Научная статья на тему '„In der Sprache meines fremden Vaterlandes“: Über einen „unbekannten Brief“ von J. M. R. Lenz'

„In der Sprache meines fremden Vaterlandes“: Über einen „unbekannten Brief“ von J. M. R. Lenz Текст научной статьи по специальности «Языкознание и литературоведение»

CC BY
0
0
i Надоели баннеры? Вы всегда можете отключить рекламу.
Ключевые слова
O. Jurjew / J. M. R. Lenz / Individualismus / Universalismus / nationale Identität / O. Yuryev / J. M. R. Lenz / individualism / universalism / national identity

Аннотация научной статьи по языкознанию и литературоведению, автор научной работы — Alexey L. Volskiy

Der Artikel untersucht das Problem der Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden in dem Roman „Unbekannte Briefe“ von Oleg Jurjew, einem russischen Schriftsteller jüdischer Herkunft, der in Deutschland mehrere Jahre lebte und starb. Die Kombination von russischen, jüdischen und deutschen Motiven in seinem Werk macht das Problem der nationalen Identität besonders aktuell. Die Helden des aus drei fiktiven Briefen bestehenden Romans sind kleine Leute aus drei Jahrhunderten russischer Geschichte. Jurjews Bild des kleinen Mannes ist eine Fortsetzung der Gestalt des Sonderlings und des Narren in Christo. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht der Brief an den russischen Schriftsteller N. M. Karamsin des deutschen Dichters des XVIII. Jahrhunderts J. M. R. Lenz, der mehr als zehn Jahre in Russland lebte und einen großen Einfluss auf die Entwicklung des russischen Sentimentalismus und die russische Rezeption der Werke von Shakespeare und Goethe ausübte. Der eigentliche Adressat seines Briefes ist jedoch nicht Karamsin, sondern J. W. Goethe. Mit den Figuren von Goethe und Lenz stellt der Verfasser zwei Weltanschauungen gegenüber — eine individualistische und eine universalistische. Der emotionale Appell von J. M. R. Lenz an J. W. Goethe, an den er sich an seinem letzten Lebenstag wendet, symbolisiert den Appell Russlands an Europa, den Aufruf zur Einheit und Versöhnung auf der Grundlage der Ablehnung des Materialismus und des Egoismus der individualistischen Kultur und den Aufbau eines neuen Humanismus nach den Grundsätzen des Allverstehens, der Vergebung und der Liebe. Lenzens Brief kann als moderne Variante des Diskurses über nationale Identität in Russland und Deutschland gesehen werden, der bis in die Anfänge der Moderne zurückreicht. Vertreter des russischen und deutschen Humanismus glaubten, dass die nationale Identität eine Zwischenstufe zum Erwerb einer übernationalen — universellen Identität sei, die die Konfrontation zwischen West und Ost überwinde.

i Надоели баннеры? Вы всегда можете отключить рекламу.
iНе можете найти то, что вам нужно? Попробуйте сервис подбора литературы.
i Надоели баннеры? Вы всегда можете отключить рекламу.

‘In the language of my foreign fatherland’: An ‘unknown letter’ by J. M. R. Lenz

The article examines the relationship between self and others in the novel Unknown Letters by Oleg Yuryev, a Russian writer of Jewish origin who lived in Germany. The combination of Russian, Jewish and German elements in his work makes the problem of national identity particularly relevant. The characters of the novel, which includes three fictitious letters, are ‘little men’ belonging to three centuries of Russian history. Yuryev’s image of a ‘little man’ is a continuation of such traditional images as an eccentric or holy fool. The article provides a detailed analysis of the letter by J. M. R. Lenz to the Russian writer N. M. Karamzin. J. M. R. Lenz was a German writer of the 18th century who lived in Russia for over ten years and had a great influence on the development of Russian sentimentalism, as well as the study of Shakespeare and Goethe. However, the real addressee of Lenz’s letter is Goethe. In the images of Goethe and Lenz, Yuryev contrasts two worldviews — individualistic and universalistic. Lenz’s emotional appeal to Goethe, which was made on the last day of Lenz’s life, symbolizes Europe’s appeal to Russia, a call for unity based on the rejection of materialism and selfishness of individualistic culture, and for the construction of a new humanism on the principles of universal understanding, forgiveness and love. Lenz’s letter can be seen as a modern variation of the discourse on national identity in Russia and Germany, which goes back to the origins of modernism. Representatives of both Russian and German humanism maintained that national identity is an intermediate stage on the way to acquiring a supranational — i. e., universal — human identity that overcomes the confrontation between the West and the East.

