Natalija Ganina
DIE MOSKAUER BARBARALEGENDE
AUS DEM STRAßBURGER REUERINNENKLOSTER (RSB, F. 68, № 446)
Статья посвящена исследованию уникальной версии жития св. Варвары в пергаментной части рукописного сборника XV в. из страсбургского монастыря св. Марии Магдалины (РГБ, ф. 68, № 446, olim ф. 183, № 1310, до 1929 г. Библиотека Генерального штаба, Санкт-Петербург).
Ключевые слова: средневековые немецкие рукописи, Страсбург, XV век, монастырь св. Марии Магдалины, житие св. Варвары
Die Moskauer Sammelhandschrift aus dem Straßburger Reuerinnenkloster St. Maria Magdalena (Mo) besteht aus zwei Faszikeln auf Pergament und Papier und enthält die Heiligenlegenden (Pergamentteil, Bl. 1-74) und mystische Traktate des elsässischen Predigers Johannes Kreutzers (Vgl.: Ganina, in Vorbereitung). Der Pergamentteil wurde von der Nonne Katharina Ingolt 1477 geschrieben (Palmer 2009, Ganina 2014) und wurde ursprünglich als ein selbständiges Buch gestaltet (Zum materiellen Befund vgl. Ganina 2014; Ganina 2015). Der Pergamentteil der Moskauer Sammelhandschrift enthält die Katharinen- und die Barbaralegende, die mit vergoldten Zierinitialen ausgestattet wurden. Die beiden Legenden erscheinen in Prosafassungen und sind mit Mirakelanhängen versehen, während die Barbaralegende noch einen abgesonderten Anhang 'Ein geistliches ingrün schöpplin' hat (71r-73r) (Ganina 2014: 181). Das Büchlein trägt den von der Schreiberin ausgeführten Besitzvermerk Dis buch gehort in daz closter zun ruwerin in Stroßburg (Bl. 2r). Es handelt sich um eine Legendenhandschrift, die am ehesten als Tischlektüre zu den Festen der hll. Katharina und Barbara diente. Die Moskauer Katharinenlegende wird in der sogenannten 'Hodie'-Fassung überliefert (Ganina 2014: 181-182). Die Barbaralegende kommt aber in einer bisher unbekannten Fassung vor und bedarf näherer Untersuchung.
Die hl. Barbara von Nikomedien wird sowohl in der östlichen als auch in der abendländischen Kirche hoch verehrt und gilt als Helferin gegen den unhervorgesehenen Tod, insbesondere gegen den Tod ohne Sterbesakramente, auch gegen Seuchen, Blitz und Brand.
Im Westen wurde sie seit dem 14. Jahrhundert zu 14 Nothelfern gerechnet. Aber im Gegensatz zur „reichen Katharinenliteratur" (Assion 1983: 1055) gab es im christlichen Abendland keine vergleichbare Barbara-Tradition. Die ursprüngliche Vita der hl. Barbara war im Osten entstanden und wurde da durch eine entwickelte Überlieferung gekennzeichnet. Als altertümlichste gilt die syrische Fassung, deren älteste zurzeit bekannte Abschrift ins 8. Jahrhundert datiert und Johannes dem Säulenheiliger zugeschrieben wird. Am reichsten ist die griechische Tradition, in der eine Reihe von anonymen Legenden, die Symeon Metaphrastes zugeschriebene Barbara-Vita und viele Homilien zum Fest der hl. Barbara von Johannes von Damaskus, Arsenios von Kerkyra und Georgios Choiroboskos vorhanden sind. Insbesondere die Homilien waren für die nachfolgende spätere Tradition wichtig (Tvorogov 1987, Fedotova 2003). Im Westen ist die lateinische Barbaralegende bei Jacobus de Voragine dargestellt (vgl. Graesse 1850), und diese Version dient als Vorlage für volkssprachliche Fassungen.
