Научная статья на тему 'Gespräch mit Prof. Dr. László Tengelyi. Bergische Universität Wuppertal. Den 02. Juli 2012. Teil II (А. Kozyreva, g. Chernavin)'

Gespräch mit Prof. Dr. László Tengelyi. Bergische Universität Wuppertal. Den 02. Juli 2012. Teil II (А. Kozyreva, g. Chernavin) Текст научной статьи по специальности «Языкознание и литературоведение»

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Текст научной работы на тему «Gespräch mit Prof. Dr. László Tengelyi. Bergische Universität Wuppertal. Den 02. Juli 2012. Teil II (А. Kozyreva, g. Chernavin)»

GESPRACH MIT PROF. DR. LASZLO TENGELYI * BERGISCHE UNIVERSITAT WUPPERTAL. DEN 02. JULI 2012

TEIL 2

Anastasia Kozyreva: Wir gelangen jetzt zu den Fragen, die das

Phanomenologische Projekt im Allgemeinen betreffen. Wie sehen Sie die inter-disziplinaren Perspektiven der Phanomenologischen Philosophie bzw. wie sehen Sie die Zukunft der Phanomenologie uberhaupt? Soll sie dem Husserl ’schen transzendentalphilosophischen Projekt treu bleiben? Oder liegen ihre vielleicht aussichtsreicheren Entwicklungen heute vielmehr in der Sphare einer mogli-chen Kooperation mit anderen philosophischen und auch nicht-philosophischen Disziplinen?

Laszlo Tengelyi: Ich halte sehr viel von einer Kooperation, besonders mit der Psychologie, aber auch mit anderen nicht-philosophischen Disziplinen. Fur mich war Ricreur immer ein sehr wichtiger Denker — auch Merleau-Ponty hat das schon seinerseits versucht, also Denker innerhalb der franzosischen Tradition, die danach strebten, eine Zusammenarbeit der Phanomenologie mit anderen Wissenschaften zustande zu bringen und zu befordern. Sie waren sehr wichtige Denker fur mich und ich glaube, die Philosophie kann nur dann richtig in der heu-tigen Welt weitergefuhrt und bearbeitet werden, wenn sie ihre Bereitschaft zeigt. mit anderen wissenschaftlichen Herangehensweisen zusammen zu arbeiten. Dazu muss sie auch ihre Fahigkeiten zeigen.

Das ist weitgehend in der phanomenologischen Tradition geschehen, soweit die Humanwissenschaften davon betroffen waren: bei Gurwitsch gab es eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen Phanomenologie und Gestaltpsychologie, auch gab es eine phanomenologische Soziologie bei Alfred Schutz und seinen Schulern.

* Laszlo Tengelyi (*1954) ist ein ungarischer Philosoph und Hochschullehrer. Seit 2011 ist er Professor fur Philosophie an der Bergischen Universitat Wuppertal, Deutschland; 2003-2005 war er Prasident der Deutschen Gesellschaft fur phanomenologische Forschung; er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats einer Reihe der phanomenologischen Zeitschriften, u.a.: Husserl Studies, Annales de phenomenologie, Horizon, usw. Seit 2005 ist er der Vorsitzende des Instituts fur phanomenologische Forschung. Professor Tengelyi ist der Autor der Bucher: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte. Fink, Munchen, 1998; L’experience retrouvee. Essais philosophiques I, L’Harmattan, Paris, 2006; Erfahrung und Ausdruck. Phanomenologie im Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern. [Phaenomenologica, Bd. 180], Springer, Dordrecht, 2007; (mit Hans-Dieter Gondek), Neue Phanomenologie in Frankreich, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2011.

© L. Tengelyi , 2013

Merleau-Ponty profitierte davon — Merleau-Ponty war einer der ersten, der die strukturalistische Linguistik und die strukturalistisch gewendete Ethnologie re-zipierte, noch bevor die Strukturalisten, die eigentlichen strukturalistisch inspi-rierten Philosophen auf der Buhne erschienen waren. Und Ricreur konnte zei-gen, dass die Phanomenologie auch ein Potenzial hatte, auf einen Dialog mit den Geschichtswissenschaften und den Literaturwissenschaften einzugehen.

Davon halte ich viel. Mir scheint aber, dass die Phanomenologie ihre Dialogfahigkeit mit der Mathematik, der Logik und den Naturwissenschaften bisher zu wenig gezeigt hat, obgleich die Phanomenologie ursprunglich von ei-nem Mathematiker — Edmund Husserl — begrundet wurde. Deshalb lege ich einen gewissen Wert darauf, auch in diesem Bereich eine Kooperation anzubah-nen. Ich konnte dazu nur sehr geringfugig, in sehr geringem MaBe beitragen, aber ich wollte das dadurch versuchen, dass ich einen Dialog zwischen Georg Cantor und Edmund Husserl nachzuzeichnen suchte. Ich habe schon davon ein Wort gesagt, das ich heute dem Projekt besonders von Dan Zahavi und anderen, die im Bereich von Phanomenologie und philosophy of mind, Phanomenologie und Kognitionswissenschaften, Phanomenologie und Psychologie arbeiten, ein groBes Gewicht beimesse.

