Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2011. № 1
СОПОСТАВИТЕЛЬНОЕ ИЗУЧЕНИЕ ЛИТЕРАТУР И КУЛЬТУР
Elena Sukhina
DAS GEOKULTURELL ANDERE BZW. FREMDE
IN DER LYRIK VON INGEBORG BACHMANN
В данной статье рассматривается геокультурный аспект представлений об "ином", нашедших отражение в лирике Ингеборг Бахманн. Основное внимание уделяется вопросу о том, в каких контекстах и при каких обстоятельствах "иное" мыслится как "свое" или, напротив, "чужое". Особое место занимает исследование лирических "портретов" Италии, Англии, Франции, Польши, Германии и других стран, их мифологических и утопических (или антиутопических) черт и закономерностей их переведения в плоскость "своего" или "чужого". Анализируются как ранее опубликованные произведения австрийской поэтессы, так и неизвестные ранее стихи и стихотворные наброски.
Ключевые слова: австрийская лирика, концепт "свое" и "чужое", геокультурный аспект, топография.
The article considers the geo-cultural aspect of the concept of "other" as reflected in Ingeborg Bachmann's poetry. It seeks to answer the question in which contexts and under which circumstances "other" is seen as "one's own" or, vice versa, as "alien". Special attention is given to the study of lyrical portraits of Italy, England, France, Poland, Germany and other countries, their mythological and utopian (or anti-utopian) features and peculiarities of projecting them into the realm of "one's own" or "alien". Both the earlier published and recently discovered poems and draft poems by the Austrian author are analyzed.
Key words: Austrian poetry, concept "own" and "alien", geo-cultural aspect, topography.
I
Das Thema dieses Beitrags lautet: „Das geokulturell Andere bzw. Fremde in der Lyrik von Ingeborg Bachmann". Die Schlüsselbegriffe sind dabei das Andere und das Fremde. Das Andere ist, — wenn wir die Definition von Michael Hofmann leicht modifizieren,
— erstens, alles, was, topographisch gesehen, ausserhalb des eigenen Bereichs vorkommt;
Сухина Елена Игоревна — канд. культурологии, ст. преподаватель кафедры региональных исследований факультета иностранных языков и регионоведения МГУ имени М.В. Ломоносова; тел.: 8-965-284-54-34, e-mail: [email protected]
— zweitens, das, was einem anderen gehört, wobei in diesem Verständnis auch der Aspekt der Nationalität eine wichtige Rolle spielt;
— oder drittens, alles, was von anderer Art ist und andersartig ist1.
Das Eigene kann dabei nur in der Gegenüberstellung und Interaktion mit dem Anderen definiert werden. Laut Rolf-Peter Janz, dem Herausgeber des Bandes "Faszination und Schrecken des Fremden", ist das Eigene eine Projektionsfläche, die durch die Zugehörigkeitsanerkennung, das Einschliessen in den Selbst-Bereich und das Ausschliessen vom Anderen entsteht2. Das Eigene und das Andere existieren schon immer in einem engen Zusammenhang und sind immer subjektiv — bei der Analyse der Lyrik sind sie sicherlich "im Auge des Betrachters".
Und was ist denn das Fremde? — Eine extreme Erscheinungsform der Differenz, eine Modifizierung und Weiterentwicklung vom Anderen. Wo genau die Grenze zwischen dem Anderen und dem Fremden verläuft, ist in vielen Hinsichten die Interpretationsfrage. Das Andere ist aber neutral, wobei das Fremde schon eine negative Konnotation hat und eine distanzierte Beziehung unterstreicht.
Laut Michael Hofmann, lässt sich das Fremde als Alteritätsrelation zur Selbstbestimmung in drei wichtigen Erscheinungsformen fassen: erstens, als das Jenseitige, prinzipiell Unverfügbare und Unzugängliche; zweitens, als das unbekannte Draussen, das dem vertrauten Bereich entgegengesetzt wird, und drittens, als Einbruch in den eigenen Innenraum3.
In der Lyrik von I. Bachmann manifestiert sich das Andere bzw. das Fremde auf mehreren Ebenen:
— als das Andere bzw. das Fremde in der Seele des lyrischen Ich, wenn es um die Selbstentfremdung und das Selbst als Fremdling geht,
— das Andere bzw. das Fremde in den menschlichen Beziehungen — bei der Opposition „ich" und „du" oder bei der Verwendung des Sammelbegriffs „wir",
— das topographisch und kulturell Andere, wobei die Bilder von anderen bzw. fremden Ländern in den Vordergrund treten,
— das zeitlich Andere — bei der Beschreibung der komplexen Beziehung mit der Zeit,
— das sprachlich Andere (gemeint sind die Fremdwörter und Zitate aus fremdsprachigen Quellen).
Man muss jedoch bedenken, dass es bei I. Bachmann noch das Nahe und das Ferne gibt. Das Ferne ist in ihren Gedichten zweierlei und soll nicht automatisch mit dem Fremden gleichgesetzt werden. Das Ferne kann auch durchaus positiv konnotiert sein — als etwas Unerreichtes,
1 Hofmann M. Interkulturelle Literatuwissenschaft: eine Einführung. Padeborn, 2006. S. 15.
2 Faszination und Schrecken des Fremden / Hrsg. von R.-P. Janz. Frankfurt am Main, 2001. S. 8—9.
3 Hofmann M. Op. cit. S. 15—16.
Unerforschtes und dadurch Attraktives und Anziehendes. Bei I. Bachmann wird das Ferne häufig mit der „Freiheit" gleichgesetzt.
