Научная статья на тему 'Der lyrische weg zwischen dem Eigenen und dem Fremden bei Franz Werfel'

Der lyrische weg zwischen dem Eigenen und dem Fremden bei Franz Werfel Текст научной статьи по специальности «Языкознание и литературоведение»

CC BY
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Ключевые слова
АВСТРИЙСКАЯ ЛИТЕРАТУРА / AUSTRIAN LITERATURE / АВСТРИЙСКАЯ ЛИРИКА / AUSTRIAN POETRY / ФРАНЦ ВЕРФЕЛЬ / FRANZ WERFEL / OTHER / СВОЕ / OWN / ЧУЖОЕ / ALIEN / ИНОЕ

Аннотация научной статьи по языкознанию и литературоведению, автор научной работы — Sukhina E.I.

The article is devoted to the poetic interpretation of “own” and “alien” in the works of the Austrian writer Franz Werfel. Special attention is given to the multifaceted manifestation of “own”, the phenomenon of total unity giving rise to inevitable global alienation, and evolution of these concepts in F. Werfel’s poetry.

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Текст научной работы на тему «Der lyrische weg zwischen dem Eigenen und dem Fremden bei Franz Werfel»

Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2015. № 1

СОПОСТАВИТЕЛЬНОЕ ИЗУЧЕНИЕ ЛИТЕРАТУР И КУЛЬТУР

E.I. Sukhina

DER LYRISCHE WEG ZWISCHEN DEM EIGENEN

UND DEM FREMDEN BEI FRANZ WERFEL

The article is devoted to the poetic interpretation of "own" and "alien" in the works of the Austrian writer Franz Werfel. Special attention is given to the multifaceted manifestation of "own", the phenomenon of total unity giving rise to inevitable global alienation, and evolution of these concepts in F Werfel's poetry.

Key words: Austrian literature, Austrian poetry, Franz Werfel, other, own, alien.

Статья посвящена лирическому осмыслению концептов "свое" и "чужое" в творчестве австрийского писателя Франца Верфеля. Особое внимание уделяется многоплановому раскрытию концепта "свое", феномену всеобщего единения, таящему в себе истоки глобального отчуждения, и эволюции представлений о "своем" и "чужом" в поэзии Ф. Верфеля.

Ключевые слова: австрийская литература, австрийская лирика, Франц Верфель, иное, свое, чужое.

I

Wenn man von Franz Viktor Werfel (1890—1945) spricht, sind die Begriffe des Eigenen und des Fremden nicht wegzudenken. Sie haben das Leben und das Werk das Autors weitgehend gepr gt. Der sogenannte „Zwischenzustand" im literarischen Universum des Schriftstellers — die Existenz an der Grenze zwischen Hier und Dort, dem Nahen und dem Fernen, dem Verstehbaren und dem Unbegreiflichen — ist in vielerlei Hinsicht auf seine Biographie zurückzuführen. Geboren in der Familie der deutschsprachigen Juden böhmischer Abstammung hat er sich im interkulturellen Raum zwischen den nationalen und sprachlichen Welten der Tschechen und Deutschen befunden. Schicksalsträchtig waren die Jugendjahre des Schriftstellers in Prag und seine lebenslange innere Bindung an die Heimatstadt — die Kreuzung im Herzen Europas, die durch ihren transitorischen Charakter zum Begegnungspunkt, Konfrontationsraum und Schmelztiegel des Eigenen und des Fremden geworden war.

Сухина Елена Игоревна — канд. культурологии, ст. преподаватель кафедры региональных исследований факультета иностранных языков и регионоведения МГУ имени М.В. Ломоносова; e-mail: [email protected]

Spätere Lebensstationen haben auch wesentlich zur Interkulturalit t des Werfelschen Schaffens beigetragen, wobei Wien — die Stadt, die ihn nach eigenem Geständnis von früh an angezogen und gelockt habe1, — als Wohnsitz und Inspirationsquelle eine äußerst wichtige Rolle gespielt hat. Wie Franz Kafka und Max Brod, entstammte Franz Werfel offiziell der jüdischen religiösen Gemeinde, jedoch sympathisierte er zunehmend mit dem christlichen Glauben, der in hohem Maße die Grenzen und Identitäten des Eigenen und des Fremden in seinem späteren Werk bestimmt hat, und verkehrte in diesem Sinne im Bedeutungsraum zwischen den Religionen.

