D. S. Wodtko
ARCHAISMEN UND NEUERUNGEN IM BALTISCHEN LEXIKON
Статья посвящена проблеме архаизмов и инноваций в лексическом составе балтийских языков. Рассматривается лексика, относящаяся к подгруппам числительных, личных местоимений, имен родства, наименований животных, частей тела, а также некоторые прилагательные и глаголы.
Ключевые слова: индоевропейские языки, балтийские языки, лексика, архаизм, инновация.
§ 1. Die baltischen Sprachen, und insbesondere das Litauische, werden innerhalb der indogermanischen Sprachfamilie oft als besonders archaisch angesehen, haben sie doch bis auf den heutigen Tag eine komplexe morphologische Struktur etwa mit dem Ausdruck von bis zu sieben nominalen Kasus (unter Einschluß des Vokativs) bewahrt. Auch in ihrem lexikalischen Bestand finden sich zahlreiche Erbwörter fortgesetzt, die klare Verwandte in anderen indogermanischen Sprachzweigen finden. Andererseits ist indessen auch ein beachtlicher Teil des baltischen Wortschatzes etymologisch unerklärt; zahlreiche Wortsippen finden weder innerhalb des Indogermanischen befriedigenden Anschluß, noch lassen sie sich plausibel als Lehnwörter, beispielsweise aus benachbarten finnougrischen Sprachen, verstehen. Im Folgenden soll das Verhältnis von Archaismen und Neuerungen im baltischen Wortschatz an Hand von einigen ausgewählten Wortfeldern illustriert werden.
§ 2. Ererbtes Wortgut findet sich einerseits in verhältnismäßig geschlossenen lexikalischen Subsystemen fortgesetzt, wie im Bereich der Numeralia und der Personalpronomina.
In der ersten Gruppe sind ganz überwiegend ererbte uridg. Formen fortgeführt, Schwierigkeiten macht im Wesentlichen die Erklärung von lit. vienas, lett. viens 'eins' gegenüber apr. ains, ferner ist der Anlaut von lit. devyni, lett. devini 'neun' gegenüber apr. newints 'neunter' auffällig. Die Bildeweise der Zahlen von elf bis neunzehn ist im Litauischen und Lettischen verschieden, vgl. z. B. lit. vienüolika vs. lett. vienpadesmit 'elf', das Altlitauische bietet hier noch alternative Konstruktionen mit liekas 'überzählig' (vgl. NIL:
451 ff. mit früherer Lit.). Bemerkenswert sind die Wörter für 'tausend', lit. tükstantis, lett. tükstuot(i)s vs. apr. (Acc.pl.) tüsimtos, die klare Ähnlichkeit mit den benachbarten germ. und slav. Wörtern aufweisen, ohne daß sich aber eine eindeutige gemeinsame Vorform ergibt, vgl. ksl. tysqsti, got. püsundi (vgl. Stang 1966: 282).
Unter den Personalpronomina stimmen wiederum die Mehrzahl der Formen zu Vergleichsmaterial aus verwandten Sprachen. Auffällig bleibt das Pronomen der 1. Plural, lit. mes, lett. mes, mes, apr. mes, das, wie oft betont wurde, eine genaue Entsprechung in arm. mek' haben könnte, wenn man dessen -k' als Fortsetzung von uridg. *-s # ansieht. Den Wörtern mit Anlaut m- (vgl. auch aksl. usw. my) stehen in anderen Sprachzweigen solche mit Anlaut *u-gegenüber, vgl. z. B. heth. wes, ved. vayam, got. weis. Der Anlaut mist in den ostbaltischen Sprachen im Paradigma durchgeführt, Formen wie gen. lit. müs^, lett. müsu reimen auf diejenigen des Pronomens der 2. Plural, lit. jüs, gen. jüs^, lett. jüs, jüsu, nach denen sie gebildet sein müssen. Das Altpreußische läßt jedoch noch den älteren Zustand erkennen, wenn es einen Obliquusstamm mit n-Anlaut, wie gen. nouson, bewahrt, der zum Slav. passt, wo oblique Formen wie aksl. gen. nas■ fortleben. Eine weitere ostbalt. Gemeinsamkeit liegt etwa im Possessivpronomen lit. manas, lett. mans 'mein' vor, gegenüber dem das Altpreußische mais wie aksl. usw. mojb verwendet (PKEZ III: 98; Vaillant II/2: 462f.).
