung und Schöpfertum") das im Vorwort gegebene Versprechen eingelöst hatte: „Wir werden zeigen können, dass <...> um 1750 ein Bruch der mehr als tausendjährigen literarischen Tradition Europas zu Tage tritt" (Curtius 1992, 33).
Dies zu zeigen vermochte in Russland vor allem Samson N. Brojtman, der schon erwähnte Verfasser des letzten fundamentalen Werks zur Historischen Poetik. Brojtmans zentrale Konzepte — „Poetik der Modalität" und „Neusynkretismus" — sind unter anderem dadurch von Bedeutung, dass sie deutliche Parallelitäten mit den theoretischen Gedankengängen in der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaft der letzten Jahrzehnte aufweisen.
Ein Beispiel dafür wäre etwa der von Renate Lachmann (etwa zehn Jahre vor Brojtman) eingeführte Begriff des „sekundären Synkretismus", den sie von Veselovskij übernimmt und, auf Bakhtin anpassend, zur großen kulturgeschichtlichen Alternative von „Stil" aufbaut:
„Geht man von einem dichotomischen Verhältnis zwischen Stil einerseits und Synkretismus andererseits aus, dann läßt sich Stil in Bezug auf Gattung, Sprache und Kultur als ein Ensemble von Strategien des Ausschlusses und der Homogenisierung, zugleich aber auch als ein Interpretationsmodell betrachten, das die genannten Bereiche zu totalisieren versucht. Synkretismus hingegen erscheint als detotalisierende, im Betreten der vom Ausschluß betroffenen Gebiete und in der Überschreitung der Homogenisierungsgrenzen sich gegen den Stil richtende Einstellung. Beide Einstellungen, die stilistische und die antistilistische, bestimmen in ihrem antagonistischen Spiel die Geschichte der europäischen Texte und der ihnen entsprechenden Theorien" (Lachmann 1990, 200).
Nach Renate Lachmann, bildet die rhetorische Gattungs-und Stillehre ein Teilsystem und einen Ausdruck eines übergreifenden Kulturmodells, das sich durch eine Reihe von antisynkretistischsen Wertsetzungen repräsentiert. Zu den letzteren zählt Lachmann etwa, Totalisierung, Kanonisierung, Reinheit der Gattung und des Stils, Geschlossenheit der Form, Einhaltung der sozialen Konvention und des offiziellen Konsens, Ausrichtung auf Maß und Harmonie, Positivität, Teleologie und Monovalenz. Damit beschreibt sie gerade diejenige Langzeitepoche, die im russischen wissenschaftlichen Diskurs unter dem zweiten Stadium der Weltliteratur (dem des reflexiven Traditionalismus) verstanden wird, während das gegensätzliche durch den „sekundären Synkretismus" kodierte Kulturmodell genau dem neusynkretistischen 3. Stadium nach Brojtman entspricht. Der sekundäre Synkretismus, da er den hierarchischen Stil immer mitreflektiert, wird von Lachmann als Stil höherer Komplexität, bzw. als Metastil bezeichnet (Lachmann 1990, 200-221).
Ein anderer theoretischer Ansatz, der mit der Modalitäts-und Synkretismus-Konzept der russischen historischen Poetik zu interferieren scheint,
ist die „Transzendentale Texttypologie" der Moderne, die Silvio Vietta in der „Ästhetik der Moderne" begründet (Vietta 2001, 179-296; Vietta 2005, 385-387).
„Wie, unter welcher Modalität des Bewusstseins erfährt der Held seine Welt?", fragt Vietta, und unterscheidet sechs nach der Dominanz der Per-zeptionsform ihrer Protagonisten zu differenzierenden Texttypen, die jeweils alle Ausdrucksformen der Sprache, ihre Syntax und Semantik umfassen und insgesamt die literarische Moderne kennzeichnen: Textualität der Emotion, Textualität der Imagination, Textualität der Erinnerung, Textualität der Assoziation, Textualität der sinnlichen Wahrnehmung, Textualität der Reflexion.
Bezieht man diesen Ansatz auf das Phänomen des modernen Neusynkretismus in der Sicht der Historischen Poetik, so ergibt sich die Möglichkeit, dieses Phänomen auch auf der Ebene der subjektzentrierten Sprechformen zu profilieren. Es ist nämlich nur eine oberflächliche und konventionelle Homogenität, die der Text durch die Dominanz einer bestimmten Wahrnehmungsform aufweist. Viettas Textanalysen vermitteln eher den Eindruck, daß die jeweilige Textklasse als ein heuristisches Konstrukt zu verstehen ist, der dazu da ist, um durch genaue Darstellung der Berührungen und Übergänge relativiert zu werden. Je genauer man zusieht, umso deutlicher kommt zum Vorschein, dass jeder Text und Texttypus eine komplexe polyphone Struktur der gleitenden, einander wechselseitig dominierenden heterogenen Sprechformen bildet, samt semantischen und kulturellen Erfahrungen, die sie akkumuliert haben.
„Generell, räumt Vietta ein, gilt für alle Textformen, dass sie nicht scharf gegeneinander abgegrenzt sind, sondern sich miteinander verbinden. [...]. Viele Texte der literarischen Moderne gehören somit mehreren Textklassen an. [...]. Die Mischung von Texttypologien im Text bedingt eine spezifisch moderne, komplexe und zugleich fragmentarische Struktur. Vormoderne Texte bewegen sich häufig unreflektiert nur in einem Vorstellungsfeld. Charakteristisch für die moderne Texte dagegen ist die Sprunghaftigkeit, mit der sie sich zwischen verschiedenen Vorstellungsfeldern der Subjektivität bewegen können" (Vietta 2001, 189).
Indem Vietta, um die Hybridisierung der Texttypen historisch zu legitimieren, sich auf das berühmte 116. Athenäum-Fragment beruft, setzt er die Vermischung auf der Ebene der Sprechformen mit derjenigen auf der Ebene der Gattung, des Stils und des Diskurses gleich, so dass die hybride Textualität als Teilaspekt einer allgemeineren Erscheinung aussieht — jener Überwindung der hierarchischen Paradigmen jeder Art,
die der Neusynkretismus, nach der Auffassung der Historischen Poetik, im modernen Einzeltext und im Text der Moderne schlechthin zu leisten hat.
Die These, die Historische Poetik sei spezifisch russischer Herkunft, mag stimmen. Ihre enorme Wirkung und Popularität ist, wie so manches in der russischen Kultur, auf die relativ geringe Rolle der klassischen Regelpoetik sowie unterentwickelte Diskursautonomie zurückzuführen. Ebenso schwerwiegend ist aber die Tatsache, dass sie kaum entstehen könnte, wenn ihr Begründer Veselovskij
die zentralen Konzepte der deutschen Romantik (Historismus, Allzusammenhang) und seine Nachfolger im 20. Jahrhundert die Tradition der deutschen Literaturwissenschaft (Curtius, Böckmann etc.) nicht rezipiert und sich angeeignet hätten. Erst in diesem internationalen Kontext, im Kreislauf des «ewigen Tauschgeschäfts des Geistes» (Novalis) lässt sich die Historische Poetik als russischer Beitrag zur Theorie der ästhetischen Moderne in Europa verstehen oder diese letztere in den Zusammenhang der Historischen Poetik integrieren.
Sources
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Author
Alexej I. Zherebin, e-mail: [email protected]
Doctor of Sciences (Philology), Full Professor, Head of Department of Foreign Literature, Herzen State Pedagogical University of Russia