„Eine einzige Stunde frei sein!
Frei, fern!"
— heisst es in einem ihrer frühen Gedichte „Nach grauen Tagen".
I. Bachmann empfindet auch das „Fernweh" (ausser dem „Heimweh", das in mehreren Gedichten zum Ausdruck kommt, wie, z. B., in „Paris") und spricht von der „Ferne" mit ihrer fast unwiderstehlichen, zugleich aber auch „verkettenden" Anziehungskraft:
„Noch bin ich mit jeder Ferne verkettet...",
— heisst es im Gedicht „Die Welt is weit".
Das Ferne hat also zwei Gesichter — als etwas Unerforschtes, Freisetzendes und Lockendes, einerseits, und als etwas Unwiderstehliches und in die Falle Führendes, andererseits, etwas, was sich, funktional gesehen, dem gefährlichen Fremden annährt.
In diesem Beitrag werde ich vorwiegend auf das geokulturell Andere in der Lyrik von I. Bachmann eingehen, das heisst, auf die Projektionsfläche, die topographisch und kulturell gesehen, ausserhalb des eigenen Bereichs liegt (also, ausserhalb des eigenen geographischen Gebiets und des eigenen kulturellen Kreises). Auf der Ebene des geokulturell Anderen sollen vor allem die Gestalten von anderen Ländern und die Gefühle von Alterität, Fremdheit oder Zugehörigheit analysiert werden, die sie hervorrufen. I. Bachmann schafft lyrische Portraits von Italien, England, Frankreich, Deutschland, Böhmen, Ägypten, und es ist unendlich interessant zu sehen, wo, an welchen Stellen und unter welchen Bedingungen dieses Andere als Eigenes bzw. als Fremdes erlebt wird.
II
Wie sehen diese lyrischen Portraits aus und zu welchem Diskurs gehören sie — zu dem von Alterität, Fremdheit oder Zugehörigheit? Fangen wir mit England an, und zwar am Beispiel des Gedichts „Abschied von England", das als Illustration meiner Herangehensweise und meiner Analyse ausführlich dargestellt werden soll.
Im Gedicht „Abschied von England" schildert die Dichterin eher eine literarische Landschaft als eine reale Topographie, und zwar eine durchaus fremde Landschaft. Fremd ist sie in mehreren Hinsichten, — als anderes Land, von dem sich das lyrische Ich entfremdet fühlt, als erträumte Landschaft, die gewissermassen von der zeitlichen und räumlichen Realität entfremdet ist, und als Traum-Gebiet, das nicht einmal den alten, eingefleischten literarischen Vorstellungen des lyrischen Ich entspricht.
Es lassen sich natürlich gewisse Bezüge zu einem mehrwöchigen Aufenthalt feststellen, den I. Bachmann im Dezember des Jahres 1950 in England genommen hat und auf den es weitere Hinweise an einer Stelle im Roman „Malina" gibt. Laut A. Russegger reichen die vagen Andeutungen der „Naturbestandteile Meerhauch, Eichenblatt, Gräser und Sonnen" jedoch kaum aus, eine plastische Realität in der Phantasie des Lesers entstehen zu lassen4. Viel zu irreal („aus meinen Träumen gelöst") und „entwirklicht" ist dieses Szenarium und wird zunächst sogar aus einer paradoxen Perspektive mit geschlossenen Augen geschildert. Ohne weiteres könnte man in Analogie zu I. Bachmanns Gedicht „In Apulien" sagen, es löst sich „das Land auf in Landschaft, und führt sie zurück auf das Land, das gemeint ist". Anders gesagt: durch die Distanzierung und Entfremdung gelangt man letztendlich an die Neuentdeckung und Akzeptanz des Eigenen.
Das Gedicht verwandelt England in eines jener erträumten, fiktiven „Ursprungsländer" (um mit den Worten von I. Bachmann zu sagen), deren Markierungen sich nicht auf gewöhnlichen Landkarten, sondern in einem „Zauberatlas" der Imagination befinden5. Der entsprechende Status Englands wird laut A. Russegger explizit bestätigt, indem es in einem Atemzug mit Italien und Frankreich genannt wird, welche ebenfalls zu diesen Phantasiegebien gehören und insofern „wahrer, viel wahrer sind" (das liest man bei I. Bachmann in ihrem Essay „Der Umgang mit Namen"). Als „Ursprungsländer" sind sie immer wieder aufs Neue zu entdecken und literarisch zu erobern. „Abschied von England" schildert deshalb, so A. Russegger, den Versuch einer solchen „verbalen Landnahme" oder „Neulandgewinnung in der Literatur", von der I. Bachmann schreibt.