Das ist also, von vornherein, zugegeben. Trotzdem meine ich, dass die Phanomenologie auch als eine eigentumliche philosophische Gesamtrichtung er-halten bleiben sollte. Also, ich wette darauf — sozusagen, das ist meine Option, meine Entscheidung, — dass die Phanomenologie als ein philosophisches Gesamtprojekt es auch verdient, weitergefuhrt zu werden. Sehen Sie sich die verschiedenen philosophischen Richtungen in den letzten hundert Jahren an: Es gibt kaum eine Richtung, die sich so sehr erhalten hatte wie die Phanomenologie. Naturlich handelt es sich um ein Transformationsprojekt, sozusagen um einen Umbruch in der Phanomenologie: Das ist der Preis, den man fur die Erneuerung einer Tradition immer wieder zahlen muss, Tradition und Innovation mussen miteinander einhergehen. Aber nur die analytische Philosophie kann mit der Phanomenologie in dieser Hinsicht richtig verglichen werden; und wenn man die Frage stellen wurde, ob die analytische Philosophie ihren ursprunglichen metho-dologischen Grundsatzen bis zum heutigen Tag treu geblieben ist, dann musste man sagen, dass sehr wenig von diesen methodologischen Grundsatzen in der heutigen analytischen Philosophie noch weitergefuhrt und aufrechterhalten wird.

Mit der Phanomenologie steht es m. E. anders, wir konnen durchaus, auch heute noch, einen methodologischen Transzendentalismus in der Phanomenologie aufrechterhalten, selbst wenn wir diesen Transzendentalismus nicht mehr als eine bloBe Hinwendung zur Subjektivitat verstehen durfen. Das ist aber vol-lig im Sinne von Husserl, wie ich gesagt habe: Heute ist es einsehbar gewor-den, dass bei Husserl die transzendentale Phanomenologie nicht einfach eine

Philosophie der transzendentalen Subjektivitat bedeutete, sondern vielmehr ei-nen methodologisch transzendentalen Weltentwurf, der dann naturlich auch dem Bewusstsein, dem Geist und der Subjektivitat einen angemessenen Ort in-nerhalb des Gesamtzusammenhangs der Welt einraumte. In diesem Sinne kann auch heute noch ein methodologischer Transzendentalismus die Phanomenologie charakterisieren, und diese neue Interpretation des Transzendentalismus oder die Einsicht, dass der Transzendentalismus nicht als eine philosophische Hinwendung zur Subjektivitat verstanden werden sollte, — das ist gerade das, was ich in den Mittelpunkt einer phanomenologischen Metaphysik stellen wurde.

Georgy Chernavin: Die pMnomenologische Philosophie, in vielem aufgrund ihrer komplexen Terminologie und der oft verwendeten Neologismen, ist relativ wenig in der allgemeinen Kultur rezipiert worden. Sie bleibt eine Art «Philosophie fur Philosophen». Ist die akademische Existenzform der PMnomenologie die optimale, oder w^e noch das — husserlisch gesprochen — «Einstromen» der Ergebnisse der pMnomenologischen Forschungen in die allgemeine Kultur er-wunscht?

L. T.: Naturlich ist es fur jede philosophische Richtung immer schon sehr wichtig gewesen, einen Einfluss auf die Gesamtkultur und auf das Gesamtleben des Menschen zu haben. Trotzdem muss man deutlich sehen, dass die philoso-phische «Popularitat», wie Kant das immer wieder formuliert hat, mit auBersten Schwierigkeiten verbunden ist. Man darf die philosophische Popularitat nicht mit ungeeigneten Mitteln erkaufen.

Denken Sie nur daran, wie sehr Kant danach bestrebt war, eine philosophische Popularitat zu pflegen und zu erreichen, und trotzdem ist er eigentlich nicht in seinen Hauptschriften dazu gekommen, seine Grundgedanken in wirk-lich popularer Form vorzutragen — obgleich Kant die groBartige Fahigkeit hatte, auch stilistisch nicht nur einwandfrei, sondern geradezu groBartig fur ein groBes Publikum zu schreiben (das hat er in seinen vorkritischen Schriften, aber auch in manchen Schriften aus der kritischen Periode, besonders in kleineren Schriften, eindeutig bewiesen), trotzdem konnte er seine Hauptgedanken nicht richtig in po-pularer Form vortragen.

Heute scheint mir am wichtigsten zu sein, die philosophische Popularitat zeitgenossischer philosophischer Richtungen, darunter auch der Phanomenologie, nicht dadurch zu erkaufen, dass man die Philosophie mit der Politik gleichsetzt. Von Althusser stammt der Gedanke oder der Ausspruch, konnte man eher sagen, der Gedanke ist ja uralt, aber Althusser hat es pragnant formuliert in seinem m. E. dogmatischen Marxismus, dass die Philosophie nichts anderes sei als die Politik, weitergefuhrt mit anderen Mitteln (in Anknupfung an Clausewitz wurde das so formuliert). Also, ich bin sehr dagegen, die Philosophie so zu betrachten. Mir

scheint, dass diese Betrachtungsweise der Philosophie einen neuen Nahrboden durch den philosophischen Historizismus des XIX. Jahrhunderts gefunden hat, also einerseits durch Marx, aber anderseits auch durch Denker wie Kierkegaard, der sein Denken auch als eine historische Kraft angesehen hat, die gegen die protestantische Kirche in Danemark eingesetzt werden sollte, um die wahre Christenheit im Christentum zu verbreiten (das war die historische Aufgabe, die Kierkegaard sich stellte), oder auch bei Nietzsche finden wir eine groBe historische Aufgabe schon am Anfang seiner Tatigkeit, namlich im Anschluss an Wagner und Schopenhauer ein tragisches Zeitalter bei den Deutschen herbeizu-fuhren. Das ist eine historische Aufgabe und das Denken steht ganz im Dienst dieser historischen Aufgabe bei diesen Riesendenkern des XIX. Jahrhunderts wie Nietzsche, Kierkegaard und auch Marx.

