УДК 81-2
Н. В. Любимова
профессор, кандидат педагогических наук, профессор кафедры лексикологии и стилистики немецкого языка ФНЯ МГЛУ; e-mail: natalju@yandex.ru
АЛЬПИЙСКИЙ ДИСКУРС В ПОЭТИЧЕСКОЙ КОММУНИКАЦИИ И В ПОЛИТИКЕ
В статье рассматриваются характерные особенности швейцарского альпийского дискурса в поэтической коммуникации и политике. Анализ научных исторических и публицистических текстов показывает, что для швейцарцев Альпы - это не только топографическая данность, но и основа идентичности. В художественной литературе альпийский ландшафт объективируется как литературное пространство, формирует мотивную структуру произведения, получает символическое значение. Важно, что альпийский дискурс демонстрирует взаимодействие названных сфер коммуникации.
Ключевые слова: дискурс; литературное пространство; мотив; граница; идиллия; стереотип; архетип; символ; национальная идентичность.
Lyubimova N. V.
Ph. D., Professor Department of German Lexicology and Stylistics, German Faculty, MSLU; e-mail: NataLju@yandex.ru
THE ALPS FROM THE POETIC AND POLITICAL PERSPECTIVE
The article discusses characteristic features of the Swiss Alpine discourse in poetic communication and in politics. An analysis of historical scientific and journalistic texts shows that the Alps are not only a geographical area for the Swiss, but also the pivot of national identity. In fiction the Alps are often objectified as a literary space, serve to build the motivic structure of the text and tend to acquire a symbolic meaning. It is stressed that the Alpine discourse reveals how the two chosen spheres of communication interact.
Key words: discourse; literary space; motive; border; idyll; stereotype; archetype; symbol; national identity.
DIE ALPEN AUS POETISCHER UND POLITISCHER SICHT
Der kleine Walther Tell fragt seinen Vater: «Giebts Länder, Vater, wo nicht Berge sind?» [23, S. 125]1. Diese naive Frage führt in die ernste Problematik ein: Die Alpen als literarischer Raum und als politisches Argument. Die Alpen erscheinen in künstlerischen und publizistischen Texten oft und zu verschiedenen Zwecken. Das scheint heute selbstverständlich, aber es gibt in diesem Zusammenhang eine
1 Hier und weiter ist in angeführten Zitaten die Orthographie der Quelle erhalten. - N. L.
nichtliterarische Voraussetzung: Die Wahrnehmung des literarischen Alpenraums war von Anfang an von der Wahrnehmung der realen Alpen abhängig1.
Im Laufe von Jahrhunderten wurden die Berge schlechthin als etwas Furchtbares und Bedrohliches wahrgenommen (montes horribiles; locus terribilis). Sie bildeten eine natürliche Grenze, deren Überwindung mit schrecklichen Gefahren verbunden war. So wurden die Alpen auch auf der italienischen Seite wahrgenommen, «nämlich als Barriere oder Mauer, die Italien vor dem Norden schützte. <...> Diese trennende Funktion der europäischen Alpen blieb bis zur Aufklärung eine wichtige Vorstellung» [19, S. 23].
Mit der Zeit wurden die Bildungsreisen zum Bedürfnis aufgeklärter Persönlichkeiten, doch die Überquerung der Alpen galt immer noch als ein riskantes Unternehmen auf dem Weg nach Italien. Aus dieser Zeit stammen viele Darstellungen der Alpen in Reisenotizen, Briefen und Tagebüchern. Die Beschreibungen der Berglandschaften haben zwangsläufig ambivalenten Charakter angenommen, was auch die modernen Alpenforscher als ein symptomatisches diskursives Merkmal der sog. alpinen Literatur betrachten: «Ambivalente Beschreibungen der Bergwelt sind für die alpine Literatur wie auch für den Alpinismusdiskurs generell typisch. <. > Nie sind die dabei negativ konnotierten Beschreibungen ausschliesslich negativ gemeint, stets wird auf sie zurückgegriffen, um das Faszinierende der Berge zum Ausdruck zu bringen» [11, S. 137].