England, so wie es in diesem Gedicht erscheint, erweist sich als durchaus gespenstiges und widerspenstiges Modell, an dem sich das lyrische Ich in seinem Selbstverständnis abzuarbeiten vermag6: Das Ich distanziert sich von allem als seinem Gegenüber, während es in der Funktion eines Dichters steht, so I. Bachmann, „die ganze Welt zu der seinen machen zu müssen". Dieser innere Konflikt („War ich je hier?") zeigt sich schon am Verhältnis zum Land selbst, das als personifiziertes „Du" angesprochen wird, sich jedoch von Anfang an gleich dem lyrsichen Ich verschliesst. Die Entfremdung artikuliert sich schon durch das wiederholte Gegenüberstellen vom stark präsenten „Ich" und dem angesprochenen „Du". Da funktioniert alles anders, als es auf den ersten Blick zu funktionieren scheint. Die Ankunft ist eigentlich ein Aschied, das Betre-
4 Russegger A. Das Unbesagte. Zu Bachmanns Gedicht „Abschied von England" // „In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort...": Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns / Hrsg. von P.-H. Kucher, L. Reitani. Wien; Köln, 2000. S. 77.
5 Ibidem.
6 Ibid. S. 84.
ten des Landes — ein Höhenflug, die Natur — ein traumhafter Spuk, die Landschaft als solche — eine Projektion für das „Land meiner Seele"7. Auch das Du ist eher die dunkle Seite des Ich. Das Fremde erweist sich als Paradoxon, das das Unvereinbare vereinbart und das als Teil des Eigenen (im Sinne von H. Bhabha und S. Freud) erlebt wird. Bei H. Bhab-ha heisst es, dass das Fremde schon teilweise innerhalb vom Eigenen eingepflanzt ist — das Unbewusste ist eine Stelle des Fremden inmitten des eigenen psychischen Apparates, ein beunruhigender, ambivalenter und widersprüchlich kodierter Zwischenraum8.
In diesem Gedicht wird der Leser mit der Fremdheit konfrontiert, die zuerst fasziniert und lockt (als alles Unerforschte und Unheimliche, wenn man sich des freudischen Ausdrucks bedient), — es ist auch die Fremdheit, die zuerst sogar die Ehrfurcht erregt und mit viel Pathos dargestellt wird. Schon bald entwickelt sich jedoch diese Fremdheit zum Ungeheuren und Erschreckenden — u.a. in der Gestalt von „den grossen grauen Vögeln", die „durch die Strassen flattern" und das Gedicht-Ich ausweisen. Das lyrische Ich geht fast ehrfurchtsvoll (und das spürt man am Rhythmus der längeren Eröffnungsverse) daran, sich auf die konkreten Gegebenheiten einzustellen9. Bald schlägt die innere Hochgestimmtheit des Verses „Ich war von deinem Himmel so hoch gehoben" in eine dunkle Vorahnung um — in Bezug auf die Unmöglichkeit, die alten, eingefleischten Vorstellungen mit den aktuellen Eindrücken übereinzustimmen.
Das Fremdsein drückt sich durch die Behinderung aller Sinne aus, besonders durch die Behinderung der Sicht, die in der Poetik von I. Bachmann eine wichtige Rolle spielt. In diesem Gedicht finden wir eine bemerkenswerte Konzentration auf das Sehen (oder eher das Nicht- und Wieder-Sehen-Können)10. Dessen funtionale Überlegenheit gegenüber den anderen Wahrnehmungen ist deutlich gegeben, auch wenn es zu Einschränkungen des Gesichtssinns kommt („Du hast meine Augen geschlossen"; „von meinen Tränen begossen", — liest man in diesem Gedicht). Das Schaeun vermag jedoch keine Bebilderung dieser anderen Realität zu liefern, sondern verwandelt — paradoxerweise — das lyrische Subjekt in den eigentlichen Gegenstand, ins Objekt der literarischen Konstruktion.
Das Fremde, oder eher gesagt, die Begegnung mit dem Fremden, ist also wichtig und sogar nützlich, indem es die Neuentdeckung, Neuerkenntnis und Neugeburt des Ich ermöglicht. Bei der Konfrontation mit dem Fremden werden die Augen zuerst behindert und geschlossen, dann aber wieder geöffnet, — und das Gedicht-Ich schaut schon in sich hinein, und zwar tiefer und reifer, wobei es schon imstande ist, die Landschaft
7 Ibidem.
8 Bhabha H. Vorwort. Die Verortung der Kultur. Tübingen, 2000. S. X.
9 RusseggerA. Op. cit. S. 78.
10 Ibidem.
seiner Seele zu erblicken. Die alltäglichsten Phänomene (z. B. Steine oder ein Eichenblatt) werden, so gesehen, zu wunderbaren Emanationen eines geheimen Sinns11. Das lyrische Ich steigt als Ergebnis dieser Erfahrung der Entfremdung immer höher zu grösseren Wahrheiten, aus dem Dunkeln ans Licht — weg von den Wolken und dem Dunst und über die alltägliche Landschaft zu den Träumen und zum „Land seiner Seele". Wie in ihrer berühmten Rede anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden, läuft die Vorstellung von einer wahren Art des Sehens auf Folgendes hinaus12:
„Mir sind die Augen aufgegangen. Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äusserlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das sollte die Kunst zuwege bringen: dass uns, in diesem Sinne, die Augen aufgehen" (I. Bachmann). Wenn wir dieses Zitat verlängern, können wir hinzufügen, dass es auch eine der Funktionen des Anderen und des Fremden bei I. Bachmann ist, — uns die Augen aufzumachen.