Текст научной работы на тему «„In der Sprache meines fremden Vaterlandes“: Über einen „unbekannten Brief“ von J. M. R. Lenz»

PI Check for updates

УДК 82.091

Журнал интегративных исследований культуры, 2023, т. 5, № 2 Journal of Integrative Cultural Studies, 2023, vol. 5, no. 2 _www.iik-journal.ru

Зарубежная литература

EDN TFKMHR

https://www.doi.org/10.33910/2687-1262-2023-5-2-93-98

„In der Sprache meines fremden Vaterlandes": Über einen „unbekannten Brief" von J. M. R. Lenz

A. L. Volskiy

H1

1 Russische Staatliche Pädagogische Herzen-Universität, Moika-Kai 48, Sankt Petersburg 191186, Russland

Zusammenfassung. Der Artikel untersucht das Problem der Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden in dem Roman „Unbekannte Briefe" von Oleg Jurjew, einem russischen Schriftsteller jüdischer Herkunft, der in Deutschland mehrere Jahre lebte und starb. Die Kombination von russischen, jüdischen und deutschen Motiven in seinem Werk macht das Problem der nationalen Identität besonders aktuell. Die Helden des aus drei fiktiven Briefen bestehenden Romans sind kleine Leute aus drei Jahrhunderten russischer Geschichte. Jurjews Bild des kleinen Mannes ist eine Fortsetzung der Gestalt des Sonderlings und des Narren in Christo. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht der Brief an den russischen Schriftsteller N. M. Karamsin des deutschen Dichters des XVIII. Jahrhunderts J. M. R. Lenz, der mehr als zehn Jahre in Russland lebte und einen großen Einfluss auf die Entwicklung des russischen Sentimentalismus und die russische Rezeption der Werke von Shakespeare und Goethe ausübte. Der eigentliche Adressat seines Briefes ist jedoch nicht Karamsin, sondern J. W. Goethe. Mit den Figuren von Goethe und Lenz stellt der Verfasser zwei Weltanschauungen gegenüber — eine individualistische und eine universalistische. Der emotionale Appell von J. M. R. Lenz an J. W. Goethe, an den er sich an seinem letzten Lebenstag wendet, symbolisiert den Appell Russlands an Europa, den Aufruf zur Einheit und Versöhnung auf der Grundlage der Ablehnung des Materialismus und des Egoismus der individualistischen Kultur und den Aufbau eines neuen Humanismus nach den Grundsätzen des Allverstehens, der Vergebung und der Liebe. Lenzens Brief kann als moderne Variante des Diskurses über nationale Identität in Russland und Deutschland gesehen werden, der bis in die Anfänge der Moderne zurückreicht. Vertreter des russischen und deutschen Humanismus glaubten, dass die nationale Identität eine Zwischenstufe zum Erwerb einer übernationalen — universellen Identität sei, die die Konfrontation zwischen West und Ost überwinde.

Für das Zitieren: Volskiy, A. L. (2023) „In der Sprache meines fremden Vaterlandes": Über einen „unbekannten Brief" von J. M. R. Lenz. Journal of Integrative Cultural Studies, Bd. 5, Nr. 2, S. 93-98. https://www.doi. org/10.33910/2687-1262-2023-5-2-93-98 EDN TFKMHR

Erhalten am 29. Mai 2023; von Experten begutachtet am 18. Oktober 2023; akzeptiert am 18. Oktober 2023.

Finanzierung: Für die Studie wurden keine externen Mittel bereitgestellt.