Die deutsche Barbaralegende ist in zahlreichen Vers- und Prosafassungen überliefert: so sind bei Werner Williams-Krapp 21 Fassungen mit entsprechender Überlieferung (noch ohne Kenntnis der Moskauer Handschrift) aufgelistet1
Die Moskauer Barbaralegende aus dem Straßburger Reuerinnenkloster (59r-73r) hat folgende Initien: Hvt ist vns nun aller liepsten ein furclores hochzit luchten die iungfroweliche gezierde die vnser gedechtnis ernuert (Vorrede, 59r, 5-17) und By den ziten des keisers Maxencius waz ein heidenlicher furste, rich vnd mehtig von gewalt, Dyostorus genant (59v, 28-29, 60r, 1) und ist mit einer Reihe von Anhängen versehen, nämlich mit einem umfangreichen Schlussgebet zu der heiligen Barbara (68r,12-68v, 6), 4 Mirakeln (68v,9-71r,28) und einem Schlussanhang 'Ein geistliches ingrün schöppUrf (71r, 28-29 - 73r 9). Diese Fassung der Barbaralegende wurde von Nigel Palmer2 und von Werner Williams3 als Unikat eingeschätzt.
1 Vgl. Williams-Krapp 1986: 394-395, auch Reuter 1978, durch das Buch von Williams überholt
2 Untersuchungen der Moskauer Handschrift von Nigel Palmer (Oxford) im März 2013, schriftliche und mündliche Konsultationen und Besprechungen seit 2013, für die ich Nigel Palmer sehr zu Danke verbunden bin.
3 Schriftliche Auskunft nach der Einsicht der Transkription (Mai 2013). Mein besonderer Dank gilt Werner Williams für die Konsultation und freundliche Hinweise auf die Literatur.
Die Vorrede soll auf eine lateinische Sequenz des Festes der hl. Barbara zurückgehen, deren Quelle noch nicht nachgewiesen werden konnte. Die Untersuchung zeigt, dass die Moskauer Barbaralegende aus dem Straßburger Reuerinnenkloster sowohl auf die lateinische 'Legenda aurea' als auch auf die Fassung der Elsässischen 'Legenda aurea' (I im Normalcorpus) zurückgeht. Dabei steht die Moskauer Fassung nach ihren Satzstrukturen der lateinischen Vorlage näher als alle drei Prosafassungen der Barbaralegende in der Elsässischen 'LA' (I im Normalcorpus und Kurzfassungen II und III im Sondergut), indem es aber keine Neuübersetzung ist, sondern eine in der elsässischen Tradition entstandene Überarbeitung mit Auslassungen und Verbreitungen. Vgl.:
'LA': Erat tempore Maximiani imperatoris vir quidam gentilis in Nicomedia nobilitate generis praeclarus ac temporalium rerum abundantia summus, nomine Dioscorus, cui erat filia speciosissima nomine Barbara. Ipsa autem quia erat corpore pulcherrissima, eam pater plurimum diligebat; quapropter reclusit eam in turri altissima, quam eidem aedificare fecerat, ne ab aliquo homine videretur. Erat autem beata Barbara ingeniosa et a tenera aetate vanas cogitationes relinquens coepit divina cogitare (Zitiert nach Graesse 1850: 898).
Mo: By den ziten des keisers Maxencius waz ein heidenlicher furste, rich vnd mehtig von gewalt, Dyostorus genant. Dirre het ein junge tochter, waz geheissen Barbara. Die waz so schone von libe, daz in vnbillichen duhte, daz su die menschen solten ansehen. Er het su och zu mol liep vnd het ir grosse sorge. Do von beslos er su in einen hohen turn, wenn es waz hie vor gewonheit der heiden, daz si mit dem aller grosten flis behüten die junpfrowelicheit an iren dohtren. Vnd wenn su solten in den tempel der apgotter gon, so verdeckten su in ir antlit mit einem gar kostbaren düch, daz si die lute nit mohten angesehen, vff daz nieman von iren wegen viel in lose begirde.
