Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2013. № 1
СОПОСТАВИТЕЛЬНОЕ ИЗУЧЕНИЕ ЛИТЕРАТУР И КУЛЬТУР
Elena Sukhina
ZWEI GESICHTER DES FREMDEN BEI I. BACHMANN:
DER NAHE UND DER FERNE FREMDE
В статье представлены два лика "незнакомца" в творчестве Ингеборг Бахманн и подробно проанализированы понятия "близкий" и "далекий чужак" в ее лирике (включая поздние, ранее неизвестные работы из архива австрийской поэтессы). Особое внимание уделяется значению перспективы и экспериментам с изменением выбранного ракурса.
Ключевые слова: австрийская поэзия, Ингеборг Бахманн, незнакомец, чужак.
The article reveals two faces of the stranger in Ingeborg Bachmann's works and gives a detailed analysis of the notions "close" and "distant stranger" in her poetry (including late, previously unknown poems discovered in the Austrian author's archive). It focuses on the significance of the perspective and experiments with the angle selected.
Key words: Austrian poetry, Ingeborg Bachmann, stranger, alien.
I
Ziel dieses Beitrags ist es, die Gestalten des nahen und des fernen Fremden in der Lyrik von I. Bachmann zu betrachten.
Der nahe Fremde ist laut Georg Simmel die soziale Figur des Wandernden, „der heute kommt und morgen bleibt"1. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er ebenso wie die Armen oder innere Feinde einer Gruppe angehört, zugleich aber auch wegen seines prekären Status außerhalb dieser Gruppe existiert und in einem bestimmten Sinne dieser Gruppe entgegengesetzt bleibt. Mit dem fernen Fremden wird dagegen die Gestalt gemeint, die von außereuropäischer Herkunft ist und mit der literarischen Verarbeitung der postkolonialen Erfahrungen verbunden ist.
Diese zwei Gesichter des Fremden finden wir in der Prosa der österreichischen Schriftstellerin I. Bachmann. Man muss jedoch bedenken, dass der nahe und der ferne Fremde im Endeffekt mit Rücksicht auf ihre Gedichte behandelt werden sollen, die viele Parallelen mit der Prosa im Hin-
Сухина Елена Игоревна — канд. культурологии, ст. преподаватель кафедры региональных исследований факультета иностранных языков и регионоведения МГУ имени М.В. Ломоносова; тел.: 8-965-284-54-34, e-mail: [email protected]
1 Simmel G. Exkurs über den Fremden // Simmel G. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Ges. Werke. Bd 2. Berlin, 1968. S. 509—512.
blick auf das Fremdsein aufweisen und weitere wichtige Verständnis- und Deutungsmöglichkeiten eröffnen.
Zu deren Erläuterung sollen sowohl die zu I. Bachmanns Lebzeiten veröffentlichten Gedichte als auch die später aus dem Nachlass publizierten Gedichtentwürfe analysiert werden. Das nahe Fremdsein wird von I. Bachmann in seinen sozialen, kulturellen und geistigen Aspekten in den Gedichten „Paris", „Mirjam" und ,Ein Monolog des Fürsten Myschkin" geschildert. Das ferne Fremdsein kann man am besten am Beispiel des Gedichtes „Liebe: Dunkler Erdteil' erforschen und in den aus dem Nachlass veröffentlichten Afrika- Gedichtentwürfen weiter nachempfinden.
In Bezug auf das Fremdsein sind zwei Erscheinungen von besonderem Interesse, die einer Erklärung bedürfen: das Flottieren und die Änderung der Fokalisierung2. Unter dem Flottieren, dass sich im Werk von I. Bachmann nachvollziehen lässt, wird Folgendes gemeint:
— Der Andere kann die Grenze des Verstehbaren und Begreifbaren überschreiten und dadurch zum Fremden werden (in der Philosophie — in der rationalkritischen Fassung).
— Der Fremde kann zum Anderen werden und damit seine exotische Andersartigkeit verlieren. In der Philosophie handelt es sich dabei um eine positivie Perspektive einer polyphonen Welt in der Epoche der Globalisierung.