Das hat die Philosophen im XX. Jahrhundert weitgehend dazu verfuhrt, die Philosophie als Politik, verlangert oder weitergefuhrt mit den anderen Mitteln, zu betrachten. Und das hat in meinen Augen sehr wesentlich zu den groBen Kataklysmen, zu den totalitarischen Systemen im XX. Jahrhundert bei-getragen — naturlich kann man die Schuld nicht einfach Marx und Nietzsche geben, aber Marx und Nietzsche und die so eingestellte, historizistisch gefasste Philosophie hat eine wesentliche Rolle einerseits im Kommunismus und anderer-seits im Nationalsozialismus gespielt. Dass die Philosophie sozusagen eine ge-schichtliche Kraft werden wollte, statt eine Wissenschaft oder eine intellektuelle Untersuchung zu bleiben — das hat sehr wesentlich m. E. zu den Kataklysmen des XX. Jahrhunderts beigetragen.

Wir mussen m. E. heute damit brechen, wir durfen keinen Kurzschluss mehr zwischen Philosophie und Politik zulassen. Das Verhaltnis zwischen Philosophie und Politik soll neu bedacht und neu gefasst werden. Wir konnen uns in dieser Hinsicht auf den Neubeginn einer sachlichen, auch inhaltsreich bestimmten Philosophie bei Denkern wie Husserl, Bergson, William James, Alfred North Whitehead und anderen stutzen. Es gibt fur uns einen Neubeginn des Philosophierens am Anfang des XX. Jahrhunderts: Es ist kein Zufall, dass Husserl von Philosophie als strenger Wissenschaft gesprochen hat, und wir soll-ten an diesen Anspruch m. E. anknupfen. Ich verstehe das so, dass Philosophie bis zu einem gewissen Punkt tatsachlich als eine strenge Wissenschaft, wenn-gleich naturlich nicht als eine exakte Wissenschaft im Sinne von Mathematik und Naturwissenschaften, doch als eine strenge, d. h. pmzise Wissenschaft betrieben werden konnte. Bergson hat auch immer Philosophie als prazise Wissenschaft angestrebt: Bergson wollte keinen Irrationalismus herbeifuhren, sondern er wollte Philosophie als eine prazise Wissenschaft betreiben und ist auch in seiner Argumentationsweise durchaus prazis. Das verstehe ich so, dass es gewis-se grundlegende Besinnungen auf philosophische Probleme gibt, die sozusagen zum wissenschaftlichen Bereich innerhalb der Philosophie gehoren.

Ich nehme ein Beispiel aus dem Bereich der Fragestellung nach der persona-len Identitat: Dass die personale Identitat keine substantielle Identitat ist (keine Identitat einer Dingsubstanz), auch nicht die Identitat einer res cogitans (einer denkenden Substanz), ist seit Locke und erst recht seit Kant eine feststehende Grundlage der Beschaftigung mit der Frage nach der personalen Identitat. Das ist Wissenschaft m. E.: Wer wissenschaftlich in diesem Bereich mitreden mochte, muss von dieser Evidenz ausgehen. Selbst wenn man diese Evidenz aus irgend-einem Grunde wieder in Frage stellen wollte, ist das nicht mehr eine Ruckkehr zu einer carte sianischen Position z. B., sondern man muss mit den Einsichten von Locke, von Kant, von Husserl, von Heidegger, von Ricreur, von Denkern der narrativen Identitat rechnen, man muss diese Einsichten argumentativ als eine Grundlage fur alles Weitere betrachten. Und man kann in diesem Bereich durchaus argumentieren, standpunktlos argumentieren. In diesem Sinne handelt es sich um einen wissenschaftlichen Bereich innerhalb der Philosophie.

Wenn es um die Frage geht, ob wir der personalen Identitat tatsachlich ein grundlegendes Gewicht beimessen sollen, ob personal identity als etwas angese-hen werden sollte, what really matters im Sinne von Derek Parfit, dann kommen wir zu einer Grenzfrage, die m. E. nicht mehr rein wissenschaftlich entschieden werden kann. Hier handelt es sich sozusagen um kulturelle Vorschlage, die die Philosophie machen kann und soll. Und verschiedene kulturelle Vorschlage sind moglich. Es kann ein agonales Verhaltnis und ebendeshalb ein Argumentationsfeld geben, in dem es darum geht, verschiedene kulturelle Vorschlage zu diskutieren. Ich wurde dafur optieren, dass die Frage nach der personalen Identitat eine grund-wesentliche Frage fur jede Kultur ist, die von der europaischen oder insgesamt westlichen Kultur ausgeht und gewisse Grundwerte dieser Kultur teilt. Ich wurde dafur optieren und das als einen kulturellen Vorschlag fur andere Kulturen for-mulieren — ich meine nicht, dass andere Kulturen in dieser Hinsicht ein fur al-lemal eine andere Position annehmen sollten, sondern es ware von Gewinn auch fur andere Kulturen, sich diesen Grundwert anzueignen.

