UDC 821.14+82-1
Philologia Classica. 2016. Vol. 11. Fasc. 1
GOETHES ERLKÖNIG — ALTGRIECHISCH
Georg Wöhrle
Universität Trier, Universitätsring 15, 54286, Trier, Deutschland; [email protected]
In 1860, Carl Ferdinand Crain, the principal of the „Große Stadtschule" in the city of Wismar, translated Goethe's poem „Der Erlkönig" into ancient Greek. He titled it „Mormo anassa". In the present contribution, Crain's background as a translator is more closely examined, both in the light of the school's history and from an academic perspective. From the standpoint of translation theory Crain's version of „Der Erlkönig" as opposed to his earlier Greek translations of Goethe's and Schiller's stage plays („Iphigenie" and „Jungfrau von Orleans"), proves to be an interesting attempt to project on antiquity the contemporary Romantic poetic world.
Keywords: Erlkönig, Goethe, Crain, translation theory, Ancient Greek, classical education.
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm. —
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? — Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif? — Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. —
„Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir; Manch' bunte Blumen sind an dem Strand; Meine Mutter hat manch' gülden Gewand".
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? — Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind! In dürren Blättern säuselt der Wind. —
„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein".
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? — Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. —
„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt". —
© St. Petersburg State University, 2016
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! —
Dem Vater grauset's; er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot.
Das 1782 verfasste Gedicht Der Erlkönig1 gehört, vor allem auch aufgrund der Vertonung durch Franz Schubert, zu den bekanntesten Gedichten Goethes. Es wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter auch ins Altgriechische. Diese Übersetzung in distichischer Verbindung von iambischen Trimetern und Dimetern wurde 1860 von dem damaligen Rektor der Wismarer Großen Stadtschule, Carl Ferdinand Crain, publiziert. Zu seiner Biographie sei zunächst aus Rudolf Kleimingers Schulgeschichte zitiert:
„Crain war von Geburt Sachse. Geboren am 4. Febr. 1787 zu Thalwinkel in Thüringen, verlebte er seine erste Jugendzeit im Kloster Häseler bei Naumburg, wo sein Vater, Johann Christoph Crain, Küster und Dorfschullehrer war. Bis zu seinem 11. Lebensjahre von seinem Vater unterrichtet, kam er 1798 [...] nach der sächsischen Fürstenschule in Schulpforta und studierte nach Absolvierung dieser Schule in Leipzig Theologie und Philologie. Nach beendetem Studium war er Hauslehrer in der Familie Härtel in Leipzig [...], war dann [.] drei Jahre Hilfslehrer an der Rathsfreischule in Leipzig und kam 1814 nach Wismar, wo er am 26. Nov. des gleichen Jahres eingeführt wurde"2.
Crain war dann 35 Jahre lang, von 1828 bis 1863, Rektor der Großen Stadtschule und hat diese, deren Unterrichtsschwerpunkt in den beiden Alten Sprachen lag, sicherlich bedeutend geprägt. Er starb 18653. Ein Blick etwa auf die Anforderungen für die Abschlussprüfungen im Griechischen und Lateinischen macht klar, dass diese (bei entsprechenden Stundentafeln natürlich) in sprachlicher Hinsicht heutzutage eher denen für einen Absolventen eines Universitätsstudienganges vergleichbar wären4. Und ebenso klar ist es, dass ein Lehrer wie Crain angesichts seiner eigenen Ausbildung mit recht leichter Hand lateinische5 und griechische Texte, auch Gedichte, verfassen konnte.
Während seiner Zeit als Rektor in Wismar veröffentlichte Crain neben einigen Beiträgen zur Wismarer Stadt- und Kirchengeschichte im altsprachlichen Bereich Sophoklei-sche Studien I (Leipzig 1833: Eine bei Reclam erschienene deutsche, mit kurzem Vorwort6 versehene Übersetzung des König Ödipus) sowie Metrische Übersetzungen ins Griechische und Lateinische aus Schiller und Göthe nebst einem Anhange aus der Bibel (Schulprogramm, Wismar 1858) und Göthe's Balladen: Der König von Thule und Erlkönig, metrisch
1 Zitiert nach: Trunz 1981.
2 Kleiminger 1991, 140-141; vgl. auch noch Willgeroth 1935, 7-8.
3 Siehe dazu insgesamt den betreffenden Abschnitt in Kleimingers Band, 140-170. Crain war auch in einer Zeit Rektor, in der es aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche (1850) neben dem Gymnasium zur Einführung einer fünfstufigen Realschule ohne Latein (und natürlich ohne Griechisch) kam (Kleiminger, 166-167). Die Große Stadtschule zu Wismar begeht in diesem Jahr (2016) ihre 475. Jahrfeier.
4 „Im Griechischen wurden in der mündlichen Prüfung Sophokles und Thukydides übersetzt. Das Skriptum (deutsch-griechisch) war eine grammatische Leistung und der Text eine deutsche Übersetzung ins Griechische, meist aus Xenophons Anabasis" (Kleiminger, 152).