Copyright: © A. L. Volskiy (2023). Veröffentlicht von der Staatlichen Pädagogischen Herzen Universität, Russland. Offener Zugang unter CC BY-NC License 4.0.

Schlüsselwörter: O. Jurjew, J. M. R. Lenz, Individualismus, Universalismus, nationale Identität

'In the language of my foreign fatherland': An 'unknown letter' by J. M. R. Lenz

A. L. Volskiy

1 Herzen State Pedagogical University of Russia, 48 Moika Emb., Saint Petersburg 191186, Russia

Abstract. The article examines the relationship between self and others in the novel Unknown Letters by Oleg Yuryev, a Russian writer of Jewish origin who lived in Germany. The combination of Russian, Jewish and German elements in his work makes the problem of national identity particularly relevant. The characters of the novel, which includes three fictitious letters, are 'little men' belonging to three centuries of Russian history. Yuryev's image of a 'little man' is a continuation of such traditional images as an eccentric or holy fool. The article provides a detailed analysis of the letter by J. M. R. Lenz to the Russian writer N. M. Karamzin. J. M. R. Lenz was a German writer of the 18th century who lived in Russia for over ten years and had a great influence on the development of Russian sentimentalism, as well as the study of Shakespeare and Goethe. However, the real addressee of Lenz's letter is Goethe. In the images of Goethe and Lenz, Yuryev contrasts two worldviews — individualistic and universalistic. Lenz's emotional appeal to G oethe, which was made on the last day of Lenz's life, symbolizes Europe's appeal to Russia, a call for unity based on the rejection of materialism and selfishness of individualistic culture, and for the construction of a new humanism on the principles of universal understanding, forgiveness and love.

Lenz's letter can be seen as a modern variation of the discourse on national identity in Russia and Germany, which goes back to the origins of modernism. Representatives of both Russian and German humanism maintained that national identity is an intermediate stage on the way to acquiring a supranational — i. e., universal — human identity that overcomes the confrontation between the West and the East.

Keywords: O. Yuryev, J. M. R. Lenz, individualism, universalism, national identity

For citation: Volskiy, A. L. (2023) 'In the language of my foreign fatherland': An 'unknown letter' by J. M. R. Lenz. Journal of Integrative Cultural Studies, vol. 5, no. 2, pp. 93-98. https://www.doi. org/10.33910/2687-1262-2023-5-2-93-98 EDN TFKMHR Received 29 May 2023; reviewed 18 October 2023; accepted 18 October 2023.

Funding: The study did not receive any external funding.

Copyright: © A. L. Volskiy (2023). Published by Herzen State Pedagogical University of Russia. Open access under CC BY-NC License 4.0.

In diesem Aufsatz möchte ich das Thema der Schicksale und Verflechtungen des Fremden und des Eigenen am Beispiel des Romans „Unbekannte Briefe" von Oleg Jurjew behandeln. Oleg Jurjew (1959-2018) war ein russisch-deutscher Lyriker, Romancier, Dramatiker und Kritiker. Er wurde 1959 in Leningrad geboren und lebte seit 1991 in Frankfurt am Main. Zweimal wurde für den Bookerpreis nominiert. Literaturkritiker erblickten seine besondere Stärke in der künstlerischen Bearbeitung historischer Stoffe.

Im Jahre 2012 erhielt Jurjew den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil. Als russischer Jude fühlte er sich als doppelter Exilant. In der Hilde-Domin-Preisrede setzte er sich mit der Erfahrung des doppelten Exils auseinander: „Wenn Du Jude bist und nicht dem Land Israel entstammst, geht das automatisch. Du bist sozusagen im Exil beheimatet" (von Hillgruber 2018). Ein wichtiges Merkmal der jüdischen Literatur sah er in ihrem Hang zum Symbolisch-Parabelhaften, das auch seinem Roman „Unbekannte Briefe" attestiert werden kann.