Wichtig ist auch die Fokalisierung bei I. Bachmann, die unterschiedlich sein kann. Abhängig von der Perspektive nimmt das Ich die Anderen als Fremde wahr, oder, anders gesehen, erfährt sich das Ich als fremd in einem anderen kulturellen oder symbolischen Raum, weil es von den Einheimischen als Fremder angesehen wird. Im paradoxalen Alteritätsdiskurs, anders als bei klassischem ethnozentrischem Universalismus oder im Fundamentalismus, ist das Ich derjenige, der von der Anerkennung des Anderen abhängt, der sein Maß ist, der doch inkompatibel und rational nicht zu fassen ist. Das Spiel mit der Fokalisierung beobachten wir bei I. Bachmann unter anderem im „Buch Franza", in dem sich die „Weißen" als Fremde empfinden. In der Lyrik findet man weitere Beispiele, die im vorliegenden Artikel analysiert werden sollen.
II
Die Gestalt des nahen — oder, eher gesagt, der nahen — Fremden, die nicht ohne wichtigen Einfluß von Paul Celan ins Leben gerufen worden ist, tritt im Gedicht ,Mirjam' (1957) in den Vordergrund. Mirjam ist in mehreren Hinsichten „fremd" — als eine „von weit her Kommende", als Person, die einem anderen ethno-kulturellen Kreis angehört, und auch jemand, der anders, eigenartig wirkt. Trotzdem bleibt sie als richtige „nahe Fremde" mit uns und unter uns:
Bleib uns nur fremd, bis wir uns fremder sind.
2 Genette G. Die Erzählung. 2. Aufl. München, 1998. Besonders: S. 132, 134, 136.
Beim Fremdsein ist das Benennen (und der Name als Ergebnis des Benennens oder dessen Abwesenheit) von besonderer Bedeutung. Der Name des angesprochenen Du, der von hebräischer Herkunft ist und auf biblische Motive anspielt, wird bereits im Titel des Gedichtes angegeben und in der 1. Strophe noch einmal hervorgehoben. Da wird dieses Wort als „süßer", nicht von hier stammender Name „mit dem Mandelton" charakterisiert, der im Einklang mit Celans Zeilen „Zähle die Mandeln / zähle, was bitter war und dich wachhielt' auch die Bitterkeit symbolisiert.
Wegen des Namens und der damit verbundenen Gestalt liest sich das Gedicht als Antwort auf Paul Celans „In Ägypten" (1948), das nicht zufällig die Widmung „für Ingeborg" trägt. In seinem Gedicht, das als Selbsteinrede in der zweiten Person klingt, beschwört Celan in beinahe biblischer Sprache die Erinnerung an weibliche jüdische Vornamen (Ruth, Mirjam und Noemi) und bringt sie in ein Verhältnis zur Fremden. Was sich dabei ändert, ist die Fokalisierung. Mirjam, eine der „Dazugehörigen" und „Eingeweihten" bei P. Celan, verwandelt sich in eine Fremde bei I.Bachmann. Die Celanische Fremde, die nicht dem jüdischen Lebens- und Kulturkreis angehört und keinen Anteil noch am jüdischen Schicksal, Schmerz und Gedächtnis aufweist, wird zur schreibenden Instanz. Die schreibende Instanz tritt als Gesprächspartner von Mirjam auf, der Mirjam als „Du" anspricht.
Außer dem viel aussagenden Namen hat die Fremde schon vom Aussehen her eine bezaubernde und fast mystische Ausstrahlung — dunkelhaa-ring, jung und glänzend von Morgen, wobei sich die Jugend herrlicherweise mit dem tausendjährigen Gedächtnis verknüpft. Im Gedicht tritt Mirjam als eine halb reale, halb mythische Gestalt auf. Die 1. Strophe stimmt uns jedoch darauf ein, sie als junge Zeitgenössin wahrzunehmen, die mit dem Zauber und mit dem Schmerz des tausendjährigen Gedächtnisses besegnet ist und deshalb biblische Anspielungen, Erwartungen und Hoffnungen in uns erregt. Vor dem Leser steht nicht die Fremde, die sich in der Geschichte aufhält; es ist eher die Geschichte, die in der Gestalt der nahen Fremden präsent bleibt:
dein Land ist Morgen, tausend Jahre schon.