Am Ende des Gedichts kommt es zur expliziten Begegnung und komplexen Interaktion vom Eigenen und vom Fremden:
Unter den Schlangen des Meeres
seh ich, an deiner Statt,
das Land meiner Seele erliegen.
«Die Grenzen und Identitäten von dem, was „England" oder „Land meiner Seele" genannt wird, verschwimmen. Dass damit durchaus eine neue Bedrohung verbunden sein kann, zeigt sich dadurch, dass dieses Land „unter den Schlangen des Meeres" erliegt»13. Einerseits ist es ein angestrebtes Phantasiegebiet, andererseits ist es schon ein untergegangenes, totes Land — ein versunkenes „Ursprungsland", wie Atlantis.
III
Die Gestalten von Frankreich, die in den Gedichten „Paris" und „Hotel de la Paix" auftauchen, sind mit Heim- (und Heimatlosigkeit) und Heimweh verbunden — das sind Gestalten von realen Orten, die jedoch als Metaphern für höhere Wahrheiten interpretiert werden können. Frankreich ist der Ort, wo eben der sogenannte „-los"-Zustand (d.h. das Gefühl der Heim- und Heimatlosigkeit) am stärksten präsent ist und die Alterität eher als Abwesenheit vom Eigenen, als Enteignung erlebt wird.
Was wird sein, wenn wir, vom Heimweh benommen bis ans fliehende Haar, hier bleiben und fragen: was wird sein, wenn wir die Schönheit bestehen?
— heisst es im Gedicht „Paris".
11 Ibid. S. 79.
12 Ibid. S. 84—85.
13 Ibid. S. 86.
Interessant in dieser Hinsicht wäre, dass „wir" alle vom Heimweh benommen sind, — es geht um kein individuelles, persönliches Erlebnis, das normalerweise mit dem Heimweh assoziiert wird. Wir sind alle „aus dem Raum gestossen, wir, Flieger durch die Nacht und Bodenlose". Ob man unter „uns" I. Bachmann und Paul Celan, oder I. Bachmann und ihre Zeitgenossen — die Opfer ihrer Zeit, oder I. Bachmann und die Menschheit versteht, — erweist sich dieses Heimweh als kollektive Erfahrung.
Bedeutsam für die Paris-Gedichte sind die Wörter mit dem Suffix „-los" („atemlos", „lautlos") und Wörter mit der Semantik der Leere und des Verlustes (z. B. „die Verlorenen" und „die geleerten Schalen der Brunnen"). Es sind Nachtbilder, die trotz ihrer Schönheit an der leicht verletzbaren Grenze zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Lärm und Stille, zwischen Leben und Tod existieren. Im Gedicht „Hotel de la Paix" steht der Tod schon fast vor der Tür, so dass man die Todesnähe trotz der anscheinend banalen Umgebung spürt: „Der Riegel hat sich vor den Tod geschoben".
In den Paris-Gedichten von I. Bachmann wird man auch mit dem sozial Eigenen (oder eher als Eigenes Erlebten) und dem sozial Fremden konfrontiert, von dem Homi Bhabha in seinem Buch „Verortungen der Kultur" schreibt. Da lesen wir in „Paris":
Aufs Rad der Nacht geflochten
schlafen die Verlorenen
in den donnernden Gängen unten,
doch wo wir sind, ist Licht.
[...] Auf den Wagen des Lichts gehoben,
wachend auch, sind wir verloren,
auf den Strassen der Genien oben,
doch wo wir nicht sind, ist Nacht.
Die Reichen (oder eher gesagt, die Wohlhabenden) und die Armen sind in dieser Stadt schon von ihrem Standort her strengstens geteilt, das sind „wir" und „sie", die eigene und die fremde soziale Gruppe. Aber letzten Endes erweisen sich alle als verloren im fremden Glanz Frankreichs, wie es am Schluss des Gedichts behauptet wird.
IV
Im Vergleich zu England und Frankreich, die nur skizzenhaft dargestellt sind, finden wir in der Lyrik von I. Bachmann eine sehr breite Palette an den Italien-Bildern. In der Art und Weise, wie die Dichterin über Italien schreibt, vollzieht sich eine allmähliche Metamorphose. Die Einstellung zu Italien durchläuft alle Phasen der Verliebtheit — von der 1. Faszination über den Höhepunkt im Gedicht „Das erstgeborene Land" bis hin zur tieferen Erkenntnis und Einsicht. Kulturwissenschaftlich
gesehen, handelt es sich um eine Entwicklung von der Annäherung ans Andere und dem Gefühl der Zugehörigkeit bis hin zur distanzierten und nüchternen Betrachtung, zu den Zeichen der Verfremdung, wie z.B. im Zyklus „Lieder auf der Flucht". Da liegt die Stadt schon „steif und glänzt im fremden Winterschein", und alles sieht im Süden Italiens anders aus, als die gewohnte fröhliche, inspirierende und kraftspendende Landschaft. Da fühlt sich das lyrische Ich „gefangen im unterworfenen Neapel", wo die Sonne nicht wärmt und das Meer „stimmlos" ist, wo die „betäubte und betäubende Erde" in den Untergang zerrt. Das ist eine „Flucht" in die Gegend, aus der das lyrische Ich paradoxerweise nicht mehr fliehen kann14. Die Gestalten von Italien sind allerdings so zahlreich, dass sie eigentlich eines gesonderten Beitrags bedürfen, um die Entwicklung von der verliebten Zugehörigkeit zur nüchterneren Einschätzung dieser eigen gewordenen Alterität nachzuvollziehen.