Das ist also ein kultureller Vorschlag. Derek Parfit dagegen meint, dass das keineswegs wesentlich fur das Schicksal der Menschheit ware, dass wir uns eher an einem buddhistischen Modell orientieren sollten und dass wir auch hier in Europa oder in der gesamten westlichen Welt uns ein buddhistisches Modell an-eignen sollen. Das ist eine Streitfrage, die nicht durch einfache wissenschaftli-che Mittel entschieden werden kann, aber naturlich konnen argumentative Mittel und philosophische Gedankengange auch noch in diesem Feld von kulturellen Optionen eingesetzt werden. Das ist auch keine Politik einfach, sondern es han-delt sich um philosophisch ausgereifte kulturelle Optionen, zwischen denen auch ein Gesprach, ein Dialog und naturlich auch Argumentation moglich ist.

Und dann gibt es tatsachlich auch politische Fragen, zu denen Philosophen Stellung nehmen mussen. Sie konnen auch Inspiration davon schopfen, dass

sie Philosophie studiert haben, sie konnen aber nicht als wissenschaftliche Philosophen zu diesen politischen Fragen Stellung nehmen. Politische Fragen sind Fragen, deren Entscheidung nicht aus einem philosophischen System dedu-ziert werden kann. Wenn wir davon ausgehen, dass die Demokratie eine gute oder sogar die beste politische Einrichtung ist, dann mussen wir von vornherein zu-gleich davon ausgehen, dass es verschiedene Positionen, verschiedene mogliche und akzeptable Stellungnahmen zu politischen Fragen gibt. Ebendeshalb konnen politische Entscheidungen nicht aus einem wissenschaftlich gesinnten philoso-phischen System abgeleitet werden. Schon das Wort, dass aus einer philosophi-schen Position ein politischer Standpunkt «abgeleitet» wird oder «folgt», scheint mir antidemokratisch verwendet zu sein. Aus einer philosophischen Position kann keine eindeutige politische Entscheidung abgeleitet werden, weil keine politische Entscheidung mit der Autoritat der Wissenschaft getroffen werden kann; das wurde namlich bedeuten, dass jede andere Stellungnahme zu dieser politi-schen Grundfrage von vornherein als ein Irrtum oder sogar als eine bosartige Abweichung von der Wahrheit verstanden werden musste. Und das ist naturlich vollig antidemokratisch. Wir konnen also nur sagen: Verschiedene philosophische Positionen konnen eine Inspirationsquelle fur uns sein, wenn wir zu politischen Fragen Stellung nehmen. Ich bin sehr dafur, dass wir zu politischen Fragen Stellung nehmen, auch Intellektuelle, Philosophen sollen das genauso tun wie die Nicht-Intellektuelle, das ist auBerordentlich wichtig, aber auch Intellektuelle durfen sich nicht auf die Philosophie und die Wissenschaft berufen, wenn sie zu politischen Fragen Stellung nehmen, sondern sie mussen sich auf konkrete Werte und Uberzeugungen berufen — und zwar auf Uberzeugungen, die nicht von je-dermann geteilt werden mussen.

In welcher Eigenschaft nehmen wir dann zu politischen Fragen Stellung? Ich wurde sagen: nicht als Philosophen, nicht als Wissenschaftler, nicht in dieser Eigenschaft. Sondern ich kann mir zwei Optionen vorstellen: naturlich als Staatsburger nehmen wir zu politischen Fragen Stellung, wie jeder andere Staatsburger, der sich auf seine Erfahrung und seine Kenntnisse dabei stutzt. Aber ich bin mit dieser Bestimmung nicht ganz zufrieden, ich wurde sagen: Mehr noch und in der erster Linie mussten wir zu politischen Fragen als Weltburger Stellung nehmen. In dieser Hinsicht bin ich mit Jurgen Habermas vollig einver-standen, wenn er fur die politische Stellungnahme eine weltburgerliche Position fordert, obgleich ich eine andere Uberzeugung von Habermas — und der gesam-ten Frankfurter Schule nicht — teilen kann: namlich die Uberzeugung davon, dass wir noch immer Zeitgenossen der Junghegelianer seien, — dass wir also die Philosophie gerade dazu verwenden sollten, zu unserer Welt, zu unserer ge-genwartigen Gesellschaft Stellung zu nehmen. Vielmehr sollten wir bemerken, dass wir nicht mehr Zeitgenossen der Junghegelianer sind, sondern uns bereits

auf eine Renaissance, auf eine Wiedergeburt des sachlichen Philosophierens bei Husserl, Bergson, James, Whitehead und anderen Denkern stutzen konnen.

A. K.: Wenn Sie von der Moglichkeit der philosophischen Stellungnahme zu politischen Fragen sprechen, denke ich an die marxistische Tradition und an die Frankfurter Schule — ich glaube, sie selbst definieren ihre Position nicht als eine blofie Stellungnahme, sondern als eine Kritik. Der Philosophie kommt also eine starke Rolle zu: Kritik an der Gesellschaft und an der Politik zu uben. Und die Kritik heifit nicht, dass diese Stellungnahme etwas Bestimmtes bzw. eine definitive Antwort fur die aktuelle Situation sein soll. Glauben Sie, dass die Philosophie diese Verantwortung der Gesellschaft gegenuber hat, rnmlich auf ihre wichtig-sten politischen Fragen kritisch zu reagieren?