Goethe unternahm drei Schweizer Reisen und schilderte in Dichtung und Wahrheit seine alpinen Eindrücke, die sich durch Emotionalität, Begeisterung, Sentimentalität in der Wortwahl auszeichnen. Gleichzeitig verraten sie enormen Respekt vor der unheimlichen Macht der Natur, die einen starken freiheitsliebenden Geist dazu bewegt, über die Grenzen seiner menschlichen Kräfte zu gehen. Formulierungen wie wilde Höhen; unabsehliche Schlucht; ein nie gesehener, nie wieder zu schauender Blick; die unerschütterlichen Felswände; mächtige und schreckliche Felsen; der mühselige Weg; der schäumende Fluss verleihen den entsprechenden Textpassagen einen etwas pathetischen Klang, der die Stimmung des Sturmes-und-Dranges erkennen lässt2.
1 Über die Modalitäten der Alpenwahrnehmung in verschiedenen Epochen siehe in: [2; 11; 18; 19; 22].
2 Ausführlicher über Goethes Schweizer Reisen siehe in: [16].
Auch der deutsche Aufklärer Johann Michael Afsprung, der 1782 die Alpen bereiste, hinterließ seine Erinnerungen, die genau diese Ambivalenz suggerieren:
Die Gebirge, welche diese anmuthige Thäler, besonders das große, einschließen, sind erschrecklich; wenn man zwischen ihnen hinwandelt, so fühlet man sich durch den Anblick dieser ungeheuren Massen fast vernichtigt, indem sie der Unmacht tiefes Gefühl im Menschen erwecken - nebst der Tugend und Unschuld der Einwohner sind sie die besten Bollwerke wider die alle menschliche Macht nichts vermag; und gegen welche die unüberwindlichen Festungen der Menschen nichts sind als Kartenhäuser [1, S. 67].
Für die deutsche Literatur wurde die Natur als motivbildendes und den literarischen Raum gestaltendes Element im 17. und besonders im 18. Jahrhundert wichtig. Im aufgeklärten 18. Jahrhundert hat man die Alpen als eine anziehende, liebliche Kulisse (locus amoenus) gesehen, als eine Idylle, die die Vorstellungen von entsprechend idyllischen Lebensformen hervorrief. Die überwältigende Größe und Schönheit der Alpenlandschaft wurde in die literarische Tradition mit Albrecht von Hallers Poem Die Alpen (1729) und mit Salomon Geßners Idyllen (1756) eingeführt.
Albrecht von Haller schuf das Lehrgedicht Die Alpen, das sich einer enormen Popularität erfreute und zur Entstehung der Bilder von dem tugendhaften Leben vor dem Hintergrund der Alpen - im so genannten alpinen Arkadien - beitrug. Hier übernahmen die Alpen ihre ausgesprochen wichtige Funktion: Sie markierten eine Grenze zwischen dem Lasterhaften, Verdorbenen und Sündhaften der Zivilisation einerseits und der frommen Lebensweise in der freien und wilden Natur andererseits. Am Rande sei bemerkt, dass eine solche Wahrnehmung des alpinen Lebens nicht nur die klischeehaften Vorstellungen der Europäer von den Alpenbewohnern festigte, sondern auch zum Nährboden für schweizerische Autostereotype wurde:
Sicher ist von Haller hauptverantwortlich dafür, dass in den wichtigsten europäischen Ländern ein Bild von der Schweiz und dem schweizerischen Volk entstand, dessen sittliche Reinheit Resultat des natürlichen, durch die Alpen von der sündhaften Welt abgeschirmten Lebensraumes war. <... > Dass von Haller mit seinen Gedanken nicht allein stand, sie vielmehr zeittypischer Ausdruck eines sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelnden neuen schweizerischen Selbstbildes sind, dafür bietet die schweizerische Publizistik bereits früh, noch vor dem Erscheinen des berühmten Alpengedichts, Beispiele [3, S. 177].