§ 3. Nomina und Verben gehören zu den großen, offenen lexikalischen Subsystemen. Im Nominalbereich bilden einige Substantive verhältnismäßig klar abgegrenzte Wortfelder, die als Bestandteile des Grundwortschatzes häufig ererbte Formen fortsetzen. Hier ist beispielsweise das System der Verwandtschaftsnamen anzuführen.
Das Baltische setzt bekanntlich die uridg. Wörter für Mutter und Schwester, Sohn und Tochter fort. Dabei bewahren lett. mate, apr. mothe, wie die meisten idg. Sprachen, die ererbte Semantik 'Mutter'1; lit. mote zeigt jedoch bereits in altlitauischen Quellen fast durchgehend die Bedeutung 'Frau', für 'Mutter' wird die Ableitung motina verwendet, die nicht auf der r-stämmigen Basis aufbaut.
1 Eine Ausnahme bildet wohl alb. moter 'Schwester', vgl. Demiraj 1997: 279.
Lit. dukte und apr. duckti 'Tochter' finden im Lett. keine Entsprechung mehr, das Erbwort ist hier durch durch meita 'Tochter, Mädchen' ersetzt2.
Ähnlich fehlt im Lett. das uridg. Wort für 'Schwester', das in lit. sesuö und apr. swestro noch fortlebt3. Das Lett. verwendet hingegen masa, das formal lit. mosa 'Schwester des Ehemannes, Schwägerin' und apr. moazo 'Muhme (Schwester der Mutter)' entspricht, außerbalt. aber keine klaren Vergleichsformen findet.
Lit. brolis, lett. bralis und apr. brote 'Bruder' setzen das uridg. Etymon fort, doch ist im Ostbalt. der ursprüngliche r-Stamm nur noch relikthaft in Formen wie lit. broterelis 'Brüderchen' greifbar.
Nur das Litauische und Altpreußische bewahren die alte Bezeichnung für 'Sohn', lit. sünus, apr. soüns4. Im Lett. erscheint mit dieser Semantik dqls5.
Gänzlich verloren scheint im Balt. das Erbwort für 'Vater', das durch lit. tevas, lett. tqvs, apr. towis ersetzt ist. Ersatz liegt auch im Slav. durch aksl. usw. otbcb vor.
Die Verwandtschaftsbezeichnungen für Mitglieder der Kernfamilie scheinen somit im Litauischen und Altpreußischen, wie auch im Slavischen, sämtlich fortgesetzt, mit Ausnahme des Wortes für ' Vater'. Das Lettische hat in größerem Umfang geneuert, nur für 'Mutter' und 'Bruder' bleiben alte Formen gebräuchlich. Die ererbten Verwandtschaftsbezeichnungen bewahren ferner im Litauischen zunächst Flexionsklassen, die allgemein in der Sprache selten geworden sind, wie die r-Stämme von mote, sesuö und dukte und den substantivischen u-Stamm sünus6. Doch macht sich auch hier die Tendenz bemerkbar, geläufigere Flexionsweisen vorzuziehen, so im
2 Zu lett. dukte f. 'Knieholz in Booten' s. Kiparskis, Baltistica 4 (1968), 93f. - Ersetzt ist das Erbwort ferner im Alb. (durch bije), im Lat. (durch filia) und im Inselkelt. (durch air. ingen, mkymr. merch, bret. merc'h).
3 Die für das Apr. überlieferten Formen stehen womöglich unter germ. bzw. slav. Einfluß, vgl. Smoczynski 2000: 203; PKEZ IV 173.
4 S. Gedanken zu den Schreibvarianten von apr. sunu- bei Smoczynski 2000: 203.
5 Zur selben Wurzel *dheh1(i)- 'saugen' (LIV 138f.) sind auch in lyk. tideime/i und lat. filius Wörter für 'Kind, Sohn' gebildet.
6 r-stämmige Flexionsformen lassen sich ferner von jente 'Gattin des Mannesbruders' beibringen. Auch im Germ. und Kelt. haben r-Stämme v.a. an den Verwandtschaftwörtern Anhalt. Im Slav. zeigen mati und dbsti, nicht aber sestra und bratrb ererbte Stammklassen. u-Flexion, wie in sünus, wird im Lit. zu einer bevorzugten Stammklasse für Adjektive aufgebaut, wogegen im substantivischen Bereich nur die denominalen Nomina agentis auf -ius produktiv sind.