Dieser Roman könnte man als seinen letzten „Paukenschlag" bezeichnen — 2013 geschrieben und 2014 auf Deutsch veröffentlicht, also gut ein Jahr vor seinem Tod. Der Roman besteht aus drei fingierten Briefen: von L. Dobytschin an K. Tschu-kovski, I. Pryschow — an F. Dostojewski und von J. M. R. Lenz — an N. Karamsin. Jedem Brief wird eine fiktive Geschichte vorangestellt, die glaubwürdig machen soll, wie der Autor an die Briefe gekommen war. Mit Hilfe solcher doppelten Fiktion wird das Effekt einer sozusagen „fiktionalen Echtheit" erzielt.

Leonid Ivanovitsch Dobytschin (1894-1936) war ein russischer, bzw. sowjetischer Schriftsteller, dessen Hauptthema das Schicksal des kleinen Mannes war. Er wollte zeigen, dass trotz der in der UdSSR offiziell propagierten sozialen Gleichheit diese Figur nicht aus der Welt geschafft worden ist. Sein letzter Roman „Die Stadt N." wurde von der offiziellen sowjetischen Literaturkritik verrissen, für formalistisch und konterrevolutionär erklärt. Bald darauf verschwand Dobytschin — man

vermutet, dass er aus Angst vor Verhaftung den Selbstmord beging.

Den zweiten Brief schreibt Ivan Gavrilovitsch Pryschow (1827-1885) an F. Dostojewski. Ivan Pryschow war Anarchist und Revolutionär, Mitglied der terroristischen Geheimorganisation «Народная расправа» („Volksrache"). Als Mitgefährter des berüchtigten und gefürchteten Terroristen Sergei Netschajews nahm er nach dessen Befehl am Mord des Studenten Ivanov teil und wurde dafür mit mehreren Jahren Zuchthaus bestraft. Bekanntlich benutzte Dostojewski dieses Sujet für seinen Roman „Die Dämonen" (1873).

Den dritten Brief, den ich hier näher betrachten möchte, schreibt J. M. R. Lenz an den „russischen Sterne", N. Karamsin, den Begründer des russischen Sentimentalismus und den ersten großen Geschichtsschreiber Russlands. Er scheibt diesen Brief an seinem letzten Lebenstag, auf der Flucht, an Verfolgungswahn leidend.

Obwohl diese drei Briefe aus drei verschiedenen Jahrhunderten stammen, ähneln sie im Stil und in ihrem Sprachgebrauch einander so sehr, dass sie nicht nur unverkennbar einen gemeinsamen Autor verraten, sondern auch ein gemeinsames Grundgefühl zum Ausdruck bringen. Ich würde dieses Grundgefühl als „De profundis" bezeichnen: es sind Worte der Entgleisten und Gescheiterten, aus dem normalen Leben gleichsam „ausgestrichenen" Außenseiter, die sich an die sozial Erfolgreichen und künstlerisch Anerkannten, an die bürgerlich gut situierte Kulturprominenz richten.

Während Tschukowsky, Dostojewski und Karamsin es geschafft haben, zur Prominenz aufzusteigen, sind Dobytschin, Prischow und Lenz auf der Strecke geblieben. Nun schreiben sie diese überlangen Bekenntnisbriefe, offenbar mehr für sich selbst, um eine Deutungshoheit über das eigene Leben zu bekommen. Als tragische Helden kann man diese Leute jedoch nicht bezeichnen: für Tragödie sind sie sozusagen nicht groß genug. Sie sind eben kleine Leute, seltsame Käuze, lauter skurrile Typen mit ihren mal lustigen, mal lästigen Grillen, die in eine tragische Situation hineingefallen oder hineingestolpert sind. Eher durch Umstände, nicht durch ihre Taten sind sie zu tragischen Figuren geworden.

Sicherlich hat der Autor Mitleid mit ihnen, aber er mildert die Tragik ihrer Schicksale mit einem warmen Humor ab, was ihren Geschichten eine eigenartige tragikomische Prägung verleiht. So handelt der letzte Brief von Jakob Lenz, einem der bekanntesten Migranten der deutschen Literaturgeschichte.