Noch ein Schweizer Autor, dem man seinerzeit reges Interesse für die Alpen verdankte und der die Illusion einer alpinen Idylle unterstützte, war Salomon Geßner. Goethe ließ Geßner in seinem wichtigsten biographischen Werk nicht unerwähnt: «Geßners höchst liebliche Idyllen öffneten eine unendliche Bahn» [9, S. 833]. Die Idyllen (1756) beginnen mit einem an den Leser gerichteten Vorwort, und schon hier erkennt man die Hallersche Antithese von Laster und Tugend:
Diese Idyllen sind die Früchte einiger meiner vergnügtesten Stunden; denn es ist eine der angenehmsten Verfassungen, in die uns die EinbildungsKraft und ein stilles Gemüth setzen können, wenn wir uns mittelst derselben aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter setzen. Alle Gemählde von stiller Ruhe und sanftem ungestöhrtem Glük, müssen Leuten von edler Denkart gefallen; und um so viel mehr gefallen uns Scenen die der Dichter aus der unverdorbenen Natur herholt, weil sie oft mit unsern seligsten Stunden, die wir gelebt, Ähnlichkeit zu haben scheinen. Oft reiß ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüth allem dem Ekel und allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzükt, ganz Empfindung über ihre Schönheit, bin ich dann glüklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter und reicher als ein König ... [8, S. 5-6].
Man darf Jean-Jacques Rousseau nicht übergehen, denn er hat mit dem Briefroman Julie oder Die neue Heloise: Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen (1761) einen wesentlichen Beitrag bei der Lösung des Problems der Ausfüllung des literarischen Raums mit Naturobjekten geleistet. Jean-Jacques Rousseau beeinflusste die Entwicklung des Naturgefühls und sein Roman wurde «zum allgemeinen Vorbild des sentimentalen Naturerlebnisses» [21, S. 21] etabliert:
All die Gefühle, in denen jeder Empfindsame die Erfüllung seiner eigenen Natursehnsucht erkannte, waren untrennbar mit den Schauplätzen des Rousseauschen Romans verknüpft, in jedem Leser entstand der Wunsch, selber an denselben Orten zu wandern, um auch so tief und leidenschaftlich zu empfinden wie St. Preux. Es begann eine Zeit der Schweizerreisen, der Wahlfahrten zu den Stätten der „Nouvelle Heloise" in den Alpen [ebd.].
Selbst Goethe stand unter diesem Einfluss Rousseaus und schickte seinen Werther in der 1808 gedruckten Vorgeschichte zum eigentlichen Werther in die Alpen: «Ja, ich habe die Furka, den Gotthard bestiegen! Diese erhabenen, unvergleichlichen Naturszenen werden immer vor meinem Geiste stehen ...» [10, S. 290].
Es begann die Epoche der sog. Schweizbegeisterung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahm die Schweiz - nicht zuletzt durch die literarischen Bemühungen zahlreicher Autoren - zwei Existenzformen an: Nicht nur als reales Land, sondern auch als ideale Erwartung in den Köpfen der Reisenden. Dieses idyllisch konstruierte Modell wurde von den Alpenbewohnern sorgsam unterstützt und weiterentwickelt. Michail Schischkin hat diese Tatsache mit der ihm eigenen Ironie kommentiert:
Bereits in den 30er- und 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts begann man zu argwöhnen, ob nicht auch die Schweizer selbst das Ihrige dazu beitrugen, den Mythos über sich und ihr Land zu untermauern. An der Idylle, deretwegen die Touristen anreisten und die es nun mal leider Gottes nicht einmal in der Schweiz gab, wurde zielbewusst und sorgfältig herumgefeilt, um sie marktgerecht zu machen. Wo eine Reise in die Alpen zu einer Pilgerfahrt zu den ungetrübten Quellen der Menschheit, zu einem geistigen Erlebnis werden sollte, gaben sich die Gastgeber auch alle Mühe, die Kunden nicht zu enttäuschen. Die realen Schweizer verkauften sich an die leichtgläubigen Touristen als Schäfer und Schäferinnen im Naturzustand. Oder einfacher ausgedrückt: Viele reale Schweizer verdienten sich ihr Brot, indem sie als ideale Schweizer arbeiteten [24, S. 69].