5 Z. Bsp. verfasste er 1817 ein Carmen saeculare anlässlich der 300jährigen Wiederkehr des Thesenanschlags Luthers (Kleiminger, 439, Anm. 82).
6 Ein dort, S. VII, angekündigter Kommentar ist nie erschienen.
ins Griechische übersetzt (Schulprogramm7, Wismar 1860). Hier also Crains griechische Version des Erlkönigs:
Mop^ù avaaaa
noÀàfjç tîç èv xei|üvi vuktôç innöxni; nax^p öö' ea0' â|' œ TÉKvœ-ünr|ve|iov xei|iœvoç èv xepoîv exœv To tékvov âa9aXœç 9Épei.
„'D naî, tî ötyiv œô' änönXnKTo^ aTÉYeiç"; — „|iop|iœ y' avaaaav oùx ôpâç, |iop|iœ, nâTep, öiaöf|' exouaav aûp|ia Te"; — „ve9é\r|Ç Töö' eaT' oùpâ, tékvov". —
„Aeûp' èyy^ç, œ naî, èX0s au|inaiZeiv è|oi noÀAàç KaMç Te naiôiâç-âv0r| 'aT' èn' âKTfç nöXA' ayav Kai noiKÎXa, xpuaoûç t' exei |r|Tr|p tcétcxouç". —
„"AXX' oùk âKoûeiç, œ nâTep, ôai|iœv â |oi |ia\aKoîç üniaxeTai xöyok;"; — „ex' ^aûxœç, naî, rçaûxœç- i;r|pâÇ ârçp tyiGupiZei8 èK ôÉvôpov 9ößr|<;". —
„"A|i' enoiö |oi, KâXAiaTe naî; xpnaTrç aÉ0ev |e\ÉTn y' è|iaîç eaTai Köpai^-vuktoç xopeûouaai xopoîç YXuKÉaiv té ae KaTaßauKaXr|aävTOv9 vö|iou;". —
„"AXA où 9aveiaaç TCpoaßAineii; èKeî, nâTep, Tàç èv aKöT« |iop|ioûç Köpa^"; — „aa9Ü^ ÊYœye Toû0' ôpœ, naî 9ÎXaTe-noXiœv XÛYœv a' ânaTa 9âoç". —
„"Epœç exei aou Tfç Te afç KaXfç 9ufç, e'i 0ÉXeiç ö', âi;œ ßia". „o'i|ioi, nâTep, vûv, œ nâTep, |ou änreTai-|op|œ |e öeöpaKev KaKöv". —
'O |ièv ne9piKÙ^ ôi;û y' Inneûei naT^p aTÉvovTa naîô' exœv xepoîv-xaXenœç npôç aùXrçv Kai |iöYi<; npoaÉpxeTai, naîç ö' èv xepoîv KeîTai 0avœv.
7 Die Schulprogramme im 19. und 20. Jahrhundert dienten den weiterführenden Schulen als Rechenschaftsberichte ihrer Arbeit und enthielten neben Aufstellungen von Stundentafeln, Abschlussarbeiten und Ähnlichem auch oft wissenschaftliche Beiträge.
8 Die „vielfache Wiederholung der Aspiranten" soll in dieser Strophe „das Säuseln des Windes in den dürren Blättern onomatopoetisch" widerhallen lassen (Crain 1860, IV).
9 Imp. Aor.
Eine Schwierigkeit bei der Übersetzung ergibt sich besonders im Begriff .Erlkönig', der aus dem Dänischen ellekonge (aus elve(r)konge), .Elfenkönig' „von Herder (1778) in Anlehnung an nordd. Eller fälschlich als Erl(en)könig übersetzt [und] von Goethe 1782 für seine Ballade übernommen [wurde]"10. Übertragungen in moderne Fremdsprachen behelfen sich mit Lehnübertragungen wie zum Beispiel ,erlking' im Englischen oder wie im Russischen (zum Beispiel Wassili Schukowski) mit Behelfsübersetzungen wie ,Waldkönig', «Лесной царь». An dieser Stelle hat sich auch Crain, wie er im Vorwort des Programmes von 1860 schreibt, einige Gedanken gemacht. „Der Grundbegriff unseres Erlkönigs", so schreibt Crain, „bleibt allemal das Gespenstige, an das man sich halten muss, wenn man ihn in der griechischen Sage wiederfinden will" (II). So glaubte er nun, in der griechischen Mormo, einem „weiblichen Spukgeist", eine „passende Stellvertreterin des Erlkönigs" gefunden zu haben (III). Hier wird man doch am ehesten widersprechen wollen, zumal dem Gedicht damit seine durchaus erotische Ambivalenz entzogen und die Sache auf die Ebene eines Kinderschreckes gehoben wird. Vielleicht wäre an dieser Stelle Gott Pan ein angemessenerer Vertreter des Erlkönigs gewesen.