V
Einen ganz besonderen Stellenwert unter den Bildern von anderen Ländern (England, Frankreich, Italien, Deutschland, den USA mit Harlem) nimmt Böhmen (mit Prag) ein. Es handelt sich dabei um eine literarische, utopische Landschaft, und keine reale Topographie. Es ist also ein symbolischer Ort für die Wiederbegegnung mit jenem mythischen Habsburger Österreich, das I. Bachmann in manchen Gedichten als ihre geistige Heimat entwirft15. An und für sich ist es das zeitlich und räumlich Andere, das als Eigenes empfunden und geschildert wird.
Im Gedicht "Prag Jänner 64", sowie in den weniger bekannten und seltener analysierten Gedichtentwürfen „Heimkehr über Prag" und „Wenzelsplatz", beschreibt das lyrische Ich die Erfahrung der seelischen Wiederherstellung und Neugeburt im Laufe seiner „geistigen Heimkehr"16. „Seit jener Nacht / gehe und spreche ich wieder, / böhmisch klingt es, / als wär ich wieder zuhause", — heisst es in "Prag Jänner 64". In der symbolischen Topographie des Gedichts erstreckt sich der wiedergewonnene Raum, also, das wiedergewonnene Eigene, von der Moldau über die Donau „bis zum Ural"17. Da wird das Andere als Eigenes dargestellt, und zwar als Einheit von der Natur und dem Menschen, wo das menschliche Leben in die Landschaft eingebaut scheint. Das eigen gewordene Andere hat ein unverwechselbares "Zuhause-Gefühl", wo alles sich als bekannt, vertraut und verinnerlicht erweist. Das Eigene bedeutet das Er-
14 Dolei G. Zwischen Flucht und letzter Zuflucht. Bachmanns „Lieder auf der Flucht" // "In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort...": Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns / Hrsg. von P.-H. Kucher, L. Reitani. S. 232.
15 Bachmann-Handbuch: Leben — Werk — Wirkung / Hrsg. von M. Albrecht und D. Göttsche. Stuttgart; Weimar, 2002. S. 81.
16 Ibidem.
17 Ibidem.
wachen und Verschärfen aller Sinne — die Möglichkeit zu gehen, zu sprechen und zu sehen (die Poetik des Sehens ist von grosser Bedeutung im Schaffen von Ingeborg Bachmann, wie auch die Sprachproblematik). Mit knappen Worten, tritt das Eigene als das Lebendige und das Lebenschenkende hervor — im Gegensatz zum gewaltig Fremden, das den Tod aller Sinne mit sich bringt.
VI
Bei der Analyse des geokulturell Fremden in der Lyrik soll man sich auch den sogenannten „unveröffentlichten" Gedichten von I. Bachmann zuwenden. In den Jahren 1961 bis 1963 hat Ingeborg Bachmann in Interviews mehrmals nahegelegt, sie habe nach ihrem zweiten Lyrikband „Anrufung des Grossen Bären" (1956) und noch einer 1957 erschienenen Gedichtgruppe „fast bewusst aufgehört, Gedichte zu schreiben". Es besteht jedoch ein umfangreicher Korpus von nachgelassenen Gedichten und Gedichtentwürfen aus den 1960er Jahren, die diese Aussage widerlegen, so die Autoren von „Bachmann-Handbuch"18. Fünf Gedichtentwürfe aus den Berliner Jahren 1963—1965 hat Hans Höller ediert und mit seinem Kommentar herausgegeben („Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen"). Die gleichen fünf Gedichtentwürfe haben die Erben der Dichterin zusammen mit 99 anderen Entwürfen aus dem gesperrten Nachlass herausgegeben — und zwar unter dem Titel „Ich weiss keine bessere Welt". Diese Auswahlausgabe umfasst vor allem zahlreiche stark autobiographische Gedichtentwürfe aus den Jahren 1962 bis 1964, wo Bachmann ihre Liebes- und Lebenskrise verarbeitet. Daneben stehen auch die Gedichte, die sich den Prag-Reisen des Frühjahres 1964 und der Ägypten-Reise im April—Mai 1964 verdanken, sowie einige deutlich spätere Entwürfe.
In vielen von diesen Werken wird das geographisch und kulturell Andere bzw. Fremde thematisiert — auf die Art und Weise, die ein neues Licht auf diese Problematik wirft und neue Schattierungen zur breiten Palette von geokulturellen Bildern hinzufügt.
In den Gedichten, die in H. Höllers Edition erscheinen, entstehen vor den Augen des Lesers die Bilder von anderen Ländern und Städten — also, die Gestalten von Berlin und Prag, oft als Antiutopie und Utopie interpretiert. Die Berlin-bezogenen Gedichte sind „Schallmauer" und „In Feindeshand" (anders gelesen als „In Feindesland"), die auf einem „kunstfernen Weg" die destruktiven Erfahrungen der lebensgeschichtlichen Krise in Berlin19 schildern. Da sind nicht einfach andere, sondern schon fremde, entfremdete Landschaften dargestellt.