Die Tatsachen der individuellen Biographie des Schriftstellers haben sich mit den Ereignissen der Epoche aufs Engste verflochten, um weitere Ebenen im Interaktionsraum des Eigenen und des Fremden zu schaffen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die deutschsprachigen Prager Schriftsteller unter verschiedenen Umständen das Eigene — das Heim, die Heimat2, den geokultullen und sprachlichen Boden — verloren. Die Lebens- und literarische Odyssee von Franz Werfel hat ebenfalls eine tragische Färbung erworben. Nach dem „Anschluss" Österreichs musste der Schriftsteller zuerst nach Frankreich flüchten und nachher über Spanien und Portugal in die USA emigrieren. In Amerika wurde ihm im Jahre 1941 die US-Staatsbürgerschaft verliehen.

Es entsteht außer der räumlichen Entfremdung das Problem der fremden Zeit, die die Grundlagen des menschlichen Daseins erschüttert und die Eskalation der Gewalt im brutalen Kriegs- und Mordrausch mit sich bringt. Die Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird in diesem Kontext zuerst in der Antizipation und dann in der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der räumlichen und zeitlichen Krise geschaffen. Vor dem Hintergrund der aufziehenden Katastrophe wird die Vorahnung vom Verlust des Eigenen — der vertrauten Welt, der als eigen empfundenen Zeit und der verinnerlichten Werte — im Prager Kreis der Autoren immer deutlicher. Das ist eine Vorahnung, die bald darauf Wirklichkeit wird und die Verarbeitung der Fremdheit zur notwendigen Bedingung des Überlebens macht.

Die Motive des Verlustes und des Wanderns, des transitorischen See-lenzustandes und der fatalen Entfremdung durchziehen untergründig die Werke von Franz Werfel und seinen Zeitgenossen. Wie A.W Pawlowskaja schreibt, ist „das Thema des Wegs für jede Kultur wichtig und bei vielen Völkern mit der Idee des Lebens als solches und der Lebensbahn ver

1 Werfel F. Zwischen Oben und Unten: Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge. München; Wien, 1975. S. 592.

2 Zum Konzept "Heimat" siehe: Тер-Минасова С.Г. Язык и межкультурная коммуникация. М., 2000. C. 178—179.

bunden ist"3. Im oben genannten Kontext verwandelt sich der Weg jedoch in einen gefährlichen Wanderweg, der in den Abgrund des Nichts führt. In der Zeit, in der sich „das Bewusstsein der großen Krise des europäischen Geistes" laut Fritz Martini „erschreckend tief" einpräge4, wird die Entfremdung zunehmend als existentielle Grunderfahrung aufgefasst. Mit gutem Recht betrachtet Norbert Abels, der Autor einer bedeutenden Werfel-Biographie, das Fremde als „Daseinsbestimmung" im Universum des Schriftstellers und zählt es zu den zentralen Konzepten im literarischen Oeuvre von Franz Werfel5.

Im seinem Schaffen zeichnen sich die Profile der Fremdheit im Laufe der Zeit allmählich ab und weisen eine breite Palette an Erscheinungsformen auf — zuerst in der expressionistischen Lyrik und später in den Dramen, Essays, Erzählungen, Novellen und Romanen. Der Ausgangspunkt — und interessanterweise der Rückkehrpunkt — ist jedoch das Eigene. Im Unterschied zum Fremden, das als extreme Erscheinungsform der Differenz definiert werden kann, ist das Eigene eine Projektionsfläche, die durch die Zugehörigkeitsanerkennung, das Einschließen in den Selbst-Bereich und das Ausschließen vom Fremden entsteht6. Für eine Annäherung an dieses Konzept im umfangreichen und komplexen Werfelschen Oeuvre ist es notwendig, sich in erster Linie der Lyrik zuzuwenden.