Dies erinnert auch an die Worte des Fremden aus „Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran": „Mein Volk ist älter als alle Völker der Welt und es ist in alle Winde zerstreut'.
Als nahe Fremde hat Mirjam eine verdoppelte topographische Identität, indem sie zwei Länder eigen nennen kann: „dein Land ist Morgen", sagt das lyrische Ich in der ersten Strophe, und dann in der zweiten: „... laß die Mörder überrascht versteinen/und einen Augenblick dein zweites Land!"
Bleib uns nur fremd, bis wir uns fremder sind,
— heißt es bei I. Bachmann, die absichtlich dieses Fremdsein in der 3. Strophe verbalisiert. Da vollendet sich der Entfremdungsprozess, wenn auch
mit einem unerwarteten Ergebnis: Bis jetzt ist Mirjam durchaus als Fremde wahrgenommen und dargestellt worden, weil „wir" als Maß aller Dinge, als Inbegriff vom Eigenen, aufgetreten sind. Ab diesem Punkt registrieren wir jedoch das Flottieren, das nach einiger Zeit die nahe Fremde als „Andere" oder sogar als „Einheimische" und „uns" selber als richtige Fremde erscheinen lässt. Die Begegnung mit dem anscheinend Fremden regt also zur Selbsterkenntnis und zur tieferen Einsicht in den mysteriösen Bereich des Eigenen an.
„Dass den Fremden dank ihres exterritorialen Status Leistungen zugetraut und zugestanden werden, die andere nicht erbringen können, ist historisch verbürgt und wird in Theorien des Fremden immer wieder reflektiert", behauptet Rolf-Peter Janz3. Im Falle Mirjams handelt es sich allerdings nicht um ihren exterritorialen Status, sondern eher um ihr überterritoriales und extemporales Dasein. Wie dem auch sei, der oben genannte Ansatz gilt auch für die Bachmannsche Fremde: Ihre Erscheinung markiert einen Wendepunkt im Leben der Anderen (wie es auch oft in den Erzählungen von I.Bachmann der Fall ist, z.B. in „Das dreißigste Jahr" und „Unter Mördern und Irren"): im Leben der Mörder, die „überrascht versteinen", und im Leben der Opfer, die Zeugen von Mirjams Wundern werden.
Das nahe Fremdsein ist also in dem Fall durchaus positiv konnotiert — als Hüter des parallelen geschichtlichen Gedächtnisses, als reinigende und Wunder wirkende Kraft, als Quelle der Wiedergeburt und Erneuerung. Da besteht noch die Hoffnung, die man beim Eigenen verloren hat.
Weitere Gestalten des nahen Fremden finden wir unter Anderem in den Gedichten „Paris", in dem die soziale Fremdheit thematisiert wird, und „Ein Monolog des Fürsten Myschkin", in dem die geistige Fremdheit und Verworfenheit in den Vordergrund rückt. Man soll jedoch nicht vergessen, dass das lyrische Ich in vielen Gedichten auch als kultureller, sozialer und geistiger Fremder auftritt.
III
Im Gedicht „Liebe: Dunkler Erdteil' wird im Unterschied zu „Mirjam" der ferne Fremde thematisiert. Auf dem „dunklen Erdteil", der als Metapher der Liebe im Gedichttitel angekündigt wird, erscheint er in Gestalt eines schwarzen Königs, eines „felligen" und „farbigen" Herrschers des Dschungels und der „Küsten aus Gold und Elfenbein".