18 Ibid. S. 78.
19 Ingeborg Bachmann: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen / Edition und Kommentar von H. Höller. Frankfurt am Main, 1998. S. 83, 87.
3 BMY, ^HHrBHCTHKa u Me^xy^KrypHaa коммуннкацнa, № 1
33
In „Schallmauer" wird alles, was als eigen empfunden wird und mit dem Possessivpronomen „dein" wiederholt bezeichnet wird, unterdrückt und verhindert. «An die Stelle der utopischen Stadterfahrung in Rom, jener emphatischen Evokation des Sehens und Hörens... ist in Berlin, zehn Jahre später, die Zerstörung der Sinne durch den „ Wahnsinn" „ von aussen" getreten...», so Hans Höller20. Wegen des Lärms, der alles überflutet, wird das Sehen, das Hören, das Denken verhindert. Die zerbrechende körperliche und psychische Identität wird sprachlich als Zerstörung des menschlichen Lebensraums artikuliert21. Der Lärm gehört zu den „vielen Schocks, die sich sehr oft wiederholt haben in Berlin", liest man in Bachmanns fragmentarischem Essay über den polnischen Schritsteller Witold Gombrowicz, den sie in Berlin traf. Dieser Lärmteppich, der das Eigene beschädigt, ist aber natürlich nicht nur mit dem Grosstadtverkehr verbunden, der sich seit dem Jahrhundertbeginn rasant entwickelt hat. Der Lärm ist als Zeichen des Fremden, als Zeichen der „jüngsten Vergangenheit" von Krieg und Vernichtung22 zu sehen. Nicht mehr sind nur individuelle Sinnbezirke bedroht, «das Gedicht „Schallmauer" gibt zu verstehen, dass alles bedroht ist und alles vernichtet werden kann...»23, so Hans Höller, — alles, was als eigen empfunden wird.
Noch dramatischer ist die Darstellung der Gewalt im Gedicht „In Feindeshand", wo alles, was als „dein" bezeichnet wird und als „eigen" gelesen werden kann, zerstampft, zermahlt, zerstört wird.
Den fremden geokulturellen Landschaften stellt I.Bachmann schon früh in ihrem Werk die utopischen Gegenentwürfe von den Orten entgegen, die als eigene empfunden werden. «Berlin, ein „Ort für Zufälle", ein einziger geschichtlicher „Nachtmahr", wo das Ich sich selber fremd ist, — Berlin hat in Bachmanns topographischem Gedächtnis die Stadt Prag zum Gegenpol (so Hans Höller), und was sie über Rom in ihrem Essay-Fragment „Ferragosto" schreibt, liesse sich» auf ihre Prag-Erfahrungen übertragen: „Das geistige Heimatgefühl, das man hier empfindet, tritt an die Stelle des Gefühls von physischer Heimatlosigkeit, die in der Welt zunimmt"24.
Die schönsten von den letzten, im Nachlass aufgefundenen Gedichten verdanken sich eben den beiden Prag-Reisen, die I.Bachmann im Winter 1964 von Berlin aus unternahm. Sie empfand, in einer Zeit tiefer Depression, diese Reisen als ein „Wunder", das in ihr die Hoffnung weckte, sie könne „die Vergangenheit überwinden". Die Gedichte wie „Wenzelsplatz", „Jüdischer Friedhof", „Poliklinik Prag" stellen klei-
20 Ibid. S. 27—28.
21 Ibid. S. 31.
22 Ibid. S. 32.
23 Ibidem.
24 Ibid. S. 33—34.
ne, in sich brüchige Utopien dar, Gegenorte zu der in Berlin registrierten Gewalt. Sie zeigen das lyrische Ich, das sich inmitten dieser Gedächtnisorte vor Gewalt und Zerstörung geborgen fühlt25. Das sind also kleine Gedächtnislandschaften aus dem ehemaligen Habsburgerreich, Seitenstücke des „Ungargassenlands", wo sich das Ich wenigstens für einen Moment gerettet fühlt und die Welt ihre destruktive Macht über das Ich verliert26.
Das sind, streng genommen, die Bilder vom Anderen, das als Eigenes empfunden und dargestellt wird. Das ist ein Raum, der verinnerlicht und in einer bestimmten Weise „angeeignet" wird — wegen seiner Zugehörigkeit zur Gedächtnislandschaft. In „Wenzelsplatz" liest man:
Der Platz, von [dem] ich aber nachhause finde, heisst auch so, ist ein und derselbe. Ich habe meinen kleinen Rauch vor dem Mund und biege ein und komme lebendig an-in eine Gasse, die weit unten in meiner Vergangenheit endet und mein Leben ist. in der meine Herkunft ist.