Falle von lit. dukra neben dukte, sese neben sesuo und besonders im Falle von motina, das die Semantik 'Mutter' aufweist, wogegen mote (bzw. moteris) eine Verschiebung erfährt, die es aus dem Bereich der Verwandtschaftsnamen hinausführt.
Verwandtschaftsbezeichnungen außerhalb der Kernfamilie unterliegen insgesamt häufiger formalen Neuerungen. So kennt das Baltische zwar noch lit. dieveris, lett. dieveris 'Schwager, Bruder des Gatten' (NIL: 58ff.) und lit. jente, lett. ietere 'Schwägerin: Gattin des Mannesbruders' (NIL: 204ff.) sowie lit. sesuras 'Schwiegervater: Vater des Ehemannes', daneben erscheinen aber etymologisch weniger tief verankerte Wörter wie lit. sväine, sväinis, lett. svatne, svainis zum Ausdruck von 'Schwägerin (Schwester der Gattin)' und 'Schwager', weiterhin etwa auch lit. läigonas 'Schwager: Bruder der Ehefrau' und die germ. Entlehnung svogeris 1 . Lit. anyta 'Schwiegermutter: Mutter des Ehemanns' sowie avynas 'Oheim' setzen mit eigenständiger Wortbildung je eine ererbte Basis fort, die anderwärts in der Bedeutung 'Großmutter' bzw. 'Großvater' verwendet wird, vgl. z. B. heth. hanna-, arm. han und hani 'Großmutter' bzw. heth. huhha- 'Großvater', arm. haw 'Großvater; Onkel', lat. avus 'Großvater' (vgl. EIEC: 237ff., 385f. zur Semantik auch 332ff.). Noch stärker isoliert sind lit. uosvis, lett. uosvis 'Schwiegervater'8. Erbwörter für 'Enkel, Neffe, Nichte' wie neptis und nepuotis sind nur aus dem Lit. bezeugt und da auf die frühe Sprachstufe beschränkt (vgl. NIL: 520ff.).
§ 4 Weitere, wenn auch weniger scharf umgrenzte substantivische Wortfelder, die in vielen indogermanischen Sprachen durch Erbwörter repräsentiert sind, stellen Bezeichnungen für Körperteile sowie für Tiere, die auch als Haustiere von Bedeutung sind. Der Sprachvergleich erlaubt im zweiten Fall die Rekonstruktion von uridg. Wörtern für z. B. Hund, Pferd, Rind, Schwein, Schaf und Gans. Von diesen ist das Wort für 'Hund', uridg. *k(u)uon- (NIL: 436ff.), in lit. suo, lett. suns und apr. sunis fortgesetzt; lit. suo folgt dabei als Substantiv mit einsilbigem Nom.sg. einem exzeptionellen Flexionsmuster. Auch das Erbwort für 'Schaf' (NIL: 335ff.) ist in lit. avis, lett. avs noch bewahrt, für das Apr. ist die Ableitung awins 'Widder' bezeugt. Im Lett. wird jedoch avs ersetzt durch aita, dessen
7 S. zum Ganzen R. Buivydiene, Baltistica 26 (1990), 144ff. Zur mutmaßlichen Verbindung von sväine mit arm. k'eni s. auch EDAL: 661, 717; Olsen 1999: 772, 803.
8 Überlegungen bei G. Klingenschmitt, Baltistica 43 (2008), 405ff.
etymologischer Zusammenhang mit avs zweifelhaft ist (vgl. LEV I: 89). Lit. zqsis, lett. zuoss und apr. sansy sind Fortsetzungen des uridg. Etymons für 'Gans' (LEW II: 1292f.). Hingegen ist das Wort für 'Schwein' in den balt. Sprachen verschieden ausgedrückt, vgl. lit. kiaule, lett. cuka, apr. skewre. Mit dem uridg. Wort, das z. B. in lat. süs, ahd. sü fortlebt, lassen sich nur Ableitungen wie lett. suvqns, sivqns 'Ferkel' in Verbindung bringen9. Allein das Lett. setzt in guovs das Erbwort für 'Kuh, Rind' fort (vgl. NIL: 189ff.), im Lit. ist es durch karve ersetzt, das sich den slav. Wörtern wie skr. krava vergleicht10.