L. T.: Nein, ich glaube das so nicht. Ich glaube ebensowenig, dass die Philosophie die Aufgabe hat, politische Probleme zu losen, wie ich nicht glaube, dass die Mathematik die Aufgabe hat, sagen wir, okonomische Probleme zu losen: Die Mathematik kann dazu mit ihren Mitteln beitragen, wirtschaftliche Probleme zu losen, wie die Philosophie m.E. ebenfalls dazu beitragen kann, sich im Raum politischer Fragestellungen besser zurechtzufinden. Aber ich glaube nicht, dass diese intellektuellen Tatigkeiten dadurch definiert werden konnten, dass sie die bestehende Gesellschaft irgendwie zu bedienen hatten. Das sind intellektuelle Tatigkeiten, mit denen wir uns deshalb befassen, weil wir etwas uber die Welt und uber unser eigenes Leben herausfinden mochten, oder weil wir etwas einfach uber mathematische Strukturen und Gegenstande herausfinden mochten.

Es gibt ein reines Erkenntnisinteresse bei diesen Wissenschaften. In dieser Hinsicht mussen wir sagen: Mathematik, Philosophie, weitgehend auch die grundlegenden Naturwissenschaften und auch die Humanwissenschaften sind Tatigkeiten, die nicht dazu dienen, bestimmte Aufgaben fur die Gesellschaft zu leisten. Sondern sie sind intellektuelle Tatigkeiten, die sich eine Gesellschaft deshalb leisten kann und soll, weil sie eine spezifisch menschliche Existenzform weiterhin pflegen mochte und weil (das ein Grundgedanke von Heidegger, den ich weiterfuhren mochte) zu dieser menschlichen Existenzformen wesenhaft gehort, sich in der Gesamtwelt zurechtzufinden, sich zur Gesamtwelt — nicht nur geographisch oder kosmologisch, sondern auch historisch verstanden, in der Fulle der epistemischen Zeiten — zu verhalten. Und ebendeshalb wurde ich fur sehr wichtig halten, von unserer gerade gegebenen, heute gerade bestehenden Welt einen gewissen Abstand zu nehmen, eine Distanz zu wahren, die nur da-durch ermoglicht wird, dass wir uns auch mit der Vergangenheit fur sich befassen und dabei nicht nur aktuelle Aufgaben im Auge haben.

Ich bin einerseits naturlich dafur, dass das philosophische Wissen unter an-derem auch dazu verwendet wird, sich im Bereich politischer Fragestellungen

zurechtzufinden, obgleich die Entscheidungen selbst nicht aus dem philosophi-schen Wissen deduziert werden konnen; andererseits bin ich aber naturlich auch fur die Freiheit grundlegender Forschungstatigkeiten. Diese Freiheit besteht unter anderem auch darin, dass die Philosophie und andere Bereiche der Wissenschaft nicht ganz in den Dienst praktischer Aufgaben gestellt werden.

Ich mochte noch hinzufugen, dass es zwar weitgehend kritische Traditionen innerhalb der Anwendung der Philosophie auf die Politik gibt — es gibt tat-sachlich die Frankfurter Schule hier in Deutschland, die sich von vornherein als eine kritische Theorie verstand; dass aber man das Feld uber diese kritischen Traditionen im eingeburgerten Sinne des Wortes hinaus durchaus erweitern kann. Ich sehe z. B. eine gewisse Kooperation zwischen Phanomenologie, Hermeneutik und gewissen politischen Fragestellungen und Stellungnahmen in Amerika: in der amerikanischen, sogenannten continental philosophy — also der kontinen-taleuropaischen Philosophie — gibt es politisch inspirierte Richtungen, die sich auf Phanomenologie, Hermeneutik, Dekonstruktivismus, Differenzphilosophie, Diskursanalyse usw. stutzen. Vor allem konnte ich zwei solche politischen Richtungen nennen: den Feminismus einerseits und andererseits die sogenann-te critical race theory, die von Robert Bernasconi usw. betrieben wird (die naturlich keineswegs darin besteht, eine Rassentheorie im Sinne irgendeiner na-tionalsozialistisch oder anders bestimmten diskriminierenden Rassentheorie zu betreiben, sondern vielmehr darin besteht, in Amerika die Eigentumlichkeiten der afroamerikanischen Kultur herauszustellen und auch die politischen Rechte und Spielraume der afroamerikanischen Kultur zu erweitern). Es handelt sich naturlich auch in diesen beiden Fallen um kritische Richtungen, die aber im Dienst der Losung einer besonders in den Vereinigten Staaten auch heute weitgehend aktuellen politischen Aufgabe stehen. In der ganzen Welt ist es aktuell, auch in Deutschland, die Probleme politisch zu losen, die von Feministen zur Sprache ge-bracht worden sind; und in den Vereinigten Staaten ist es hochaktuell, Probleme zu losen, die mit der afroamerikanischen Kultur und den Spielraumen afroameri-kanischer Gemeinschaften zusammenhangen.

Das sind, wurde ich sagen, nicht allein kritische Anwendungen philoso-phischer Fragestellungen auf die Politik, sondern auch positive Vorschlage sind ausgearbeitet worden; das Problem ist naturlich, dass es sich bei diesen Richtungen nicht um strenge Philosophie handelt, sondern wirklich um politische Stellungnahmen, die m. E. niemals aus einer strengen Philosophie abgeleitet werden konnen. Es gibt ebendeshalb eine schwere Zusammenarbeit zwi-schen streng philosophisch gesinnten Richtungen wie die Phanomenologie (auch Hermeneutik usw.) und diesen politisch ausgerichteten Stellungnahmen, z. B. in-nerhalb der Society for Phenomenology and Existential Philosophy in Amerika. Beide Stromungen leben nebeneinander und arbeiten zusammen miteinander,

aber das ist naturlich keine einfache Zusammenarbeit, weil die einen Richtungen innerhalb des Umkreises strenger oder praziser Philosophie bleiben mochten und die anderen durchaus danach streben, politische Stellungnahmen zu befordern.