Das Ich findet in den Bildern eines selbsvergessenen Lebens, einer elementaren Lebensäusserung „nachhause": Die verschneite Stadtlandschaft wird im Bild der „Fischzüge" zur Stadt am Grunde des Wassers, wo sich die Wege zurück in die Kindheit öffnen — die Wege, die der weiblichen Gestalt in „Drei Wege zum See" versperrt sind. Wie eine Replik auf das Gedicht „Wenzelsplatz" liest sich die bekannte Passage in „Malina": „Ich muss gelebt haben in diesem Haus zu verschiedenen Zeiten, denn ich erinnre mich sofort in den Gassen von Prag [...] ich war immer zu Hause in diesem Haus". Sie komme aus „dieser Welt", hat I. Bachmann, in einem Interview zu dieser Passage befragt, geantwortet — „unterirdische Querverbindungen gelten für mich noch immer"27.
Diese Wiedergewinnung des Eigenen in der anderen Landschaft und die Artikulierung der Zugehörigkeit sind für die Prag-Gedichte typisch-sowohl für die bekannten, wie "Prag Jänner 64", als auch für die weniger bekannten Gedichte und Gedichtentwürfe.
Da liest man auch in „Heimkehr über Prag":
Die Moldau, die gehört nur mir, mit Kronen hab ich sie bezahlt und hab sie weiterfliessen lassen.
Bei diesen Gedächtnislandschaften geht es jedoch nicht darum, dass alles ideal dargestellt wird. Es werden eher, laut Hans Höller, in einer scheinbar kunstlosen Sprache Beziehungen ohne Gewalt sinnfällig gemacht: „Ein urbaner Platz aus der untergegangenen Welt Mitteleuropas,
25 Ibid. Auf dem Umschlag.
26 Ibid. S. 37.
27 Ibid. S. 39.
ein jüdischer Friedhof, ein Haus für die Kranken — friedliche Räume, die ein lebendiges Miteinander der Menschen evozieren" — in einer Welt, wo «die tödlichen „Mundarten" verstummt sind und auch die härteste Nicht-Utopie, der Tod, seinen Schrecken verloren hat»28. Andererseits sind all diese Landschaften — „Wenzelsplatz", „Jüdischer Friedhof", „Poliklinik Prag" — auch Orte, die mit Tod, Krankheit und Untergang zu tun haben. „Die Gegenwelt, in der sie Zuflucht vor der Verzweiflung findet oder doch sucht, wird der Verzweiflung zum Verwechseln ähnlich", so Erich Fried (das, was er über „Böhmen liegt am Meer" sagt, gilt auch für die anderen Prag-Gedichte)29.
VII
Unter den früher nicht veröffentlichten Gedichten findet man auch Gedichtentwürfe, die sich der Reise von Ingeborg Bachmann nach Ägypten und in den Sudan im April—Mai 1964 verdanken. Die wurden zuerst in der Antizipation, dann in der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen landschaftlicher und kultureller Fremde verfasst30. Dazu gehören Gedichte wie „Enigma" (die Version, die mit den Worten: „Am Nil in der Nacht, am Nil..." beginnt), „Nacht der Liebe", „Terra Nova", „Immer wieder Schwarz und Weiss" und „Auflösung".
Da entstehen die exotischen Topoi der „wilden Liebe", der erotischen „Nacht in Ägypten", der orgischen Feier des Lebens, die gegen die „bürgerliche Infamie" der westlichen Zivilisation und ihrer „niedrigen weissen Rasse" gehalten werden. Das ist eigentlich eine motivische Vorstufe zum kritischen Exotismus und der Neokolonialismuskritik des „Wüstenbuchs" und des „Buchs Franza"31, und in diesem Sinne finde ich diese Gedichtentwürfe unendlich interessant. Es handelt sich um die Begegnung und Interaktion vom Eigenen und vom Fremden pur, also in ihrer geographischen, kulturellen, sogar zivilisatorischen, rassebezogenen Form. Es ist das faszinierende Fremde, das auf das Eigene zukommt, mit dem Eigenen einen engen Kontakt anknüpft und sich letzten Endes als Bestandteil des Eigenen, sogar als sein bester Teil, erweist. Das Fremde zeichnet sich durch die starke — magische! — Präsenz und unbeschränkte, von Natur erworbene Lebenskraft aus. Im Vergleich zur westlichen Zivilisation ist es authentisch, mysteriös-emotional und kraftspendend. In der orientalischen Nacht der Liebe:
28 Ibid. S. 37—38.
29 Fried E. Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land. Über Ingeborg Bachmann — Erinnerung, einige Anmerkungen zu ihrem Gedicht „Böhmen liegt am Meer" und ein Nachruf. Berlin, 1983. S. 7.
30 Bachmann-Handbuch: Leben — Werk — Wirkung / Hrsg. von M. Albrecht und D. Göttsche. S. 82.
31 Ibidem.
habe ich wieder sprechen gelernt und ich weinte, weil ein Wort aus mir kam. Ich habe wieder gehen gelernt, ging bis ans Fenster und sagte Hunger und Licht und Nacht war mir recht für Licht.