Auch das uridg. Wort für 'Pferd' (vgl. NIL: 230ff.) ist im Baltischen nur relikthaft und dann vorwiegend mit Bezug auf das Femininum bewahrt, vgl. alit. asva, esva 'Stute', apr. aswinan 'Stutenmilch' neben zem. asvienis 'Arbeitspferd'; s. LEV I: 468f. zu lett. asa, osa 'Stute'. Zu den verschiedenen Ersatzformen für das Erbwort gehört lit. arklys, das als iio-Ableitung von arklas 'Pflug' ursprünglich etwa 'zum Pflug gehörig' bedeutet haben muß. Gemeinbalt. scheint die Bezeichnung lit. zirgas 'Roß, Pferd', lett. zirgs 'Pferd', apr. sirgis 'Hengst' und jatv. zirgo 'Pferd', die zum Verbum zirgti 'die Beine spreizen' gebildet zu sein scheint (LEW II: 1313f.). Weiterhin sind aus dem Ostbalt. lit. kumele, lett. kumele '(junge) Stute' und lit. kumelys, lett. kumels 'Fohlen' bekannt; mit den Wörtern für 'Fohlen' zeigt der gut belegte lusitanische Personenname Cumelius eine genaue formale Übereinstimmung.
§ 5 Unter den Körperteilbezeichnungen setzen solche für wahrnehmende Organe mehrfach Erbwörter fort, vgl. lit. akis, lett. acs, apr. (pl.) ackis 'Auge' (s. NIL: 370ff.), lit. ausis, lett. äuss, apr. ausins (pl.) 'Ohr' (NIL: 339ff.) und lit. nosis, lett. nass, pl. nasis, apr. nozy 'Nase' (LEW I: 508). Schwierig bleiben lit. liezuvis, apr. insuwis 'Zunge', von denen das lit. Wort (wie vielleicht auch lat. lingua und arm. lezow 'Zunge') unter Einfluß des Verbums *leigh-'lecken' zu stehen scheint, das in liezti fortlebt. Als Erbwörter lassen sich weiterhin z. B. lit. dantis, apr. dantis, jatv. dontis 'Zahn' (NIL: 210, 216f.),n oder lit. nagas, lett. nags, apr. nagutis 'Nagel' sowie lit. sirdis, lett. sirds, apr. seyr 'Herz' (NIL: 417ff.) anführen.
9 Vgl. NIL: 683ff. Das Lit. kennt in der Bedeutung 'Ferkel' seinerseits ein Erbwort in parsas, vgl. lat. porcus usw.
10 Zu apr. curwis 'Ochse' s. PKEZ II: 317ff.
11 Zur gleichfalls ererbten Sippe von lett. zuobs, aksl. zgbb 'Zahn' s. ausf. Mumm, FS Seebold.
Weniger gut verankert sind dagegen etwa lit. galva, lett. galva 'Kopf', die außer im Slav. (vgl. aksl. glava usw.) nur schwer Anschluß finden. Lit. ranka, lett. ruoka und apr. rancko 'Hand' haben ihrerseits nur im Slav. klare Verwandte, sie stehen indessen innerbaltisch neben dem Primärverb lit. rinkti 'sammeln, suchen, lesen', das noch das Benennungsmotiv erkennen läßt. Das balt. Wort für 'Bein, Fuß', lit. koja, lett. kaja, jatv. kaj hat keine durchsichtige Etymologie12. Lit. oda, lett. ada 'Haut' lassen sich vielleicht mit der uirdg. Wurzel *h2ad- 'vertrocknen' (LIV: 255) verbinden, wenn die Bedeutung von 'Haut auf einer trocknenden Flüssigkeit' ausgegangen ist, eine exakte außerbalt. Parallele fehlt jedoch. Im Falle von lit. bruvis 'Braue' findet sich in historischer Zeit Ersatz des Erbworts durch die durchsichtigere Bildung antakis (vgl. NIL: 41ff.).
§ 6 Unter den Adjektiven erscheinen wiederum klare Erbwörter, wie lit. senas, lett. sqns13, jatv. Jenf (NIL: 613ff.), lit. naüjas (NIL: 524ff.) und lit. jäunas, lett. jaüns, jatv. jaunif 'jung' (NIL: 278, 285).