In Liefland geboren, ging Lenz nach Straßburg, wo er Freundschaft mit Goethe schloß und sich mit

einigen gut gelungenen Theaterstücken und theoretischen Abhandlungen einen literarischen Namen machte.

Auf Protektion Goethes versuchte er am Wei-marschen Hof Fuss zu fassen, jedoch scheiterte und zog durch Europa: zuerst nach Waldersbach im Elsass, wo er sich beim Pfarrer Oberlin eine Weile aufhielt — dieser Aufenthalt wurde von G. Büchner in der Meisternovelle „Lenz" verewigt — dann kurz in seine liefländische Heimat und schließlich nach dem russischen Reich, wo er fast elf Jahre hauptsächlich in Moskau lebte und vereinsamt starb. Seine Grabstätte ist bis heute unbekannt.

In Jurjews Roman wird die letzte Nacht seines Lebens beschrieben. Nach der Zerschlagung der Moskauer Freimaurerloge, deren Mitglied er war, befindet sich Lenz auf der Flucht. Seine Lage ist hoffnungslos. Er versteckt sich vor der Geheimpolizei, der sogenannten „Geheimen Expedition" im baumhohen Klett irgendwo in Zamoskwo-retschje. Allein dieser Zug macht die Situation tragikomisch. Er ist am Verhungern, am Erfrieren und fährt zusammen, wenn jemand vorbeigeht. Und dann schildert Jurjew, wie eine große Ratte in seine Tasche huscht und die Reste der Pirogge auffrisst — sein letztes Proviant.

Das lässt ihn aber völlig unbeeindruckt. Statt die Ratte zu verjagen, lässt er sie in Ruhe speisen und grüßt sie genauso freundlich und höflich, wie er Karamsin oder Goethe grüßen würde. Dabei hört er nicht auf zu räsonieren und schwatzt über irgendwelche Projekte von der Umgestaltung des russischen Reiches, der Reformierung seiner Armee, der Gründung einer neuen Universität, wo Deutsche und Russen brüderlich zusammen leben und studieren würden. Und es bleibt offen, wem diese Worte gelten: dem Karamsin, der Ratte, oder vielleicht ihnen beiden. An der Schwelle des Todes macht sich dieser hoffnungslose Idealist Sorgen nicht um sein eigenes Wohlbefinden, sondern nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunft Russlands und um das Wohl der russischen Kaiserin.

Man dürfte Lenz sicherlich für verrückt halten, doch ist diese Art von Verrücktheit eigenartig. Sie ist nicht psychopathologischer, sondern geistiger Natur. Lenz ist ein Utopiker, der die Welt so wahrnimmt, wie sie eigentlich sein sollte. In wenigen Stunden wird er sterben, doch ist er weder mit Hass, noch mit Erbitterung erfüllt. Wie Dostojewski's Fürst Myschkin strahlt er rührende Nächstenliebe aus und seine Gespräche mit wilden Tieren erinnern an Franz von Assisi.

Wenn man sich nach der entsprechenden russischen Tradition umsehen würde, die einen ähnlichen Menschentypus hervorgebracht hatte, so denkt man sofort an „Jurodstwo". Ein Jurodiwy,

Narr in Christo, der sich verrückt stellt, sich absichtlich der Verunglimpfung der Welt aussetzt, um die Lächerlichkeit dieser Welt bloßzustellen und dadurch göttliche Wahrheit zu verkünden. Er hat keinen Besitz, negiert den Menschenverstand und verkörpert die Idee jener geistigen Armut, von der Christus in der Bergpredigt sagt, dass sie zur Seligkeit führe. Der geistig Arme, der absolut nichts hat, hat wiederum alles — denn er ist eins mit Gott.

Nur in Russland war Jurodiwy nicht bloß eine Figur der Kultur, sondern und vor allem die des Kultes, nicht nur eine geistige, sondern eine geistliche Erscheinung, ein Heiliger. Jurjews Sonderling Lenz redet und handelt wie Jurodiwy und ist sozusagen sein weltlicher Doppelgänger.