Während jedenfalls die Übersetzungen aus den Dramen Goethes (Iphigenie) und Schillers (Jungfrau von Orleans), wie Crain im Vorwort des Schulprogramms von 1858 schreibt, „für einen, zunächst im eigenen wissenschaftlichen Interesse angestellten Versuch die Verwandtschaft unserer großen Dichter mit dem Geiste des Alterthums näher kennen zu lernen" dienten11, ist das Verhältnis beim Erlkönig (und beim König in Thule) gewissermaßen umgekehrt. Es ist dies der übersetzungstheoretisch recht interessante Versuch, nicht das vergangene Fremde ins gegenwärtige Eigene zu transponieren, sondern eben das eigene Gegenwärtige, einen „der hellenischen Anschauungsweise fern liegenden Stoff"12 ins vergangene Fremde. So, als wollte man einem alten Griechen eben Goethes Erlkönig näher bringen. Das ist zumindest amüsant13, und wer könnte heute noch so ohne weiteres ein Goethe-Gedicht ins Altgriechische übertragen? „Gelehrten und geistreichen Kennern muss ich das Urteil überlassen, ob die Leistung ganz missraten ist"14. Der in diesem Band Geehrte gehört gewiss zu den Gelehrten und geistreichen Kennern seines Faches. Möge ihm dieser kleine Ausflug in die Geschichte des altsprachlichen Unterrichts ein wenig Vergnügen bereiten!
Literaturhinweise
Crain, C. F. Sophokleische Studien I. Leipzig, Reclam, 1833.
Crain, C. F. Metrische Übersetzungen ins Griechische und Lateinische aus Schiller und Göthe nebst einem
Anhange aus der Bibel, in: Schulprogramm für 1858, Wismar, J. G. W. Oesten Witwe, 1858, I-XXIII. Crain, C. F. Göthe's Balladen: Der König von Thule und Erlkönig, metrisch ins Griechische übersetzt, in: Schulprogramm der großen Stadtschule Wismar, Wismar, Wismar, J. G. W. Oesten Witwe, 1860, I-IV. Kleiminger, R. Die Geschichte der Großen Stadtschule zu Wismar von 1541 bis 1945. Ein Beitrag zur Geschichte des Schulwesens in Mecklenburg und zur Stadtgeschichte Wismars. Kiel, Schmidt und Klaunig, 1991.
10 Pfeifer et al. 1989, 372.
11 Crain 1858, IV.
12 Crain 1860, I.
13 Tendenziell liegt eine solche ,Rückübertragung' allerdings auf einer Ebene mit dem Usus der lateinischen Abiturarbeiten. Es waren lateinische Aufsätze beispielsweise über „Luther als Bibelübersetzer" oder „Napoleon als Feldherr" zu schreiben, wodurch man auch hier „deutsche Stoffe in ein fremdes Gewand [zwängte]" (Kleiminger 152).
14 Crain 1860, II .
Pfeiffer, W., et al. (Hgg.) Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet von einem Autorenkollektiv des
Zentralinstitutes für Sprachwissenschaft. Berlin, Akademie-Verlag, 1989. Trunz, E. (Hg.) Goethes Werke. Bd. I. Gedichte und Epen, textkritisch durchgesehen und kommentiert. München, Beck, 121981.
Willgeroth, G. Die Lehrer der Großen Stadtschule zu Wismar seit dem Jahre 1800 bis zur Gegenwart, Biographische Skizzen, Wismar, Selbstverlag des Verfassers, 1935.
For citation: Wöhrle G. Goethes Erlkönig — altgriechisch. Philologia Qassica 2016, 11(1), 77-81. DOI: 10.21638/11701/spbu20.2016.107
«ЛЕСНОЙ ЦАРЬ» ГЁТЕ НА ДРЕВНЕГРЕЧЕСКОМ
Георг Вёрле
В 1860 году Карл Фердинанд Краин, директор Висмарской гимназии «Гроссе Штадтшуле», перевел стихотворение Гёте „Der Erlkönig" (в русском переводе В. А. Жуковского — «Лесной царь») на древнегреческий язык. Он назвал свое произведение „Mormo anassa" («Владычица Мормо»; Мор-мо — Яга античного фольклора). В настоящем очерке анализируются мотивы и методы Краина-переводчика в историко-образовательной и филологической перспективе. Переводя на древнегреческий пьесы Гёте и Шиллера («Ифигению» и «Орлеанскую деву»), Краин, поборник классического образования, стремился продемонстрировать, насколько глубоко немецкая драматургия пропитана античными образами и мотивами. Его новый текст представляет интерес для теории перевода как попытка спроецировать в античность поэзию близкой ему эпохи романтизма.
Ключевые слова: Лесной царь, Гёте, Краин, теория перевода, классическое образование.
Received: 10.03.2016 Final version received: 15.05.2016