Es beschach, daz die besten edelsten herren des landes vmb sant Barbara wurbent vnd boten iren vatter, daz er in sin dohter gebe zü einer gemahelen. Do rufte Dyostorus siner dohter vnd sprach: „Barbara, min allerliepste dohter, nim war, es sint hohe fursten vnd herren kummen zü mir vnd bitten mich, daz ich dich ynnen gebe zü einer gemahelen." Do antwurt sant Barbara vnd sprach: „Lieber vatter, ich bitte dich, daz du mich nit twingest, daz ich in der zit von dir var. Vnd tugest reht also, ob du mir nit gnedig sist vnd mich nit liep habest. Wann hestu mich liep also din einiges kint, so lossestu
mich nit also." Do der vatter dis gehort, do meinte er, daz er su wolte furbaz keinem manne geben uber iren willen. (59v-60r) 'ELA' - Barbara (I, Leithandschrift München, BSB, cgm 6):4 Under deme keyser Maximianus was ein mechtiger heiden von gewalt vnd richdum, Dyoscorus genant; dirre hette eine dochter, Barbara genant. Dise was so schone von libe, das den vatter vnbillich duhte daj su von den menschen gesehen solte werden. Do von schlus er su in einen turn.
Es beschach daj die edelsten herren des landes umb su wurbent. Do von ging ir vatter ju ir fur den turn vnd leite er dis fur wie die gewaltigisten des landes ir begerende worent. Do sprach su: 'Vatter des darf du mit nut gedencken'. Also ging ir vatter von ir ab vnd richtete vil wercklute an, die soltent ime einen turn buwen vnd ordente den die wise wie su ime den solten buwen.5
'ELA' (Sondergut) - Barbara (II, München, BSB, Cgm. 343)6 SAnt Barbel was ein edele maget Vnd ir vatter hies Coiostorus. Der hies machen einen turn vnd dar in zwey venster (Zitiert nach Kunze 1983: 90).
'ELA' (Sondergut) - Barbara (III, Karlsruhe, BLB, Cod. Lichtental 66)7
In den zyten des keysers maximiani da was ein man was geheissen dyostorus ju male riche. / derselbe bette an die apgotte vnd hatt ein einige tochter Barbara genant; vnd jr vatter liesj machen einen hohen thurn vnd beslosj die maget darjnn, vff das sie nit wurde gesehen von den luten vmb jr gros je schönheit./ (Zitiert nach Kunze 1983: 91)
Die Moskauer Fassung legt die Barbaralegende am ausführlichsten dar und überholt in diesem Sinne sowohl die lateinische Vorlage als auch die in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts entstandene Elsässische 'Legenda aurea'. Es handelt sich um inhaltliche Erläuterungen (z. B. wie die Heiden ihre Töchter hüten) und Erweiterungen der Stellen, die in der früheren volkssprachlicher Tradition mit Einschüben versehen worden waren. So hat z. B. eine Episode von der Werbung um Barbara am Anfang der Moskauer
4 Siehe Eintrag im 'Handschriftencensus': http://handschriftencensus.de/5099.
5 Zitiert nach Williams/Williams-Krapp 1980: 814. Auf das lange 's' wird beim Zitieren verzichtet.
6 Eintrag im 'Handschriftencensus': http://handschriftencensus.de/6036 (Stand 2015).
Eintrag im 'Handschriftencensus': http://handschriftencensus.de/5068 (Stand 2015).
Barbaralegende schon keine Entsprechung in der lateinischen Vorlage, aber eine fast wörtliche Parallele in der Fassung I der Barbalegende in der Elsässichen 'Legenda aurea'. Die Moskauer Fassung bietet aber einen weiteren Dialog zwischen dem Vater und der Tochter dar, der in der lateinischen Vorlage auch fehlt, aber mit ihren rhetorischen Prinzipien und Intentionen (polemische Repliken und Dialoge) übereinstimmt. Durch den oben angeführten Dialog wird die Geschichte belebt und mittlerweile auch die asketische Neigung von Barbara, Jungfrau zu bleiben, ausdrücklich unterstrichen. Aber auf diese Weise nähert sich die Moskauer Fassung der Barbaralegende der großen, bereits an ihren lateinischen Quellen literarisch hochwertigen 'Hodie'-Version der Katharinenlegende an. Dies lässt vermuten, dass auch unsere Fassung der Barbaralegende, wie die