II

Das Eigene, das in Gestalt von Weltfreundschaft, Verbrüderung, Menschlichkeit, Liebe und Weltfrieden kommt, wird bereits in den Titeln der ersten drei Gedichtbände von Franz Werfel —Der Weltfreund (1911), Wir sind (1913) und Einander — Oden, Lieder, Gestalten (1915) — deklariert. So wie das Eigene ursprünglich konzipiert und dargestellt wird, ist es omnipräsent und allumfassend. Das Eigene überschreitet die Grenzen der kleinen privaten Sphäre eines Menschen und umarmt die ganze Welt, die mit einer breiten Seelenbewegung ohne Bedenken in den Selbst-Bereich mit eingeschlossen wird. Durch die absolute Verbunden-heits- und Zugehörigkeitsanerkennung verringert sich der Abstand zu den Anderen, ob sie als nahe oder ferne Andere sonst angesehen werden könnten. Die Grenzen und Schranken zwischen einzelnen Menschen, Gemeinschaften, Völkern verwischen sich. „Sie" erweisen sich als „wir", so dass die „Anderen" bei diesem Blickwinkel nicht einfach als Projekti-

3 Павловская А.В. Дороги России — судьба России // Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2012. № 3. С. 34.

4 Martini F. Deutsche Literaturgeschichte. VOn den Anfängen bis zur Gegenwart. 9. Aufl. Stuttgart, 1958. S. 511.

5 Abels N. Franz Werfel. Reinbek; Hamburg, 1990. S. 7.

6 Faszination und Schrecken des Fremden / Hrsg. R.-P. Janz. Frankfurt am Main, 2001. S. 8—9.

onsfläche des Eigenen sondern eher als fester Bestandteil des Selbst-Bereiches aufgefasst werden.

Schon der erste Gedichtband von Franz Werfel Der Weltfreund begründet seinen Ruhm als Wortführer der literarischen Avantgarde und erfasst das Wesentliche am Phänomen des Eigenen. Am Anfang war die berühmte Ansprache an den Menschen:

Mein einziger Wunsch ist Dir, o Mensch, verwandt zu sein!

(„An den Leser")

Diese Zeile, die der expressionistischen „O-Mensch-Lyrik" den Namen geben sollte, sagt sehr viel über die Einstellung des Ich zum angesprochenen Du, des Eigenen zum Anderen, des Menschen zur Welt aus. Das Eigene ist ständig im Dialog mit dem Anderen, das auf dieser Stufe an und für sich vom Selbst-Bereich fast untrennbar ist. Im Gedicht An den Leser wird die Verwandschaft mit dem angesprochenen Du deklariert und angestrebt. Als Sammelgestalt der Menschheit, die verschiedene Rassen, Nationalitäten, Berufstätigkeiten und Altersgruppen umfängt, bringt das Du erstaunlicherweise alle möglichen Identitäten der nahen und fernen Fremden zusammen:

Bist Du Neger, Akrobat, oder ruhst Du in tiefer Mutterhut,

Klingt Dein Mädchenlied über den Hof, lenkst Du Dein Floß im Abendschein,

Bist Du Soldat oder Aviatiker voll Ausdauer und Mut.