G. Ch.: Die heutigen pMnomenologischen Forschungen (Husserl-Fors-chungen) zeigen ein steigerndes Interesse an der Problematik der prakti-schen Philosophie (wie beispielsweise der Ethik und der Handlungstheorie), der Teleologie und der Theologie. Halten Sie diese Grenzprobleme der PMnomenologie fur aussichtsreich oder steckt dahinter vielmehr eine Abweichung von der (seit Husserl) gestrebten Wissenschaftlichkeit (der PMnomenologie)?

L. T.: Ich halte die Phanomenologie fur eine grundlegende philosophische Richtung, und daraus folgt mir, dass die Phanomenologie nicht Phanomenologie der Mathematik, Phanomenologie der Psychologie, Phanomenologie der Geschichte usw. ist, also keine Philosophie von ist, keine Philosophie mit einem Genitiv, keine Philosophie von etwas ist, sondern eine Philosophie tout court, die sich auf alle Gegenstande erstrecken kann und soll.

Fur mich sind also ethische Probleme (Ethik oder praktische Philosophie) keineswegs etwa Grenzprobleme der Phanomenologie, sondern das sind grund-legende Bereiche einer phanomenologischen Philosophie, die leider weniger fruchtbar von Husserl selbst und seinen unmittelbaren Nachfolgern ausgear-beitet wurden, als z. B. der Bereich der Logik, der Mathematikphilosophie oder auch der Wissenschaftstheorie, naturlich auch der Bereich der Bewusst-seinsphanomenologie, der Phanomenologie der Lebenswelt usw. Husserls ethische Vorlesungen haben zwar eine gewisse Anziehungskraft, Schelers Formalismus-Buch ist eine bedeutende Leistung, Nicolai Hartmanns Ethik kann auch als ein Unternehmen an der Grenze der Phanomenologischen Tradition an-gesehen werden — das waren nicht unbedeutende Versuche, zur Ethik beizu-tragen, aber m. E. lassen sich diese Versuche nicht etwa mit der Tiefe und auch Anwendungsfahigkeit der kantischen Ethik messen.

Ebendeshalb ist es sehr wichtig, dass in der neueren franzosischen Phanomenologie neue ethische Impulse und Entwurfe entstanden sind, vor al-lem bei Emmanuel Levinas — das ist die einzige phanomenologische Ethik, die m. E. auf Augenhohe mit der kantischen Tradition verkehren kann. Und das ist ein groBer Gewinn fur die phanomenologische Tradition: Spatestens Emmanuel Levinas hat deutlich gezeigt, dass die Phanomenologie auch in der Ethik ein Potential hat, dass sie also ein Recht und eine Moglichkeit hat, in den wichtigsten ethischen Fragen mitzusprechen.

G. Ch.: Wenn einepMnomenologisch begrundete Ethik doch moglich w^e, Mtte sie dann, Ihrer Meinung nach, blofi deskriptiven oder doch pmskriptiven Charakter?

L. T: Das ist eine schwierigere Frage. Vor allem muss man sagen: Die Phanomenologie befasst sich mit einer Ethik vor der Ethik, einer Elementarethik, einer Sphare von ethischen Anspruchen, die ihrerseits noch nicht notwendig berechtigte Anspruche sind und ebendeshalb nicht normativ bestimmt sind. Es handelt sich um die Quelle der Normativitat, source of normativity (im Sinne von Christine Korsgaard) — die ethischen Anspruche, die etwa bei Levinas be-schrieben werden, bilden eine source of normativity, aber das ist nicht so zu ver-stehen, dass jeder Anspruch, der an mich ergeht, von vornherein berechtigt ware. Sondern es ist eine Quelle ethischer Normativitat, es gibt eine andere Quelle ethi-scher Normativitat und diese andere Quelle ist einer Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit, nach dem Eintritt des Dritten zu entnehmen. Diese letztere Frage fuhrt zu einem Gesetz (im Sinne von Levinas).

Man kann auch m. E. innerhalb einer phanomenologischen Ethik durchaus sagen (ich habe gerade einen Vortrag daruber am Ende Mai gehalten), dass das kantische Grundgesetz der Ethik, der kantische kategorische Imperativ sozusagen eine Grundregel ethischen Handelns uberhaupt ausdruckt. Bei der Beantwortung der Frage nach der Gerechtigkeit ist es sehr wichtig, dass wir mit uns selbst keine Ausnahme von einem so oder auch so bestimmten Gesetz machen, das wir selbst fur gultig halten. Dieses formale Grundgesetz bei Kant ist schon eine grundle-gende Spielregel, also in diesem Sinne ein konstitutives Gesetz jeden ethischen Handelns. Eine solche Grundnorm kann ohne weiteres auch in der phanomenologischen Ethik anerkannt werden, aber bei dieser Grundnorm setzen wir voraus, dass es auch konkret bestimmte Pflichten oder Gesetze gibt, die wir fur gultig erachten und von denen wir ebendeshalb mit uns selbst keine Ausnahme machen. Diese konkret bestimmten Pflichtgesetze mussten in einer phanomenologischen Perspektive als VorschMge oder mogliche Kandidaten fur ethische Gesetze er-achtet werden und nicht fur von vornherein bestehende Normen.