Besonders schmerzt ihm aber, dass sich unter seinen Verächtern zwei Menschen befinden, die ihm sehr am Herzen liegen — sein Vater und sein Freund-Feind Goethe, den er halb ernst, halb ironisch als sein „Brüderchen" und den „Gatten im geheiligten Ehebunde des Geistes" anredet (Ju-rjew 2017, 209).

Die Opposition zwischen Lenz und Goethe durchzieht wie ein roter Faden den ganzen Brief und wird zu seinem gestalt- und gehaltbildenden Prinzip. Nicht Karamsin, sondern Goethe entpuppt sich als sein wahrer Gesprächspartner, die Zielscheibe seiner warmherzigen Liebesbekenntnisse und bitterer Invektive.

J. W. von Goethe, inzwischen Literat von Weltrang und Minister, residiert wie ein olympischer Gott in Weimar. Dass sein Freund in Moskau hungert und friert, kann er erstens nicht wissen, zweitens nicht ändern.

Aber die Opposition Lenz — Goethe wird hier zu einem Symbol und verwandelt den Text in eine Parabel. Es geht hier um etwas mehr als nur um eine Gegenüberstellung zweier Freunde, eines Erfolgreichen und eines Erfolgsarmen, sondern um die Entgegensetzung zweier Lebensprinzipien — des Individualismus und Allmenschentums.

Goethe verkörpert den Individualismus, mit seinem eitlen Streben nach Selbstverwirklichung, Selbstbehauptung und Selbstherrlichkeit, was in Lenzens Augen gottlos und frevelhaft ist. Im Ton eines biblischen Propheten macht er Goethe harte Vorwürfe:

„Du mußt einsehen und gestehen, solange es noch nicht zu spät ist, daß Deine Herrlichkeit nichts umschließt! Und daß Deine Herrlichkeit von nichts umschlossen ist! Und daß Deine Herrlichkeit zwischen beiden nichts wie der hohle Mond im luftlosen All auf nichts hängt, allein durch Gottes Willen" (Jurjew 2017, 218).

Goethe ist für ihn ein Nihilist, was durch die dreimalige Wiederholung des Wortes „nichts"

verstärkt wird und seine Selbstherrlichkeit verurteilt, indem er ausruft: „Stolzer Mensch! Dein Stolz hindert dich zu sehr" (Jurjew 2017, 219).

Der letzte Satz erinnert an die berühmte „Puschkin-Rede" von Dostojewski (1880), deren Kernbotschaft lautet: „Demütige dich, stolzer Mensch!" Dem Stolz und dem Individualismus des modernen Menschen stellt er eine andere Weltanschauung entgegen, die man seit ihm und Vladimir Solovjev als „russische Idee" gemeinhin zu bezeichnen pflegt. Ihr Wesen fasst er in derselben Puschkin-Rede folgenderweise zusammen:

„Nein, ich sag Euch in allem Ernst, es hat noch keinen Dichter gegeben, der so wie Puschkin die ganze Welt in sich aufgenommen hätte...Denn wo läge sonst die Kraft des russischen Volksgeistes, wenn nicht in seinem Streben zur Universalität und nach Allmenschlichkeit" (Dostojewski 1992, 20-26).

Für Dostojewski war Puschkin der wahre Vertreter des Russentums. Dieses Russentum wiederum sah er als notwendige Grundlage zur Erlangung eines Allmenschentums. Nur die Russen seien in der Lage, das Denken und Fühlen aller Völker der Welt zu durchdringen und vollends zu begreifen. Kein anderes Volk besitze dieses Vermögen.