Es ist jedoch keine oberflächliche Verbrüderung, sondern eine Geste des Humanismus, der sowohl die Stadt- und Staatsgrenzen als auch die Klassenbeschränkungen transzendiert. Franz Werfel schreibt von der „Erinnerung" des lyrischen Ich, die weit über die Grenzen seiner persönlichen Erfahrung hinausgeht. Die schreibende Instanz erweist sich als Träger des universalen kollektiven Gedächtnisses, das als Triebkraft der Annäherungs- und Vereinigungsmechanismen wirkt. Es besteht offensichtlich ein bestimmter Megakontext des Eigenen, auf den man Bezug nehmen kann. So wie das Du alle denkbaren Identitäten annimmt, kann sich das Gedicht-Ich mit verschiedensten Gestalten identifizieren. Es besitzt die Fähigkeit, sich gleichzeitig in viele andere Gefühls- und Gedankenwelten hinein zu versetzen. Dieser Mensch habe nach eigenem Geständnis „alle Schicksale durchgemacht", er kenne „das Gefühl von einsamen Harfenstimmen in Kurkapellen, das Gefühl von schüchternen Gouvernanten im fremden Familienkreis, das Gefühl von Debutan-ten, die sich zitternd vor den Souffleurkasten stellen". Dem Eigenen wird eine außerordentliche Fähigkeit zur Empathie zugeschrieben — das Einfühlungsvermögen, das WG. Zusman zu den grundlegenden und systembildenden Konzepten der österreichischen Kultur im Allgemeinen zählt7.

7 См.: Зусман В.Г. "Вникание / вчувствование" как концепт австрийской культуры // Вопр. филологии. 2004. № 1 (16). С. 53—57.

Einerseits realisiert das Ich seine integrative Funktion dadurch, dass es die Außenwelt zu verinnerlichen und in den Selbst-Bereich einzuschließen vermag. Andererseits, aus der entgegengesetzten Perspektive gesehen, ist die Substanz des Eigenen in der Welt verstreut, in allen Menschen, Dingen und Erscheinungen enthalten, so dass das GedichtIch nach der Wiedervereinigung mit diesem Ganzen und diesem Eigenen streben muss. Der Mensch baut sich harmonisch ins Universum hinein, um die sonst fehlenden Aspekte der Identität zu ergänzen und das eigene Ich zu vervollständigen. Dabei ändern sich die konventionellen Subjekt-Objekt Beziehungen, als die schreibende Instanz ihre paradoxe Zugehörigkeit zu dem angesprochenen Du und der Menschheit verkündet:

So gehöre ich Dir und Allen.

Außer dem umgedrehten Modell der Zugehörigkeit findet man in demselben Gedichtband zahlreiche Beispiele dafür, dass die gegenseitige Zugehörigkeit aller Wesen postuliert wird und nicht nur die Mitmenschen, sondern auch die unbelebten Wesen, einschließlich der banalsten Dinge, ins Erlebnis der kosmischen Einheit eingebaut werden. So liest man im Gedicht Ich habe eine gute Tat getan:

Mein Schreibtisch knarrt, Ich weiß, er will mich umarmen.

Im Gedichtband Der Weltfreund formuliert Franz Werfel sein literarisches Kredo, das die gesellschaftsethischen Ideen zum Ausdruck bringt: den tiefsten Glauben an das Gute, das Streben nach Verbrüderung und Vereinigung und die Bereitschaft, sich für diese Ziele einzusetzen. Besonders aufnahmefähig für das verborgene Potential des Expressionismus, erzielt der Dichter einen Durchbruch durch die Grenzen des egoistischen Selbst-Bereiches und überwindet die territoriale und zeitliche Abgeschlossenheit des Selbstempfindens. Die Konzepte des Eigenen und des Fremden, so wie sie sich dabei realisieren, weisen eine ethische Herkunft auf. Die Überwindung des Fremden erfolgt laut dem Dichter durch „eine gute Tat", die in Kettenreaktion „Tausend gute Taten" hervorbringt und dadurch zur Auflösung von individuellen Grenzen und zur Ausdehnung des „Wir"-Bereiches führt:

Ich habe eine gute Tat getan, Voll Freude und Wohlwollens bin ich Und nicht mehr einsam, Nein, nicht mehr einsam.

Wie oben erwähnt, ist das Eigene durch die starke Präsenz und fast unwiderstehliche Kraft geprägt. Es drängt sich nur die Frage auf, ob es den Ist-Zustand widerspiegelt oder eher ein gewünschtes und angestrebtes, zugleich aber auch schwer erreichbares Ideal ausdrückt. Ist es nicht

lediglich die Antizipation von Verbrüderung, Menschlichkeit und Weltfrieden? Am Ende des Gedichtes An den Leser kommt ein Alarmsignal, indem die Verwirklichung des idealen Szenarios plötzlich als ferne Möglichkeit entlarvt wird:

O könnte es einmal geschehen,

Dass wir uns, Bruder, in die Arme fallen!