oben erwähnte Version der Katharinenlegende, im dominikanischen Umkreis erarbeitet wurde. Die Elsässische 'Legenda aurea' als „älteste deutsche Prosaversion des lateinischen Gesamtwerks" (Williams/Williams-Krapp 1980: XIV) trug zur Textgestalt der Moskauer Barbaralegende aus dem Straßburger Reuerinnenkloster offenbar bei. Aber die Moskauer Fassung konnte sich auch in den 70er Jahren des 15. Jahrhundert von der lateinischen Vorlage nicht trennen. Dies sei an einem Beispiel zu erklären. Die Episode, wo die hl. Barbara sich zum ersten Mal Gedanken über heidnische Götter macht und ihre Eltern danach fragt, ist nur in der lateinischen Vorlage und in der Moskauer Fassung vorhanden. In der Handschrift wird die Episode als Kapitel erfasst, was die Überschrift Wie sant Barbara ist bekert worden beweist:
Mo: Wie die heilige jungfrowe Barbara bekert sie, wurt gelesen, daz sie zü einer zit ging in den tempel der apgotte. Vnd do si irer bilde angesichtig wart, do sprach si zü iren eltren: „Waz betuten die glichnis der mönschen?" Do antwurtent ir eltren vnd sprochent: „Swig, es sint nit glichnis der menschen, sunder glichnis der gotter, die do wellent angebetten werden von den menschen." Do sprach sant Barbara: „Sint su nit etwen menschen gewesen, die wir also eren?" Antwurten ir eltren vnd sprochent: „Jo". Do swieg Barbara, aber su gedoht tag vnd naht in irme hertzen, vnd mit grosser klügheit vnd wißheit disputierte si in ir selbes vnd sprach in irme gemute: „Sint dise nün menschen gewesen, so sint si och geboren also menschen, des glich sint si och gestorben also menschen. Werent si nün gotter, so werent si nit geboren noch gestorben, wann die gotheit, als mich beduncket, het keinen anfang, so mag si ouch kein ende haben. och so het der mensche sinen vrsprung von dem ertrich,
vnd daz ertrich ist ein materie. Ist nu der mensche von ertrich vnd sol ein mensch got sin, so mus etwaz vor im gewesen sin, do von er kummen ist. Vnd also wer billicher, daz wir daz ertrich got heissent. Aber nun ist daz ertrich ouch nit von im selbes, also och der himel, der lufi, daz wasser vnd daz für, vs wellichen.iiij.elementen der mensche gemaht ist, och nit von in selber sint, me si sint creaturen oder schöpfunge. Dar vmb ist not, das die ding alle och einen schöpfer haben." In wellichen dissen vernünftigen betrachtungen gros erschinet die wißheit in einer so jungen jungfrowen. (60rv)
'LA': Erat autem beata Barbara ingeniosa et a tenera aetate vanas cogitationes relinquens coepit divina cogitare. Cum enim semel templum intraret, videns simulacra parentibus suis ait: quid sibi volunt hae similitudines hominum? Respondent parentes: taceas, non hominum, sed deorum sunt et volunt adorari per illud, quod nescitur et quod non videtur. Barbara dixit: fuerunt quondam homines, quos nunc colimus? Respondent: ita. Ex hoc beata Barbara die noctuque replicabat tacita dicens: si homines fuerunt dii nostri, ergo nati sunt ut homines, mortui sunt ut homines; si dii essent, nec nati fuissent nec mortui, quia deitas, ut mihi videtur, nec coepit nec desinit esse. Homo etiam habet originem terrae, quia terra est materia ejus, si ergo homo de terra est et homo deus ist, ergo aliquid praecessit eum, quod ejus origo dicitur; sic aptius dicerem terram deum. Sed quia nec terra a se est nec coelum a se nec aer a se nec aqua a se, ex quibus quatuor elementis constat homo, sed creaturae sunt, necesse est his esse creatorem. Ecce quanta sapientia in tam juvenili puella (Zitiert nach: Graesse 1850: 898).
Die Frage, ob der Stoff der Moskauer Fassung auch unmittelbar auf den lateinischen Text zurückgeht, wird schon durch diesen Abschnitt gelöst, denn es handelt sich hier, wie an vielen anderen Textstellen, um eine genaue Übersetzung. Es sei aber geklärt, wie es funktioniert.