Die beiden Schweizen koexistierten friedlich und tun es heute noch, indem sie sich gegenseitig nähren und ergänzen, obwohl die eine für den «internen Gebrauch» gedacht und die andere doch mehr für die Gäste des Landes bestimmt ist. Diese Lage der Dinge wurde und wird mit Hilfe einer besonderen Schicht Literatur unterstützt, die auf idyllische Bilder, illusorische Harmonie und mythenumwobene alpine Tugenden setzt. Dieser Stil rief bei ernst zu nehmenden Autoren schon immer Bedenken hervor, ausgenommen den Fall, die Beschaffenheit der Texte wäre parodistischer Natur. Im 19. Jahrhundert regte sich Gottfried Keller über die Möglichkeit der übertriebenen Folklorisierung der nationalen Literatur auf, indem er sich weigerte, die Bezeichnung Schweizer Literatur anzuerkennen1. Der Klassiker befürchtete die Möglichkeit, die nationale Literatur der Schweizer auf jene Gattung zu reduzieren, die einer der Helden aus dem Grünen Heinrich als Alpenrosenpoesie bezeichnet:
1 Keller, Gottfried. Brief an Ida Freiligrath vom 20.12.1880: «... während ich mich gegen die Auffassung, als ob es eine schweizerische Nationalliteratur gäbe, immer auflehne. Denn bei allem Patriotismus verstehe ich hierin keinen Spaß und bin der Meinung, wenn etwas herauskommen soll, so habe sich jeder an das große Sprachgebiet zu halten, dem er angehört.
Es gibt zwar viele meiner Landsleute, welche an eine schweizerische Kunst und Literatur, ja sogar an eine schweizerische Wissenschaft glauben. Das Alpenglühen und die Alpenrosenpoesie sind aber bald erschöpft, einige gute Schlachten bald besungen, und zu unserer Beschämung müssen wir alle Trinksprüche, Mottos und Inschriften bei öffentlichen Festen aus Schillers Tell nehmen, welcher immer noch das Beste für dieses Bedürfnis liefert. [13, S. 50].
Ausgerechnet aus demselben Grund schreibt der Protagonist aus Meinrad Inglins Schweizerspiegel (1938) eine vor Sarkasmus triefende Buchkritik für die Kultursparte der Stadtzeitung, indem er die niedlichen literarischen Exerzitien im Chaletstil verhöhnt:
Die bekannte hochverehrte Autorin unseres neuen Romans schildert die Schweiz im Chaletstil. Es geht so recht behaglich, so recht sauber, so recht freundlich zu. Wir zweifeln nicht, daß unsere Leser sich angeheimelt fühlen werden. Das Kleine bleibt klein, das Große auch. Die Vergangenheit wird anhand von Spinnrädern, Schulbüchern und Großmuttermärchen wachgerufen. Sie erwärmt das Herz. Die Gestalten lieben einander und ihr Ländchen. Ein inniges, sinniges, trautes Beisammensein. Vaterländchen! Heimatchen! Schweizlein! [12, S. 147].
Man braucht sich nicht zu wundern, dass ausgerechnet eine solche Darstellung der Berge in der Literatur ihren wesentlichen Beitrag zur Kommerzialisierung der alpinen Landschaft leistete, weil sie an der Verwandlung der Alpen in eine gewinnbringende Marke teilhatte. Hier genügt nur ein Beispiel - das erfolgreiche touristische Projekt Heidiland, inszeniert nach den Heidi-Romanen von Johanna Spyri.
GegenAnfang des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich alpine Motive auch im politischen Diskurs, nicht zuletzt dank den literarischen Bemühungen der schweizerischen und europäischen Autoren. Seit jener Zeit stößt man nicht selten auf schon längst bekannte und zum Teil strapazierte Bilder: Reine Natur und die Berge, die archetypische Qualitäten eines echten Schweizers und einer echten Schweizerin symbolisieren - Tugend und Tapferkeit, um die herum die übrigen Eigenschaften gefächert sind wie Einfachheit, Unschuld, Ehrlichkeit, Naivität, Treue, Biederkeit, Frömmigkeit, Mut, Freiheitssinn und Heldentum [6, S. 396]. Die Meinung Ida Freiligraths über die Novelle Ursula in einem Brief an Gottfried Keller bestätigt diese These:
Das ist ein wahrer Genuß, u. ich möchte von Ihren Erzählungen sagen sie seien wie Sie die Ursula schildern: gut wie das tägliche Brod, frisch wie sprudelnder Quell, u. rein wie die Luft Ihrer Berge. - Die Ursula ist
auch herrlich, u. hebt sich von dem meisterhaft gehandhabten historischen Hintergrund, mit ihren schlichten kernigen Naturen, deren Ehrlichkeit, Treue u. Liebe über Unglück, Irrwahn u. Wahnsinn den Sieg davon tragen, ganz plastisch ab [7].