In diesem frühen Gedicht von Franz Werfel wird das Wort „fremd" nur im Vorübergehen in Bezug auf „die schüchternen Gouvernanten im fremden Familienkreis" erwähnt. Die Präsenz des Fremden wird aber mit der Zeit immer spürbarer, sein verbaler Ausdruck — immer prominenter und seine Rolle — immer wichtiger.

III

Bei näherer Betrachtung lässt sich schon früh ein prekäres Gleichgewicht zwischen der Empfindung des universalen Eigenen und der totalen Entfremdung feststellen. Von diesen zwei Polen nähert man sich im Laufe der Zeit immer mehr dem Letzteren an. Ein wichtiges Merkmal der Suche nach dem eigenen „Ich" (oder, eher gesagt, nach dem eingebüßten „Wir") auf der Welt im schwankenden Gleichgewicht besteht darin, dass der Verlust des global konzipierten Selbst-Bereiches mit der Entfremdung auf der ebenso globalen Ebene droht.

Das Potential für die Entdeckung und Entwicklung des Fremden ist schon in der Seele des lyrischen Ich enthalten, inmitten des eigenen psychischen Apparates8 eingepflanzt. Dieses verborgene Potential wird im Gedicht Wo ist... erschlossen, das zur gleichen Zeit im Band Der Weltfreund erscheint und einen profunden Einblick ins Innerste des SelbstBereiches, in die komplexe Seelenlandschaft der schreibenden Instanz gewährt. Das Gedicht-Ich „trägt viel in sich": fremde Orte und fremde Zeiten. Dabei werden die zwei Pole, zwischen denen die schreibende Instanz auch später balancieren wird, auf wunderschöne Art und Weise im Wort „fremdeigen" zusammengebracht. Es drückt die synkretische Einheit des Eigenen und des Fremden aus, was an sich als „linguomentales Phänomen"9 betrachtet werden kann:

Ich trage viel in mir.

Vergangenheit früherer Leben,

Verschüttete Gegenden,

Mit leichten Spuren von Sternenstrahlen.

8 Bhabha H. Die Verortung der Kultur. Tübingen, 2000. S. X.

9 Береснева В.А. Лингвистический синкретизм как лингвомыслительный феномен (на материале грамматической категории времени в немецком языке) // Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2013. № 1. С. 103.

Oft bin ich nicht an der Oberfläche,

Hinabgetaucht in fremdeigene Gegenden bin ich.

Ich habe Heimweh.

O Reste, Überbleibsel, o vergangene Vergangenheit!

Die Fremdheit, die das lyrische Ich in sich entdeckt und anerkannt, ist mehrdimensional und sowohl im spezifischen Raum-, als auch im Zeitempfinden verwurzelt. Sie ist teilweise auf die Herkunft des Dichters, seine Existenz zwischen den Kulturen und seinen inneren Bezug auf die Geschichte des hebräischen Volkes zurückzuführen, — etwas, was zur gleichen Zeit nah und fern, vertraut und mysteriös vorkommt. Die Konfiguration des Fremden, so wie sie in diesem Gedicht erläutert wird, kann jedoch auch für jeden einzelnen Menschen gelten, weil er in den Tiefen der Seele größere geokulturelle Dimensionen der räumlichen Selbstwahrnehmung und globale Referenzpunkte des kollektiven Gedächtnisses trägt. Das Heimweh, von dem das lyrische Ich gefoltert wird, ist ebenfalls zwiespältig: Einerseits ist es biographisch begründet und mit der Gestalt eines ewigen Fremdlings, eines Vertreters der hybriden Kultur auf der Suche nach der geistigen Heimat verbunden; andererseits geht es um die transzendentale Heim- und Heimatlosigkeit, wobei man weder in sich selber noch in den Anderen ein Zuhause finden kann. Diese Erfahrung wird der Dichter später in der Zeile: „Niemals im Andern, nie im Ich zu Hause" — im Gedichtband Einander ausdrücken.