Schon in der 1. Strophe wird dieser ferne Fremde durch seinen königlichen Status hervorgehoben und hierarchisch oben gesetzt. Gleichzeitig tritt er als Inbegriff und Verkörperung des Ungeheueren und des Unheimlichen auf — mit seinen Raubtiernägeln und Sehnsucht nach Gewalt, Willkür und
3 Faszination und Schrecken des Fremden / Hrsg. R.-P. Janz. Frankfurt am Main, 2001. S. 16.
Schmerz. Er zeichnet sich durch eine sehr starke, verführend-faszinierende, zugleich aber auch abschreckende körperliche Präsenz aus. Sein Körper scheint dabei, in die Landschaft eingebaut zu sein, — als fester Bestandteil dieser dunklen Seite der Welt oder eher als mit ihr kommunizierendes Gefäß. Er zieht das angesprochene Du „an jene Küsten / aus Gold und Elfenbein, an seinen Mund", als ob die Komponenten der Landschaft in seinen Körper mündeten. Interessanterweise existiert dieser schwarze König sehr nah am Jenseits, mit anderen Worten, an der Grenze zwischen Hier und Dort, zwischen dem Verstehbaren und dem Unbegreiflichen:
Ins Jenseits ziehn geblendet Karawanen, und er peitscht Dünen durch das Wüstenland...
In diesem Gedicht finden sich Spuren von den romantisierten Vorstellungen vom fernen Fremden aus europäischer weiblicher Sicht der damaligen Zeit. Sie werden allerdings in diesem Fall mit ihrer Klischeehaftigkeit und Bildhaftigkeit absichtlich ins Extrem getrieben und literarisch verarbeitet, bis sie über diese Klischees hinwegkommen und den verallgemeinerten Charakter des Mythos erreichen. (Ganz im Sinne von Sigmund Freud, der den Mythos unter anderem als Projektion der menschlichen Erfahrungen und Probleme auf übermenschliche Wesen deutet). Mit anderen Worten, wird der Fremde nicht um seines Fremdseins willen, sondern eher wegen seiner Entfremdung vom Alltäglichen und Affinität zum Mythischen (zugleich aber auch zum Utopischen!) in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gebracht. Dasselbe trifft in vielerlei Hinsicht auch auf die nahe Fremde Mirjam im vorher analysierten Gedicht zu.
Es ist eine Utopie des Treffens zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen den Rassen und den Geschlechtern — eine Wunschvorstellung von der gegenseitigen Annäherung und Annahme, die zwar durchaus möglich ist, aber nur schwer realisierbar ist, — in einem weit entfernten magischen und geheimnisvollen Reich, nah am Jenseits. Es handelt sich dabei um eine todgefährliche und trotzdem viel begehrte Begegnung, die durch die Verwüstung und Selbstopferung zur Erkenntnis führt. Schon wieder markiert das Erscheinen eines Fremden einen Wendepunkt sowohl in der Natur, im kleinen Kosmos, in dem sich die Hauptgestalten des Gedichtes aufhalten, als auch im Leben des angesprochenen Du:
Und er befiehlt die große Mittagswende. Ins Jenseits ziehn geblendet Karawanen, und er peitscht Dünen durch das Wüstenland, er will dich sehn mit Feuer an den Füßen. Aus deinen Striemen fließt der rote Sand.
Sobald der Fremde in den Vordergrund tritt, bringt er mit sich die Änderung der Perspektive, was an sich eine seiner wichtigsten Funktionen ist
(wie auch im „Buch Franza" und im Malina-Roman). Als Ergebnis entwickelt sich beim angesprochenen weiblichen Du die Fähigkeit, tiefer und schärfer und einfach anders zu sehen, so dass es sogar das Geheimnis des schwarzen Königs erblicken kann („...du, selbst, geheim, blick sein Geheimnis an"). Im Koordinatensystem „die weibliche Gestalt — die Welt" beobachten wir jedoch eine gegenseitige Wirkung, wobei das angesprochene Du bei der Begegnung mit dem Fremden von der Welt auch anders angesehen wird („Die Welt sieht dich vom andren Ende an!"). Das Motiv des Sehens und des Anders-Sehen-Könnens, das im Werk von I. Bachmann von großer Bedeutung ist, spielt also bei der Interaktion mit dem Fremden auch eine sehr wesentliche Rolle.