Isoliert bleiben hingegen z. B. lit. didis, didelis, lett. dizs 'groß' und lit. mazas, lett. mazs, jatv. maz 'klein' mit dem apr. Komparativ massais 'weniger'.
Unter den Farbbezeichnungen bedeutet das ererbte Adjektiv lit. raüdas 'rötlich, rotbraun', lett. raüds adj. 'rot, rötlich braun (von Pferden)' (vgl. NIL: 580ff.). In der Bedeutung 'rot' ist lit. raüdas von der Ableitung raudonas ersetzt. Im Lett. wird 'rot' durch sarkans ausgedrückt, aus dem Apr. ist wormyan, aus dem Jatv. raude 'rot' überliefert (PKEZ IV: 263). Eine ähnliche Spezialisierung der Fortsetzer von *(hi)roudh-o/äh2- zur Bezeichnung bräunlicher Rottöne neben alternativen Wörtern für 'rot: hellrot, blutrot' ist z. B. aus dem Altirischen mit derg 'rot' neben ruad und dem Kymrischen mit coch 'rot' neben rhudd bekannt.
Deutlich schwieriger bleibt Anschluß für lit. bältas, lett. balts, jatv. baltaf 'weiß' sowie für lit. juodas 'schwarz' und seine baltischen Verwandten.
§ 7 Verben stellen im Baltischen wie im Urindogermanischen einen zentralen Teil des Wortschatzes, der häufig als Ableitungsbasis für Nomina dient. Sie weisen eine reiche Flexionsmorphologie auf
12 Zu Relikten von uridg. *ped-, *pod- 'Fuß' im Balt. s. NIL: 526ff.
13 Im Lett. ist sen in der Verwendung als Adverb alt und verbreitet, das Adjektiv sens hingegen ist seit Beginn der Überlieferung von vecs 'alt' zurückgedrängt (LEV II: 169ff.); die Sippe fehlt im Slav.
und decken ein breites semantisches Spektrum ab. Nur einige wenige Beispiele können hier aufgegriffen werden.
Unter den Existenzverben finden sich im Litauischen, Lettischen und Altpreußischen Fortsetzer der uridg. Wurzel *bhuah2- 'werden' (LIV: 98ff.) und *h}es- 'sein' (LIV: 241f.) in einem suppletiven Paradigma vereinigt, vgl. lit. büti : esu (alit. esmi), lett. büt : esmu, apr. boüt : asmai. Diese Verbindung ist in indogermanischen Sprachen nicht selten, vgl. außer aksl. byti : jesmb etwa auch die Verhältnisse im Lateinischen (z. B. est : fuit) oder Keltischen (z. B. air. is : ba). Dazu sind Verben für 'sein' in zahlreichen Sprachen der Welt suppletiv, aus der indogermanischen Sprachfamilie lassen sich hierfür z. B. auch das Albanische und Armenische anführen. Bemerkenswert bleibt jedoch das baltische Paradigma aus zwei Gründen: zum einen ist Suppletion in den baltischen Sprachen ingesamt seltener, als in vielen anderen idg. Sprachzweigen. So lassen sich z. B. aus dem Slavischen, Germanischen, Keltischen, Griechischen, Lateinischen suppletive Steigerungsformen von Adjektiven, wie in gut : besser, anführen, für die das Baltische keine Parallelen bietet14. Auch weisen viele idg. Sprachen eine Gruppe von suppletiven Verben auf, zu denen außer den Existenzverben typischerweise etwa auch Wahrnehmungsverben (z. B. für 'sehen'), Bewegungs- und Transferverben (z. B. für 'gehen', 'bringen') oder Verben für 'essen', 'trinken' gehören. Im Baltischen indessen ist verbale Suppletion auf die Existenzverben konzentriert, aus dem Lettischen läßt sich immerhin noch gaju 'ging' im Paradigma von iet anführen. Zum anderen findet sich im Ostbaltischen nicht nur Tempussuppletion im Paradigma von 'sein', sondern auch Personensuppletion wenn eine Form wie alit. esti durch yrä und im Lettischen durch ir bzw. nav ersetzt wird15. Diese Formen, deren Herkunft viel diskutiert worden ist, zerbrechen also zu Beginn der Überlieferung ein regelmäßiges Paradigma.