Im Gedicht Wo ist... koexistieren das Eigene und das Fremde zwar noch relativ friedlich in der Seele des lyrischen Ich, enthalten aber einen geheim angelegten Sprengstoff. Es vergeht nicht so viel Zeit, bis er unter dem Einfluss der erschütternden Ereignisse der Epoche explodiert. Der entscheidende Antrieb dazu kommt gleichermaßen von der literarischen Szene und von der außerliterarischen Realität.

Der Beginn des 20. Jahrhunderts markiert eine wichtige Zäsur als Zeit des Umbruches in allen Lebensbereichen. Es wird eine neue Herangehensweise an die Weltgliederung in das Eigene und das Fremde entwickelt, die zu den anthropologischen Universalien gehört und für jeden Menschen und jede Gemeinschaft typisch ist. Die neue Zeit zeichnet sich durch die Zuspitzung der Gegensätze und totale Entfremdung im soziologischen, anthropologischen und theologischen Aspekt aus. „Der nicht-brüderliche Zustand der Welt", wenn man sich des Ausdrucks von N. Fjodorow bedient, wie er im Artikel von Ju.W. Denisowa interpretiert wird10, kommt wesentlich zum Vorschein. Das Ich empfindet sich äußerst unbequem in der neuen Welt und beginnt, sie noch mehr zu verfremden,

10 См.: Денисова В.Ю. "О способности письма быть графическим изображением духа времени" (Н.Ф. Федоров и Н.В. Гоголь) // Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2013. № 1. С. 37.

um überleben zu können11. Das Empfinden des Fremden wird vom ganzen vorangehenden Diskurs übernommen und von der literarischen Avantgarde auf solche Weise bearbeitet, dass die Fremdheit als ontholo-gisch notwendiger Zustand im Expressionismus aufgefasst wird. Die Fremderfahrung wird zur Triebkraft vieler struktureller und stilistischer Mechanismen, die die sprachliche Realisation von den wichtigsten Problemen und Motiven der Werfelschen Lyrik ermöglichen.

Im Laufe der Zeit wird die Auseinandersetzung mit der Fremdheit immer profunder. Es handelt sich nicht mehr darum, dass der Schriftsteller den vorherrschenden literarischen Tendenzen seinen Tribut zollt und die Stimmung des Expressionismus meisterhaft erfasst, sondern darum, dass er sich zunehmend auf das Fremde an den aktuellen Ereignissen und Erfahrungen der Epoche besinnt. Die Fremdheit ist kein drohendes Abstraktum mehr, sie nimmt konkrete Formen an. Vor diesem Hintergrund wird in ein Gedicht von Franz Werfel veröffentlicht, das als Apotheose des Fremdseins klingt, — Fremde sind wir auf der Erde alle. Vor den Augen des Lesers entstehen erschreckende apokalyptische Bilder, und in Form einer biblisch klingenden Prophezeiung deklariert der Dichter die vorherrschende Weltanschauung und Weltempfindung seiner Zeit als allumfassende, totale Fremdheit.

Dieses Gedicht fasst alle wesentlichen Facetten des Fremdseins zusammen, die später im Werfelschen Werk weiter entwickelt werden, und kann in diesem Sinne als wegweisend betrachtet werden. Es thematisiert die Existenz außerhalb des eigenen Bereiches sowohl in der globalen, als auch in der lokalen Interpretation dieses Begriffes. Der Mensch ist dazu verurteilt, sich in die Rolle eines unwillkommenen Gastes auf der Erde und im eigenen Land zu versetzen und sich überall unbequem und unbehaglich — fehl am Platze — zu fühlen. Das akute Problem des „los"-Zu-standes, der seinen prägnantesten Ausdruck in der Heim- und Heimatlosigkeit findet, wird aufgeworfen. In Anbetracht der Tatsache, dass das Haus im Endeffekt eine kosmische Struktur darstellt und als Quelle der Weltpolyphonie dient, kennzeichnet der Zerfall des Hauses eine existentielle Katastrophe:

Und das Haus ist, dass es uns zerfalle.