Außer dem Blickwecksel lässt sich der Wendepunkt daran erkennen, dass die Konfrontation mit dem schwarzen König durch die Verwüstung und den Schmerz, durch eine Reihe von fast kathartischen Erfahrungen zur Erkenntnis und Grenzüberwindung führt. Zu den Schlüsselbegriffen gehört dabei die Verwüstung, die den Zustand der Natur sowie den des Geistes symbolisiert (es ist kein Zufall, dass hier das Bild des Wüstenlandes in der 4. Strophe deutlich zum Vorschein kommt und die Assoziationen mit dem „Buch Franza" entstehen lässt). Als weiteren wichtigen Begriff muss man die Erkenntnis nennen, die sich aus dem Prozess dieses „Zugrundegehens" und „Auf-den-Grund-Kommens" (um mit den Worten aus „Böhmen liegt am Meer" zu sagen) ergibt, wobei es sich um keine logische, sondern eher irrationale, magische, „geheime" Erkenntnis mit Nimbus des „hellen Wahns" handelt. Die Grenzüberwindung ist der dritte Schlüsselbegriff, der für die Interpretation der Auswirkungen des Treffens zwischen dem Eigenen und dem Fremden unersetzlich ist:
Ins Jenseits ziehn geblendet Karawanen...
Um den Äquator sinken alle Schranken...
— heißt es im Gedicht.
Als Ergebnis der Verwüstung und der Grenzüberwindung verschwindet das angesprochene Du in der letzten Strophe des Gedichtes. Dieses angesprochene Du ist an und für sich nichts Anderes als das entfremdete Ich, das hier sowie in vielen anderen Gedichten von I. Bachmann als Doppelgänger des Ich und als Fremdling auf der intrasubjektiven Ebene fungiert.
Ein weiterer bedeutender Aspekt des Fremdseins, der in diesem Gedicht mit ins Spiel kommt, ist das Fremdsein nicht im kulturellen, zivilisatorischen Sinne, sondern im Sinne der Konstellation „Mann — Frau", also die Fremdheit der Geschlechter (schon auf der intersubjektiven Ebene). In „Liebe: Dunkler Erdteil" tritt der Mann als ewiger Fremdling im Universum der Frau auf, wobei sie auch bei der Änderung der Perspektive als Fremde in seiner Welt wahrgenommen wird.
Mit der Veröffentlichung der sogenannten „Unveröffentlichten Gedichte" sind inzwischen weitere Gedichtentwürfe mit dieser Thematik bekannt geworden, die sich der Reise von I. Bachmann nach Ägypten und in den Sudan im April-Mai 1964 verdanken. Dazu gehören ,Enigma" (die Version, die mit den Worten: „Am Nil in der Nacht, am Nil..." beginnt), „Nacht der LiebeLL, „Terra Nova", „Immer wieder Schwarz und Weiß' und ,-Auflösung".
Die Gestalt des fernen Fremden wird in diesen Gedichtentwürfen weiterhin im Kontext der Mann-Frau-Beziehung geschildert. Was ändert sich dabei an der Figur des fernen Fremden? Im Laufe der Zeit wird er menschlicher, näher, personifizierter, verinnerlichter. Vor den Augen des Lesers entwirft sich kein Mythos vom Übermenschen, sondern eher eine Geschichte über das weibliche Ich und das männliche Du:
Ich rufe Dich von der Straße, komm, hab schwarzes Haar, sei jung.
„Auflösung"
Ach wie gut, daß niemand weiß, wie du heißt, daß meine junge Schwärze herrührt von deiner alten.
Jmmer wieder Schwarz und Weiß'
In „Liebe: Dunkler Erdteil" steht die weibliche Figur ursprünglich auf den Knien und wird vom König „ohne Grund" verworfen und gewählt, wie widerprüchlich ihr Status am Schluss des Gedichtes auch sei. In den früher unveröffentlichten Gedichtentwürfen lernt sie bei der Begegnung mit dem Fremden „wieder gehen" (in „Nacht der Liebe") und findet in ihm keinen König sondern eher einen Unbekannten ohne Namen („Immer wieder Schwarz und Weiß"), einen einfachen Jungen „von der Straße" („Auflösung"), — letztlich, einen, der ihr vom geistigen Status her gleichgestellt wird und sie sogar zur „Königin" aufhebt:
Du rufst mich wie die Königin von Sambesi.