In einer phanomenologischen Ethik konnen wir nicht davon ausgehen, dass die Pflichten einer bestehenden Gemeinschaft, einer bestehenden Gesellschaft, einer bestehenden Moral von vornherein ein fur allemal gultige Pflichten und Grundnormen seien — es gibt nur eine formale Grundnorm und alle konkreten Moralen mussen phanomenologisch hinterfragt werden. Es gibt einen nietzschea-nischen Impuls dabei fur die phanomenologische Ethik: konkrete Moralsysteme, normative Systeme sollten und konnten keineswegs in einer phanomenologischen Ethik von vornherein legitimiert werden. Vielmehr geht es darum — was Levinas deutlich formuliert hat -, dass jedes konkrete Gesetz auf einer Gleichmachung un-gleicher Anspruche beruht und ebendeshalb in Frage gestellt und weiter verfeinert werden muss. Es gibt also durchaus eine Auseinandersetzung in der phanomenologischen Ethik mit konkreten Moralsystemen, und diese Auseinandersetzung ist zum Teil kritisch angelegt. Die phanomenologische Ethik muss ein kritisch-anar-

chisches Potenzial im Umgang mit normativen Moralsystemen haben. Das kommt aber nicht daher, dass hier gar keine Norm, gar keine Praskription, gar keine Vorschrift anerkannt werden kann; das kantische Grundgesetz kann m. E. in ei-ner phanomenologischen Ethik ernst genommen werden. Nur in der Anwendung dieses Grundgesetzes geht es gerade darum, nicht etwa aus diesem Grundgesetz konkret ein System der Pflichten abzuleiten und normativ zu rechtfertigen, son-dern vielmehr gerade eine kritische Einstellung gegenuber der Gleichmachung des Ungleichen — um mit Nietzsche zu sprechen — einzunehmen.

G. Ch.: Ich mochte noch einige Fragen stellen, die in die Richtung «PMnomenologisches Projekt» und «pMnomenologische Bewegung» gehen, und zwar zuerst im Bezug auf die Idee des pMnomenologischen аицфЛоаофєіv und seines faktischen Misslingens. Im Allgemeinen begegnet das pMnomenologische Zusammenphilosophieren als gemeinsames Forschungsprojekt seri-osen Schwierigkeiten: oft kann man eine enge Spezialisierung der Forscher und ihre Trennung in abgesonderte Gemeinschaften beobachten («Husserlianer», «Heideggerianer», Nachfolger von Levinas oder Henry etc.). Worin sehen Sie den Grund fur eine solche Absonderung? Und w^e noch das Ideal des Zusammenphilosophierens haltbar?

L. T:: In einem erweiterten Sinne konnen wir naturlich von diesem Ideal aus-gehen. Fur mich war immer schon eine Philosophie pragend, die davon ausging, dass die Philosophie die Aufgabe hat, die groBen Entgegensetzungen innerhalb des Geistes und der Kultur zu bedenken und moglichst zu einer Vereinigung der Gegensatze zu kommen. Hegel hat dieses Projekt am Anfang der Jenaer Periode formuliert (in der Differenzschrift z. B.), dass das Bedurfnis der Philosophie dort erwacht, wo es Entgegensetzungen innerhalb des geistigen Lebens und der Kultur gibt und diese Gegensatze nicht mehr vereinigt werden konnen. Die Aufgabe der Philosophie bestehe dann darin, diese Gegensatze doch miteinan-der zu versohnen. Dieses Versohnungsmodell kann ich allerdings nicht so ohne weiteres akzeptieren, weil es auch auf ein Totalitatsdenken hinauslaufen kann und ich dieses Totalitatsdenken naturlich nicht gutheiBen kann. Philosophie als Totalitat des Geistes, als Totalitat der Kultur, als Totalitatsdenken kann ich naturlich nicht gutheiBen.

Deshalb konnen wir eher mit einem kantischen Modell operieren, und das steht mir sehr nahe, Kant kann man als den Denker der Antinomien auffassen, auch in einem erweiterten Sinne: ein Leben lang hat Kant danach gestrebt die ver-schiedenen Antinomien im Geistesleben zu erfassen, deutlich zu machen und na-turlich auf eine kritische Weise aufzulosen, was aber kein Totalitatsdenken bedeu-tete, sondern vielmehr mit der Anerkennung gewisser antinomischer Verhaltnisse, mit der Anerkennung gewisser Bruche innerhalb der Vernunft einherging.

Das steht mir naher und das halte ich fur mehr anwendbar, ich schlage aber trotzdem eher ein agonales Moment vor, wobei ich betonen mochte, dass ein Agon zwischen zwei Richtungen schon ein Gegensatz sei und einen Wettstreit bedeute, aber in einem agonalem Moment gibt es nicht nur Gegensatze und Entgegensetzungen, sondern es gibt auch eine Pluralitat, eine Vielfalt ver-schiedener Bestrebungen, die in verschiedene Richtungen weisen. Der Agon, der Wettstreit ware innerhalb dieser Pluralitat einfach darin zu suchen, eine Sprache zu entwickeln, in der argumentativ durchgefuhrte Diskussionen statt-finden konnen, so dass man sich auf gemeinsame Einsichten stutzen kann in der Formulierung von Projekten und Zielsetzungen, die dann doch in verschie-dene Richtungen weisen. Eine Pluralitat innerhalb der Philosophie, also eine Mannigfaltigkeit verschiedener Bestrebungen ist m. E. niemals auszuschalten.