Ein weiterer, nicht zu übersehender Aspekt des Fremdseins ist das Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit. Unter verschiedenen Umständen werden die Fragmente der Wirklichkeit vom wahrnehmenden Subjekt als organisch bzw. nicht organisch, typisch bzw. untypisch, zugehörig bzw. nicht zugehörig empfunden und beurteilt. Das Individuum pflegt, sein

11 In diesem Zusammenhang schreibt Friedrich Nietzsche von „der Umformung der Welt, um es in ihr aushalten zu können" (Nietzsche F. Die Unschuld des Werdens. Der Nachlass. Stuttgart, 1956. Bd 1. S. 82, 195).

exklusives oder nicht-exklusives Recht auf einzelne Aspekte der Realität festzulegen, ob materielle oder immaterielle, und durch diesen Aneignungsakt die Grenzen seiner Identität und den Bereich seines Daseins zu markieren. In der neuen Welt, deren Konturen sich im Gedicht Fremde sind wir auf der Erde alle abzeichnen, wird dieses Recht dem einzelnen Menschen und sogar der ganzen Menschheit verweigert:

Wer zum Sein noch Mein sagt, ist betrogen.

Die Gefahr der Enteignung droht dem Individuum nicht nur in Bezug auf einzelne Aspekte der Wirklichkeit, sondern auch in Bezug auf die globale Weltwahrnehmung. Sobald der Mensch mit der Wahrscheinlichkeit konfrontiert wird, das Universum nicht mehr als eigen und einheitlich ansehen zu dürfen, wird diese Vision auch auf seinen eigenen Körper und seine Seele projiziert. Es zerfällt die einst unerschütterliche Einheit der Persönlichkeit. Die Körperteile und ihre Funktionen werden paradoxerweise entfremdet:

Selbst der Schlag des Herzens ist geliehen!

Wie in den eklatantesten Beispielen der expressionistischen Lyrik bei Gottfried Benn, Alfred Lichtenstein, Johannes Becher und anderen Dichtern, wird ein Teil vom Ganzen im wortwörtlichen Sinne entfremdet12. Die traditionelle Synekdoche erfährt vor den Augen des Lesers radikale Veränderungen, indem die Trennung des Teils vom Ganzen absolutisiert wird und der abgerissene Teil völlig selbständig zu funktionieren beginnt.

Es stellt sich heraus, dass die Verbundenheit, die gleichzeitig in den parallel entstandenen Gedichten von Franz Werfel verherrlicht und angestrebt wird, angesichts der aufziehenden Krise eine Todesgefahr in sich birgt. Die Fremdheit dringt in alle Erscheinungsformen des Eigenen ein und verseucht jeglichen Annäherungs- und Vereinigungsversuch. Was die Menschen nur antasten, was sie sich anzueignen bemühen, was sie ins Innerste des Selbst-Bereiches einzubeziehen suchen, ist zum Scheitern verurteilt:

Fremde sind wir auf der Erde alle,

Und es stirbt, womit wir uns verbinden.

In dieser Konfiguration erscheint das Fremde in Form des globalen Bösen, dessen Triumph vorherbestimmt ist. Es ist bemerkenswert, dass das Konzept des Fremden mit der Poetik der Vorbedeutungen13 aufs Engste verknüpft wird, die bei der Verarbeitung der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart untergründig die künftigen katastrophalen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts vorausahnen lässt. Im Zusammenhang

12 См.: Пестова Н.В. Лирика немецкого экспрессионизма: профили чужести. Екатеринбург, 1999. С. 253.

13 См.: Зусман В.Г. Диалог и концепт в литературе. Н. Новгород, 2001. С. 35.

mit dem globalen Bösen taucht das Motiv des Schuldbewusstseins auf, das sich später wiederholt im Werfelschen Schaffen findet.