„NachtderLiebe"
Das lyrische Ich ist also bei der Begegnung mit dem faszinierenden Fremden wieder imstande zu sprechen (und wir wissen ja, dass die Sprachproblematik einen besonderen Stellenwert im Werk von Ingeborg Bachmann einnimmt). Das Fremde steht in ihrer Lyrik sehr oft mit dem Motiv des „Wiedermachenkönnens" in Verbindung — also, mit dem Motiv des Wiedersehen-, Wiedersprechen-, Wiedergehenkönnens. Das ist der Effekt des Fremden, das sich dem Eigenen annährt und als Eigenes empfunden wird (wie z.B. in den berühmten Prag-Gedichten, wo I. Bachmann „wieder geht und spricht"), oder der Einfluss des Fremden, das sich von dem lyrischen Ich distanziert und verschliesst, wie im Gedicht „Abschied von England".
Das exotische Fremde bei I. Bachmann leert und verwüstet, aber verwüstet „wunderbar", so dass es das lyrische Ich wieder mit Kraft ausfüllt und all seine Sinne verschärft:
Die Wüste hat meine Augen begegnet mit Sand, von meinem verwüsteten Herzen konnt ich nur vorher sprechen, jetzt ist es verwüstet wunderbar, die Sandschleier ziehen auf, die Dünen habens genommen, meine Blicke besänftigt mit ihrer unendlichen Zeichnung mein Gang ans Rote Meer. Mehr sag, ich mehr, mehr noch vom Sand.
„Auflösung"
Die Nacht der Liebe — das Motiv, das sich mehrmals wiederholt, — fungiert widersprüchlich sowohl as „Rache... an allem, was weiss ist / weiss war, weiss sein wird", als auch als eine Utopie, in der sich „die Rassen verschränken". In der konventionellen exotischen Topik imaginiert sich das lyrische Ich als „Königin vom Sambesi" und Afrika als „terra nova... ultima speranza"32. Dabei wird dem Fremden die entscheidende geistige und geistrettende Rolle zugeschrieben.
Interessanterweise, ist in den westlichen kritischen Ausgaben zu I. Bachmanns Prosa auch von der „Enteignung des Fremden" die Rede (also in Bezug auf die Begegung mit dem Fremden im Wüstenbuch und in den verschiedenen Fassungen des Franza-Romans33). Es geht um die Frage, ob das Fremde bei I. Bachmann letzten Endes nicht nur „als Mittel benutzt [wird], um den Zustand der europäischen Psyche zu erforschen", so wie es Rimbaud macht34. Meiner Ansicht nach kann man das nicht so wortwörtlich auf die Lyrik von I. Bachmann übertragen, wo das Fremde
32 Ibidem.
33 Ibid. S. 256.
34 Ibidem.
sein eigenes, klar umrissenes Profil hat und nicht nur zur Hervorhebung von den Defekten der westlichen Zivilisation dient (obwohl sie natürlich auch deutlicher vor diesem exotischen Hintergrund werden).
Weitere Gedichte, die ähnliche Problematik behandeln, wären auch die früher veröffentlichten Werke „Harlem" und „Liebe: Dunkler Erdteil" aus der Mitte der 50er Jahre35. Das sind also Gedichte, die auch einer näheren Betrachtung bedürfen, — als noch frühere Vorstufe zum kritischen Exotismus und der Neokolonialismuskritik bei I. Bachmann.
Zum Schluss möchte ich noch einmal unterstreichen, dass bei der Analyse von geokulturellen Bildern in der Lyrik von I. Bachmann sowohl auf die früher veröffentlichten und bekannten, als auch auf späte, weniger bekannte Gedichte der Autorin eingegangen werden soll, — deswegen, weil sie ein neues Licht auf das Verborgene und das Reifgewordene werfen. Auf der Ebene der Topographie entstehen bei I. Bachmann geokul-turelle Utopien, wo das Andere als Eigenes empfunden und dargestellt wird, und Anti-Utopien (oder „entstellte Topographien", um mit den Worten von S.Weigel zu sagen), wo das Andere als Fremdes erscheint. Das sind also die Bilder von Prag versus Berlin. Es sollen auch symbolische Topographien von realen Orten näher behandelt werden — die Gestalten von England, Frankreich und Italien und die Gefühle der Alterität, Fremdheit oder Zugehörigkeit, die sie hervorrufen.
Literaturauswahl
Bachmann-Handbuch: Leben — Werk — Wirkung / Hrsg. von M. Albrecht und
D. Göttsche. Stuttgart; Weimar, 2002. Bhabha H. Die Verortung der Kultur. Tübingen, 2000.
Dolei G. Zwischen Flucht und letzter Zuflucht. Bachmanns „Lieder auf der Flucht" // "In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort...": Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns / Hrsg. von P.-H. Kucher, L. Reitani. Wien; Köln; Weimar, 2000. Faszination und Schrecken des Fremden / Hrsg. von R.-P. Janz. Frankfurt am Main, 2001.
Fried E. Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land. Über Ingeborg Bachmann — Erinnerung, einige Anmerkungen zu ihrem Gedicht „Böhmen liegt am Meer" und ein Nachruf. Berlin, 1983. Hofmann M. Interkulturelle Literatuwissenschaft: eine Einführung. Padeborn, 2006.
Ingeborg Bachmann: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen / Edition und Kommentar von H. Höller. Frankfurt am Main, 1998. Russegger A. Das Unbesagte. Zu Bachmanns Gedicht „Abschied von England" // „In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort...": Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns / Hrsg. von P.-H. Kucher, L. Reitani. Wien; Köln; Weimar, 2000.
35 Ibid. S. 257.