Das grundet sich auf Folgendes: Die Philosophie ist bis zu einem gewissen Grad eine strenge oder prazise (und in diesem Sinne auch wissenschaftlich ge-sinnte) Forschung, aber doch nicht einfach das ist das, was wir eine Philosophie nennen. Die Philosophie hat einen Aspekt, der auf eine unendliche Aufgabe verweist — und das ist diese strenge, prazise Forschungsaufgabe, — aber die Philosophie hat auch einen endlichen Aspekt, der damit zusammenhangt, dass ein Denker auf das Leben reflektiert. Philosophie ist also nicht nur Weltentwurf, sondern Philosophie ist auch eine Reflexion auf das Leben. Und als eine Reflexion auf das Leben ist die Philosophie in einem bestimmten Sinne eine personliche Hochstleistung.

Die Franzosen sprechen davon, dass man une philosophie personnelle ent-wickeln kann, oder dass man ein Buch geschrieben habe, das plus personnel als ein anderes sei. Darunter ist zu verstehen, dass hier eine eigenstandige, originelle Philosophie entwickelt wurde, nicht aber eine wissenschaftliche Interpretation anderer Philosophien. Es hat einen Sinn hier, von einer philosophie person-nelle zu sprechen: letztlich ist eine Gesamtphilosophie eine hochstpersonliche Angelegenheit und eine philosophische Personlichkeit hinterlasst ihre Spuren in ihrer Philosophie. In diesem Sinne gibt es viele verschiedene Philosophien auch in der Philosophiegeschichte, die in ihrer Ganzheit, in ihrer eigentumlich ange-legten Totalitat auch wertvoll fur uns sind; deshalb lesen wir Philosophien aus alteren Zeiten so, wie wir Werke von Shakespeare oder von Dante in der Literatur lesen; genauso lesen wir in der Tat Spinoza oder Aristoteles auch heute.

Das sind auch personliche Hochleistungen, und wir sind auch darauf neugie-rig, die philosophischen Personlichkeiten in diesen Werken zu finden. Eine philo-sophische Personlichkeit druckt sich in einer Philosophie so aus, dass dabei auch eine unendliche Aufgabe des Philosophierens weitergefuhrt wird, und das kann auch angeeignet werden. Wir konnen wesentliche gedankliche Einsichten von Aristoteles, Spinoza, Kant oder Hegel auch heute noch weiterfuhren und wir kon-

nen sie uns aneignen, ohne dabei darauf Rucksicht zu nehmen, welche personli-chen Eigentumlichkeiten in dieser Philosophie zum Ausdruck gekommen sind; aber es reprasentiert fur uns auch einen Eigenwert, dass auch eine Personlichkeit ihre Spuren in einer Philosophie hinterlassen hat. Und das soll auch weiterhin so sein: Die Philosophie kann als ein Ganzes nicht unendlich sein, sondern muss endlich bestimmt sein, selbst wenn dieser endliche Weg in einer Arbeit an un-endlichen Problemen besteht. Welche Probleme gerade gewahlt wurden, welche Probleme bis zu welchem Grad weitergefuhrt wurden, in welche Richtung sie weitergefuhrt wurden — das bestimmt das Personliche, das Eigentumliche an diesem Werk. Die Person druckt sich nicht so aus, das sie ihre Einzelheiten, ihr Einzelleben philosophisch reflektieren musste: Das kann eine vollig trockene Bearbeitung wissenschaftlich-philosophischer Probleme sein, aber doch so, das die Art und Weise, wie diese Probleme bearbeitet werden und bis zu welchem Grad sie weitergefuhrt wurden, die Spur einer Personlichkeit zeigt.

Darin grundet m. E. die Absonderung verschiedener philosophischer Projekte einerseits und verschiedener philosophischer Traditionszweige anderer-seits. Naturlich ist es ein sehr ungunstiges Phanomen, wenn es dazu kommt, dass nicht einmal Fichteaner und Hegelianer miteinander mehr reden, aber es ist sehr verstandlich, dass eine eigentumliche Interpretationstradition aus Fichte genau-so erwachst wie aus Hegel, aus Kant usw. Also auch die Philosophiegeschichte orientiert sich letztlich nach personlichen philosophischen Profilen, und das kann ebendeshalb m. E. nicht beseitigt werden und ware es auch nicht gut, wenn das beseitigt wurde. Was aber das аицфііоаофєгг betrifft, so sehe ich die Moglichkeit eines Zusammenphilosophierens darin, wirklich eine gemeinsame Sprache zu erarbeiten und dazu ist es notig, dass jedes aktuelle philosophische Projekt heute und auch jede philosophiehistorische Interpretationstradition ihre Dialogfahigkeit bedenkt und erhoht. Auf die Dialogfahigkeit musste man viel mehr Wert legen, als dies heute der Fall ist, auch innerhalb der Phanomenologie.

TENGELYI LAszlo — Ph.D. in Philosophy, Professor at the University of Wuppertal (Germany).

ТЕНГЕЛИ Ласло — доктор философии, профессор Университета Вупперталя (ФРГ).

E-mail: tengelyi@uni-wuppertal.de

Horizon 2 (1) 2013 169

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