In der Lyrik von Franz Werfel wird also ein langer Weg durchgemacht — vom Verlust des allumfassenden Eigenen zur totalen Fremdheit, späterhin aber zurück zur Neuentdeckung und Neukonzipierung des Eigenen. Die späteren Gedichte zeugen von Frömmigkeit und Gottesgläubigkeit. Anstatt der weltumarmenden Geste wendet sich der Schriftsteller der Welt mit Ehrfurcht und Erlösungshoffnung zu. Es ist das Eigene, das ebenso intensiv und universal empfunden wird, zugleich aber auch neue, religiös bedingte Formen annimmt und in mehrfacher Hinsicht tragische Schattierungen erwirbt.

IV

Ziel dieses Beitrags war es, eine Übersicht über die Konfiguration des Eigenen und des Fremden in der Lyrik von Franz Werfel zu geben. Obwohl die Heraussonderung dieser Universalien logischerweise eine Weltgliederung voraussetzt, sind die frühen Gedichte des Autors durch die Totalität der Erfahrung gekennzeichnet, die im Laufe der Zeit wesentliche Metamorphosen durchmacht und vom universalen Eigenen zum allumfassenden Fremden umgeschmolzen wird. Die Fremdheit tritt dem Leser im Geiste des Expressionismus in vielfältigen Manifestationen entgegen, die im vorliegenden Beitrag skizzenhaft angedeutet wurden. Das Eigene wird später in der religiösen Dichtung zurück erworben, wenn auch umgedeutet und umgedacht. In den Romanen entwirft Franz Werfel neue Schnittflächen der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die jedoch in der Totalität der lyrischen Erfahrung und in der ethisch-religiösen Grundlage der konzeptuellen Opposition Anfang nehmen. Auf dieser Stufe organisieren das Eigene und das Fremde den Innenraum im erzählerischen Werk sowohl in der horizontalen Schnittfläche mit mehreren ineinander verwobenen Ebenen, als auch in der vertikalen Schnittfläche, die auf der Suche nach dem Eigenen weg von „Unten" und nach „Oben" führt. Als system- und sinnbildende Konzepte14 bergen das Eigene und das Fremde im literarischen Oeuvre von Franz Werfel aber noch viele Geheimnisse, deren Entschlüsselung neue Deutungsdimensionen entbinden kann.

Literaturauswahl

Abels N. Franz Werfel. Reinbek; Hamburg, 1990.

Bhabha H. Die Verortung der Kultur. Tübingen, 2000.

Faszination und Schrecken des Fremden / Hrsg. R.-P. Janz. Frankfurt am

Main, 2001.

14 См.: Опарина Е.Ю. "Свое" и "Чужое" в художественном мире Ф. Верфеля: Дисс. ... канд. филол. наук. Н. Новгород, 2009.

Martini F. Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 9. Aufl. Stuttgart, 1958.

Nietzsche F. Die Unschuld des Werdens. Der Nachlass. Stuttgart, 1956. Bd 1. S. 82, 195.

Werfel F. Zwischen Oben und Unten: Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge. München; Wien, 1975.

Береснева В.А. Лингвистический синкретизм как лингвомыслительный феномен (на материале грамматической категории времени в немецком языке) // Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2013. № 1.

Денисова В.Ю. "О способности письма быть графическим изображением духа времени" (Н.Ф. Федоров и Н.В. Гоголь) // Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2013. № 1.

Зусман В.Г. Диалог и концепт в литературе. Н. Новгород, 2001.

Зусман В.Г. "Вникание / вчувствование" как концепт австрийской культуры // Вопр. филологии. 2004. № 1 (16).

Опарина Е.Ю. "Свое" и "Чужое" в художественном мире Ф. Верфеля: Дисс. ... канд. филол. наук. Н. Новгород, 2009.

Павловская А.В. Дороги России — судьба России // Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2012. № 3.

Пестова Н.В. Лирика немецкого экспрессионизма: профили чужести. Екатеринбург, 1999.

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Тер-Минасова С.Г. Язык и межкультурная коммуникация. М., 2000.

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