Jmmer wieder Schwarz und Weiß"
Der ferne Fremde wird als „Du" angesprochen und durchaus als Gesprächspartner betrachtet, mit dem das weibliche Ich einen intimen, zugleich aber auch indirekt an die Einheimischen gerichteteten Dialog führt. Als Ergebnis des Flottierens, das sich dabei vollzieht, verwandelt sich der angeblich ferne Fremde in einen nahen Anderen, und zwar in solchen, der in den Bereich des Eigenen mit einbeschlossen wird. In der Extremform dieser Annäherung und Empathie ruft das lyrische Ich dazu auf,
Rache [zu] üben an allem, was weiß ist weiß war, weiß sein wird.
„Terra Nova"
Bei der kritischen Betrachtung von Stereotypen und der Umwertung der traditionellen Werte spielt das Gedicht-Ich mit der Farbe und dreht ihre symbolische Bedeutung um: Weiß verliert nun seine positive Konnotation, während Schwarz für alles stehen soll, was gut ist, was ohne Schmach, ohne „bürgerliche Infamie mit ihren Demütigungen der Langeweile und des raschschlüssigen Urteils" ist, was die letzte Hoffnung — „ultima spe-ranza" — in sich birgt.
Dabei ändert sich sogar die Fokalisierung: Das lyrische Ich stellt sich in „Terra Nova" und „Auflösung" demonstrativ an die Seite des Fremden und schreibt zunächst aus der Perspektive dieser Bekenntnis zur anscheinend „fremden" Welt und später aus der Perspektive der Instanz, die sowohl vom Eigenen, als auch vom Fremden weg ist und sich über diesen Begriffen und über allen Rassen positioniert.
Es ist interessant, das das Du im Gedichtentwurf „Enigma" („Am Nil in der Nacht, am Nil.") abwechselnd für das weibliche Ich und für seinen männlichen Gesprächspartner benutzt wird, so dass sich das Eigene und das Fremde in einer Gestalt treffen. (Andererseits kann man auch von der Spaltung des Ich im Sinne des Malina-Romans sprechen.) Der Fremde, anders dargestellt als „Wilder", erweist sich als Alter Ego des lyrischen Ich.
Wenn wir die wesentlichen Züge des fernen Fremden zusammenfassen, bleibt er in vielerlei Hinsicht ein lebendiges Rätsel, ein Geheimnis in menschlicher Gestalt, mit den Motiven der Wende, der „wunderbaren" Verwüstung und der darauf folgenden Erkenntnis verknüpft. Die Begegnung mit dem fernen Fremden signalisiert eine kathartische Erfahrung, die beim lyrischen Ich oder dem angesprochenen weiblichen Du die Fähigkeiten des Wieder-Sehen-Könnens und Wieder-Sprechen-Könnens entwickeln lässt.
Wichtig ist auch, dass die Dichterin mit der Fokalisierung experimentiert und das Fremdsein aus verschiedenen Perspektiven schildert. Der ferne Fremde wird als Ergebnis des Flottierens zum nahen Fremden oder sogar zum nahen Anderen und erweist sich im Endeffekt als näher als das, was man eigen nennt. Dabei verwischen sich die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, und der Geist erfasst subtile, aber dennoch große Wahrheiten.
Literaturauswahl
Bachmann-Handbuch: Leben — Werk — Wirkung / Hrsg. von M. Albrecht
und D. Göttsche. Stuttgart; Weimar, 2002. Faszination und Schrecken des Fremden / Hrsg. R.-P. Janz. Frankfurt am Main, 2001.
Genette G. Die Erzählung. 2. Aufl. München, 1998.
Simmel G. Exkurs über den Fremden // Simmel G. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Ges. Werke. Bd 2. Berlin, 1968.