Das Streben zur Universalität und nach Allmenschlichkeit findet seinen Ausdruck in Lenzens Bekenntnis zur russischen Sprache, die allein im Stande ist, diese Universalität zu umfassen:

„Von nun an schreibe und spreche ich allein Russisch, denn dieser Dialekt umfaßt sämtliche andere Sprachen und hat diese geboren. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß das Russische die Sprache der allerersten Menschen war, die in jedem von uns verborgen wohnt. Auch Du beherrschst sie, diese edle Sprache, ohne daß es Dir bewußt ist. Nimmst Du von mir die Anregung, die großrussische Sprache in Deinem Inneren erwachen zu lassen, wirst Du sie in Bälde nicht nur verstehen, sondern Russisch dichten können, denn diese Lingua ist ausnehmend gut zu jeder Art Literatur tauglich, zumal zu Tragödie, Fabel und ätzender Comödie... Kehrst Du zu Deinem alten Comö-dienentwurf über Johannes Faustus zurück. Schreib diese Comödie partout auf Russisch." (Jurjew 2017, 221).

Wie Faust in der Schlussszene der Tragödie seine Erlösung vom Fluch der Individualismus vom Ewig Weiblichen der himmlischen Liebe erhält, soll nun Goethe sein Deutsch als Inbegriff der individualisierten Sprache des modernen Menschen in der Totalität des Russischen auflösen. Diese Auflösung meint aber keinesfalls Eliminierung der Eigenart und Eigentümlichkeit des Deutschen, sondern eine produktive Synthese der beiden

A. L. Volskiy

Sprachen, ihre gegenseitige Bereicherung, woraus ein höheres Drittes entstehen soll.

Jedoch möchte ich anmerken, dass dieser ganze russische Diskurs, den Jurjew hier reaktualisiert, bei allem Respekt sozusagen mit Vorsicht zu genießen ist. Anders als für Dostojewski, Th. Mann oder Rilke wird er heute oft zum gängigen Klischee, einem Spiel mit der Tradition und einer krampfhaften Kompensation der eigenen Armseligkeit, wo aus Not eine Tugend gemacht wird. Niemand leugnet, dass einst erfunden, war dieser Diskurs für die nationale Selbstreflexion bedeutend sowohl im Westen als auch in Russland. Übrigens übernahm er viele Züge der westlichen Kulturphilosophie, nämlich solche Ideen wie die der verlorengegangenen Totalität, der alten und neuen Mythologie, Universalität, Naivität, des Goldenen Zeitalters usw., die bei nahezu allen Kulturphilosophen mindestens seit Herder und der Romantik im europäischen Kulturbewusstsein präsent waren. Hier würden nur einige wenige Beispiele genügen.

Johann Gottfried Herder schrieb in seinen „Briefen zur Beförderung der Humanität" (1793/97): „Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts, er ist uns aber nur in Anlagen..." (Herder 1953, 470). Etwa gleichzeitig schrieb auch Fr. Schiller seine berühmte Xenie über den deutschen Nationalcharakter:

"Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es,

Deutsche, vergebens;

Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus" (Schiller 1958, 267).

Das Ideal der von der Enge des Nationalen befreiten kosmopolitischen Menschlichkeit bildet das Zentrum der Überlegungen von J. W. Goethe, Fr. Nietzsche und Th. Mann zum deutschen Nationalcharakter. Das Nur-Nationale empfanden sie als viel zu eng. Die Nationalität soll vom Allgemeinmenschlichen einst überwunden werden. Den Weg zur Erlangung der Allmenschlichkeit erblickten die Repräsentanten der deutschen humanistischen Kultur vor allem in der Sphäre des Geistes — in der Kunst und der Wissenschaft. Nach vielen militärischen Niederlagen schrieb Fr. Schiller sein berühmtes Gedicht „Deutsche Größe", in dem er die wahre Größe des Deutschen preist, die nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in der Geistessphäre zu suchen und zu finden sei:

„Das ist nicht des Deutschen Größe,

obzusiegen mit dem Schwert!

In das Geisterreich zu dringen,

männlich mit dem Wahn zu ringen,

das ist seines Eifers wert" (Schiller 1978, 200-201).

Dem Deutschen gehört also das Reich der Ideale. Die Antithese des Realen und Idealen nimmt bei R. Wagner und Th. Mann die Form der Gegenüberstellung von Politik und Musik (Mann 1996, 261-285; Wagner 1868).