Der lateinische Satz Erat autem beata Barbara ingeniosa et a tenera aetate vanas cogitationes relinquens coepit divina cogitare wird in der Moskauer Fassung zweierlei benutzt: einerseits wird er zur indirekten konzeptuellen Stütze des oben erörterten Dialogs in der volkssprachlichen Episode von der Werbung, wo Barbara als weise Jungfrau erscheint, andererseits dient er, wie in der lateinischen Vorlage, als einleitender Satz zum Thema der Überlegungen Barbaras zum Wesen heidnischer Götter. Im deutschen Text wird diese Episode als Bekehrung der hl. Barbara bezeichnet,
was im Unterschied zum ganzen 'dialektischen' Textabschnitt keine Entsprechung in der lateinischen 'Legenda aurea' hat:
Mo: Wie die heilige jungfrowe Barbara bekert sie, wurt gelesen, daz sie zü einer zit ging in den tempel der apgotte.
'LA': Cum enim semel templum intraret...
Der in den deutschen Text eingeführte Begriff 'Bekehrung', dessen Bedeutsamkeit auch in der Überschrift hervorgehoben wird, entspricht genau dem Schema der Katharinenlegende mit ihrer 'Conversio'.
Im deutschen Text erscheinen auch einige Abweichungen, die zur Bildlichkeit und Innigkeit der Erzählung beitragen:
'LA': Ex hoc beata Barbara die noctuque replicabat tacita dicens.
Mo: aber su gedoht tag vnd naht in irme hertzen, vnd mit grosser klügheit vnd wißheit disputierte si in ir selbes vnd sprach in irme gemute...
Die Triebkraft des lateinischen Textes war offenbar die gelehrte Rhetorik. Wo auch der deutsche Text sie braucht, da wird sie akribisch beibehalten. Wo aber die Rhetorik eher zum Sprachstil der mittelalterlichen lateinischen Prosa an sich gehört, kann sie im deutschen Text in den Hintergrund gerückt werden. So wird z. B. der rhetorische Ausruf: Ecce quanta sapientia in tam juvenili puella 'Siehe, so eine Weisheit bei einem so jungen Mädchen!' im deutschen Text zum erbaulichen Schlussatz der Episode umgestaltet: In wellichen dissen vernünftigen betrachtungen gros erschinet die wißheit in einer so jungen jungfrowen.
Die Wechselbeziehungen der lateinischen Vorlage und der deutschen Prosalegenden sind von Konrad Kunze in Bezug auf die Kurzfassungen ganz treffend beschrieben: „Man ist oft versucht, den Autoren volkssprachlicher Kurzfassungen von Legenden..., eine gewisse Eigenständigkeit bei der Übernahme oder Abbreviation einer lateinischen Quelle zuzugestehen. Doch sind gerade die folgenden Fälle eine Bestätigung der Regel, dass bei volkssprachlicher Hagiographie dieses Typs in dieser Zeit bis zum Erweis des Gegenteils eine exakt deckungsgleiche lateinische Vorlage zu postulieren ist" (Kunze 1980: XXXIX). Die Schlussfolgerung ist aber auch 'in Gegenrichtung' aktuell, d. h. in Bezug auf die Langfassung der Barbaralegende. Der lateinische Text existiert in der Tradition als Vorbild, das in verschiedenen volkssprachigen Fassung gekürzt oder ausgedehnt wiederspiegelt werden kann, aber er wird
dadurch als solcher nicht widerlegt, und es gibt in diesem Sinne keine Eigenständigkeit.
Es ist für die Moskauer Barbaralegende von Bedeutung, dass dem Kompilator auch die Fassung von 'Der Heiligen Leben' bekannt war. Sie wird als etliche ir legende bezeichnet und als Zusatzquelle da benutzt, wo von der Taufe der hl. Barbara erzählt wird. Laut der Version von 'Der Heiligen Leben' wurde die hl. Barbara durch Johannes den Täufer getauft. In der Moskauer Barbaralegende wird die entsprechende 'HL'-Textstelle folgenderweise herangezogen: Vnd noch etlicher irer legende beschribung so ging si in daz selbe wasser vnd rufte vnsren herren: „Jhesu Criste, min got, min schöppfer, hilff mir, daz ich in disem wasser getöifft wird durch alle dine gute". Do erhorte sie vnser herre vnd sante ir sant Johannes Baptista von himel herab, der touffte su vnd ließ ir den namen Barbara, als su vor hies. (64rv)
Vgl. die Entsprechung in 'Der Heiligen Leben': 'HL': Vnd ging da in das wasser. Vnd ruft vndern herrn mit grossem ernst an vnd sprach: 'Herr Ihesu Criste, mein got vnd mein scheppfer, hilff mir, das ich in diesem wasser getauft werde durch all dein gut!' Do erhort sy vnder herr vnd sant irr sand Johans den taufer von himel her ab. Der tauft sy vnd hieß sy Barbara, als sie vor hieß (Zitiert nach: Brand, Jung, Williams-Krapp 2004: 275).