§ 8 Unter den zahlreichen ererbten Mitgliedern des verbalen Lexikons finden sich Wörter vielfältiger Bedeutung, wie z. B. lit. esti
14 Das Lett. kennt im Adverbialbereich suppletives vairs 'mehr' zu daüdz 'viel'. Eine areale Erscheinung liegt wohl in suppletiven Ordinalia wie lit. antras, lett. uotrs, apr. antars 'zweiter' vor, vgl. Stolz & Veselinova 2013. Im Pronominalsystem ist zwar das alte Verhältnis etwa in lit. äs, manqs usw. fortgesetzt, ausgeglichen sind jedoch etwa mes, müsy (s.o. § 2), ferner täs, tö (vs. z. B. ai. sah, tasya).
15 Zu nav vgl. etwa das Verhältnis von air. at-ta : fil.
'essen', deti 'setzen, stellen, legen', duoti 'geben', stoti 'sich stellen', eiti 'gehen', vezti 'fahren' und ärti 'pflügen' mit ihren Entsprechungen in den anderen baltischen Sprachen. Betrachtet man einzelne Wortfelder näher, so lassen sich auch hier jeweils Neuerungen neben den Archaismen erkennen.
Während z. B. lit. esti, lett. est, apr. istwei 'essen' die ererbte Bedeutung fortsetzen, zeigen lit. gerti, lett. dzert 'trinken' eine semantische Verschiebung von ursprünglichem 'verschlingen'16.
Im Bereich der zentralen Perzeptionsverben 'hören' und 'sehen' stellt die uridg. Wurzel *ueid- 'erblicken' im Baltischen, wie auch im Slavischen und vielfach anderwärts, eine ausgedehnte verbale und nominale Wortsippe (LIV: 665ff., NIL: 717ff.). Ferner finden sich auch Fortsetzer von *kleus- '(zu)hören' (LIV: 336, NIL: 432ff.), dessen fehlende Satemisierung in Formen wie lit. klausyti 'hören' (vs. slove 'Ruhm' zur selben Wurzel) freilich auffällig bleibt.
Andere geläufige Mitglieder desselben Wortfeldes stehen etymologisch jedoch mehr isoliert, vgl. etwa lit. ziüreti und zvelgti 'sehen, schauen'. Dies gilt auch für die unmarkierten Wörter lit. matyti 'sehen' (lett. matit 'fühlen, wahrnehmen'), lett. redzet 'sehen' (lit. regeti 'sehen, schauen') und lit. girdeti, lett. dzirdet 'hören'. Letzteres mag seinen Ursprung in einem Antikausativum zu einer Bildung wie 'künden' haben (vgl. alit. gerdas 'Botschaft', gerdenti 'bekannt machen', apr. gerda[u]t 'sagen'), ersteres vielleicht in einem Iterativum zu *met- 'messen' (vgl. LEW I: 415f.). Beide machen deutlich, wie semantische Verschiebungen Einfluß auf das Verhältnis zwischen Erbwort und Neuerung auch im Grundwortschatz nehmen.
Bibliographische Abkürzungen
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16 Vgl. LIV 211f. In arm. eker und alb. hangra sind Fortsetzer der uridg. Wurzel *guerh3- in suppletive Paradigmata des Verbums für 'essen' geraten.
LEW - Fraenkel E. Litauisches etymologisches Wörterbuch. 2 Bde.
Heidelberg, 1962-1965. LIV - Lexikon der indogermanischen Verben. Die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage bearbeitet von M. Kümmel und H. Rix. Wiesbaden, 2001. NIL - Wodtko D. S., Irslinger B., Schneider C. Nomina im indogermanischen Lexikon. Heidelberg, 2008. Olsen 1999 - Olsen B. A. The Noun in Biblical Armenian. Origin and Word-Formation - with special emphasis on the Indo-European heritage. Berlin; New York, 1999. Petit 2004 - Petit D. Apophonie et catégories grammaticales dans les
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D. S. Wodtko. Archaisms and Innovations in the Baltic Lexikon
The paper is devoted to the problem of archaisms and innovations in the Baltic languages. Special attention is paid to several basic lexical groups: numbers, personal pronouns, kinship terms, names of animals and parts of body, etc.
Keywords: Indo-European languages, the Baltic languages, vocabulary, archaism, innovations.