Sobald dieser Diskurs in Russland zu tagespolitischen Zwecken herausgeholt und instrumentalisiert wird, verfehlt er seine ursprüngliche Intention. Jurjew scheint diese Gefahr gut zu erkennen und will sich darum sowohl über das Russische als auch über das Deutsche erheben. Denn die Kunde von der kommenden Alleinheit wird in seinem Roman paradoxerweise einem Deutschen in den Mund gelegt. Lenz will Russisch als neue Sprache des Geistes übernehmen. Der russische Dichter Oleg Jurjew macht aber das Gegenteil: er übersetzt seinen Roman ins Deutsche, dass er zwischen den Nationalkulturen steht und dass die Dichtung nicht nur Bereicherung einer Nationalsprache, sondern auch ihre Transzendierung ist.

Den Gedanken der Transzendenz der Nationalsprache und somit jeder Nationalität schlechthin brachte Marina Zwetajewa in ihrem Brief an Rilke zum Ausdruck (Brief vom 6 Juli 1926):

„Dichten ist schon übertragen, aus der Muttersprache — in eine andere, ob Französisch oder Deutsch, wird wohl gleich sein. Keine Sprache ist Muttersprache. Dichten ist nachdichten. Darum versteh ich nicht, wenn man von französischen oder russischen etc. Dichtern redet. Ein Dichter kann französisch schreiben, er kann nicht ein französischer Dichter sein. Das ist lächerlich.

Ich bin kein russischer Dichter. Darum wird man Dichter.um nicht Franzose, Russe etc. zu sein, um alles zu sein. Oder: man ist Dichter, weil man kein Franzose ist. Nationalität ist Ab- und Eingeschlossenheit. Orpheus sprengt die Nationalität, oder dehnt sie so weit, dass alle (gewesene und seiende) eingeschlossen sind. Schöner Deutscher — da! Und schöner Russe!" (Rilke, Zwetajewa 1992, 76-77).

Conflict of interest

The author declares that there is no conflict of interest, either existing or potential.

Sources

Dostojewski, F. M. (1992) Rede über Puschkin am 8. Juni 1880 vor der Versammlung des Vereins „Freunde Russischer Dichtung". Mit einem Essay von Volker Braun. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 55 S. (In German)

Herder, J. G. (1953) Briefe zur Beförderung der Humanität. In: Werke in zwei Bänden: In II Bd. Bd. II. München: Carl Hanser

Verlag, 470 S. (In German) Jurjew, O. (2017) Unbekannte Briefe. Berlin: Verbrecher Verlag, 193 S. (In German)

Mann, T. (1996) Deutschland und die Deutschen. In: Th. Mann. Essays: In 6 Bd. Bd. 5. 1938-1945. Frankfurt

am Main: S. Fischer Verlag, S. 261-285. (In German) Rilke, R. M., Zwetajewa, M. (1992) Ein Gespräch in Briefen. Frankfurt am Main: Insel-Verlag, 304 S. (In German) Schiller, Fr. (1958) Sämtliche Werke. Bd. I. Gedichte. Dramen. München: Carl Hanser Verlag, 1016 S. (In German) Schiller, F. (1978) Schillers Werke in fünf Bänden. Bd. 1. Gedichte. Prosastücke. Berlin; Weimar: Aufbau-Verlag, 417 S. (In German)

References

Von Hillgruber, K. (2018) Zum Tod von Oleg Jurjew: Geometrie der Wunder. Tagesspiegel, 7 July. [Online]. Available at: https://www.tagesspiegel.de/kultur/geometrie-der-wunder-3967477.html (accessed 29.06.2023). (In German) Wagner, R. (1868) Deutsche Kunst und deutsche Politik. Leipzig: J. J. Weber Verlag, 112 S. (In German)

Author

Alexey L. Volskiy, e-mail: volskij@mail.ru

Doctor of Sciences (Philology), Associate Professor, Herzen State Pedagogical University of Russia

i Надоели баннеры? Вы всегда можете отключить рекламу.