Auch der weitere dazu gehörende Abschnitt wird von 'Der Heiligen Leben' entlehnt, vgl.:
Mo: Do danckete sie got siner gnoden, die er ir geton het, vnd ging do vs dem wasser zu des tempels steinen wende vnd trucket mit irme finger.iiij.krutz dorin. Do weich der herte stein also ein wahß, vnd gestunden die krutz in der steinen wende. Vnd ir ersten fußstapffen blibent ouch stonde in dem ertrich des ersten fustrites, so su dar in det, also daz man su noch in dem wasser siht, vnd glichsent her vs also daz silber. (64v)
'HL': Do ward sy gar fro vnd danckt got mit grossem ernst seiner genoden, dy er ir gethun het. Vnd ging do auß dem wasser zu des tempels stain went vnd truckt mit irem vinger vier crewcz darein. Do waich der hert stain als ein waichs wachs, vnd bestunden dy crewcz in der went. Vnd bestunden auch ir fuß tritt in dem wasser, das man sy noch dar jnnen sicht, vnd geleissen her auß als das silber (Zitiert nach: Brand, Jung, Williams-Krapp 2004: 275).
Auch im Anhang der Moskauer Barbaralegende 'Ein geistliches ingrün schöpplin' wird gesagt: Der ander glantz dis sternes ist, daz su ist getöifet worden also etliche ir legende sagent, von dem töiffer
Christi Johannes Baptista, der ir von himmel gesant wart, do ir der menschen gebrast. (71r). Diese Deutung des 'zweiten Glanzes' des Sterns, d. h. einer sternförmigen Spange im geistlichen Kranz der hl. Barbara, geht auch auf das Motiv aus 'Der Heiligen Leben' zurück, wird aber hier im mystisch-erbaulichen Sinne gebraucht: der ir von himmel gesant wart, do ir der menschen gebrast.
Ein umfangreiches Gebet an die hl. Barbara mit dem Initium Gegrüsset sygestu, heilige Barbara, liep vnd wolgeuellichen Jhesu Cristo, dinem brütgom, wenn du bist schon (68r) kommt auch als Unikat vor.
Die Moskauer Barbaralegende erscheint als ein generalisierender Text, der alle Hauptfassungen der Vita verallgemeinert: die lateinische 'Legenda aurea', die Elsässische 'Legenda aurea' und 'Der Heiligen Leben'. Sie spiegelt die Etappe der Tradition wider, auf der 'Der Heiligen Leben' schon in den Verbreitungsraum der Elsässischen 'Legenda aurea' hereinrückt (Kunze 1983: XXVI). In völliger Übereinstimmung mit der von Kunze beschriebenen Situation wird 'Der Heiligen Leben' auch hier sporadisch und als Zusatzquelle herangezogen. Dadurch wird auch die These bestätigt, dass es fast ausschließlich innerhalb der reformierten Dominkanerinnenkonvente geschieht.
Literatur
Assion 1983 - Assion P. Katharina von Alexandrien // Verfasserlexikon.
Hg. von K. Ruh u. a. Bd. 4. Berlin 1983. Sp. 1055-1073. Brand, Jung, Williams-Krapp 2004 - Der Heiligen Leben, Bd. II: Der Winterteil. Hg. von M. Brand, B. Jung und W. Williams-Krapp. Tübingen 2004 (Texte und Textgeschichte 51). Fedotova 2003 - Fedotova M. A. Житие святой Варвары в Древней Руси [Vita der hl. Barbara im Altrussland] // Труды Отдела древнерусской литературы / Российская Академия наук. Институт русской литературы (Пушкинский Дом). [Abhandlungen der Abteilung der altrussischen Literarur. / Russische Akademie der Wissenschaften. Institut für russische Literatur (Pushkinskij dom)]. Bd. 53. Sankt Petersburg 2003. S. 76-89. Ganina, in Vorbereitung - Ganina N. 'Die Bräute Christi'. Legenden und Traktate aus dem Str-burger Magdalenenkloster. Edition und Untersuchungen (Kulturtopographie des alemannischen Raumes, hg. von Jeffrey Hamburger, Nigel F. Palmer, Hans-Jochen Schiewer). Berlin/New York: De Gryuter (in Vorbereitung). Ganina 2014 - Ganina N. Dis bfoh gehort in daz closter zun ruwerin in Stroßburg: Die Straßburger Sammelhandschrift (Moskau, RSB, f. 68, № 446) // Индоевропейское языкознание и классическая фило-логия-XVIII. Материалы чтений, посвященных памяти профессора Иосифа Моисеевича Тронского. 23-26 июня 2014 г. [Indo-
europäische Sprachwissenschaft und klassische Philologie - XVIII. Arbeitsmaterialien gewidmet dem Gedenken an Professor Iossif M. Tronskij. 23.-26. Juni 2014], hg. von Nikolay Kazansky. Sankt Petersburg, 2014. S. 175-185. Ganina 2015 - Ganina N. Straßburg in Moskau: Zum Schicksal der Sammelhandschrift aus dem Reuerinnenkloster St. Magdalena (Russische Staatsbibliothek, F. 68, № 446) // Deutsch-russische Forschungen zur Buchgeschichte. Bd 3. Hg. von Natalija Ganina, Klaus Klein, Catherine Squires und Jürgen Wolf. (Akademie der gemeinnützigen Wissenschaften zu Erfurt. Sonderschriften Bd 46, hg. von R. Bentzinger). Erfurt und Stuttgart, 2015 (im Druck). Kunze 1983 - Die Elsässische 'Legenda aurea', Bd. II: Das Sondergut. Hg.
von K. Kunze.Tübingen, 1983. Palmer 2007 - Palmer N. F. Literaturbetrieb im Straßburger Reuerinnenkloster im Zeitalter Geilers von Kaysersberg (1470-1500). Ringvorlesung 'Freiburger Büchergeschichten' 17.07.2007, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg //http://www.yovisto.com/video/15087. Palmer 2009 - Palmer N. F. Die Münchener Perikopenhandschrift Cgm 157 und die Handschriftenproduktion des Straßburger Reuerinnenklosters im späten 15. Jahrhundert // Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späten Mittelalter. Studien und Texte. Hg. von B. Fleith und R. Wetzel. Berlin/New York, 2009. S. 263-300. Reuter 1978 - Reuter E. Barbara // Verfasserlexikon. Hg. von K. Ruh u.a.
Bd. 1. Berlin, 1978. Sp. 601-603. Tvorogov O. V. Житие Варвары [Barbaralegende] //Словарь книжников и книжности Древней Руси [Lexikon der Buchgelehrten und der Buchkultur des Alrusslands]. Lfg. 1 (11. - 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts), Leningrad 1987. S. 259-260. Williams-Krapp 1986 - Williams-Krapp W. Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte. Tübingen 1986 (Texte und Textgeschichte 20). Williams/Williams-Krapp 1980 - Die Elsässische 'Legenda aurea'. Bd. I: Das Normalcorpus. Hg. von U. Williams und W. Williams-Krapp. Tübingen 1980. S. 814-817 (Nr. 188 [CCII]).
Natalija Ganina. Die Moskauer Barbaralegende aus dem Straßburger Reuerinnenkloster (RSB, F. 68, № 446)
The article studies an unique version of the legend of St. Barbara which survived in the parchment part of the 15th-century collected manuscript from the convent of St. Mary Magdalene in Strasbourg (Moscow, the Russian State Library, F. 68, № 446, olim F. 183, № 1310, before 1929 in the Library of the General Staff, Saint Petersburg).
Key words: medieval German manuscripts, Straßburg, 15th century, convent of St. Mary Magdalene, life of St. Barbara.