Eine neue Phase in der Geschichte der Alpen-Idealisierung, begleitet von der Heroisierung der Vergangenheit der Schweiz, begann 1891 mit der Erfindung der 1.-August-Nationalfeier. Der Historiker Christoph Merki analysierte politische Publikationen in den schweizerischen Zeitungen zwischen 1891 und 1935, die im Zusammenhang mit der 1.-August-Feier erschienen waren. Seine Analyse hat ergeben, dass die Erwähnungen der Alpen und die Verweise auf die Schönheit der schweizerischen Landschaften in jener Zeit zu einem Topos wurden, was die Selbstwertung der Schweizer ebenfalls positiv beeinflusste: «Ein wesentliches Element in der ideologischen Bewirtschaftung des Schweizer Volkes durch die Bundesfeier stellen die Alpen dar» [20, S. 69]. Und weiter:
Das Ausmalen der Landschaftsschönheit der Schweiz, der Verweis auf die Berge bezwecken dasselbe: der Topos „schöne Natur" hebt das Selbstgefühl der Schweizer. Die 1.-August-Beiträge besonders der bürgerlichen Presse schildern den Liebreiz der Landschaft. Wie es die National-Zeitung, Bundesfeier 1922, ausdrückt: „Unser Patriotismus ist lyrisch gestimmte Topographie" [ebd., S. 67].
Nach der Meinung des Forschers wurden die Berge im politischen Diskurs des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zum Sinnbild des Staatsmachismo, der Eigenschaft, die erforderlich ist, um die autostereotypen Vorstellungen von einer sehr männlichen schweizerischen Identität, so Merki, zu untermauern: «Eine weitere Figur des Staatsmachismo ist der Berg. Er erscheint als Metapher: Hart wie der Granit seiner Felsen, trutzig und unverrückbar, tritt der Schweizer auf!» [ebd., S. 57]
Selbstverständlich konnte man beim Konstruieren des Selbstbildes ohne Literatur nicht auskommen, die zur Quelle für die Visionen der vaterländischen Geschichte wurde. Das interessanteste alpine Konzept an der Schnittstelle der Literatur und Politik ist wohl der von Johann Caspar Lavater erfundene Name Schweizeralpenland. 1767 gab Lavater einen Gedichtsband unter dem Titel Schweizerlieder heraus. Eines der patriotischen Lieder ist an einen Schweizer gerichtet, der auf Reisen geht (Abschiedslied an einen Schweizer, der auf Reisen geht). Neben den Bezeichnungen Schweizerbund, Schweizersinn, Schweizerwanderstab, Schweizerblut und Schweizerpflug wird hier der später zum Symbol
erhobene Begriff Schweizeralpenland gebraucht, der expliziert, dass die Schweiz und die Alpen unzertrennlich sind und zusammen die Grundlage des Freiheitstopos bilden: Liebe zu den Alpen manifestiert die Sympathie mit der Schweiz als Allegorie der Freiheit (Felsenburg der Freiheit)1: «Nicht zu vergessen ist die Freiheit. Sie sei das Wahrzeichen des Schweizers ...» [20, S. 57].
Nihm, Bruder! unser Lebewohl,
Und schlage Hand in Hand,
Und reise, wie man reisen soll,
Im Schweizeralpenland!
Fühl auf dem Berge stolzem Haupt
Der tiefen Thäler Glück;
Die Freiheit, die kein Neid uns raubt;
Und Freude sey dein Blick [15, S. 365].
Das Konzept Schweizeralpenland wurde von den Politikern gern übernommen und sie nutzen es auch heute, wobei sie der Grundidee immer neue Sinne verleihen. Der Schweizer Historiker Gui Marchal bezeichnete Schweizeralpenland als eine imagologische Bastelei, die ihre Konturen in der Epoche der Nationalstaatenbildung angenommen hatte. Es war kein Zufall, dass die Schweizer Nation in politischen Ausführungen mitunter nicht als eine ethnische, sprachliche, kulturelle Einheit definiert wurde, sondern als ein Gebilde, das durch die vereinigende Kraft der Alpen zustande gekommen ist, die es vermocht haben, verschiedene Kulturen zur nationalen Harmonie zu führen:
Im Zeitalter der Nationalstaatenbildung, als „Nationalität" durch die Einheit von Sprache, Kultur, geschichtlicher Erfahrung und der Ethnie definiert wurde, kam das Konstrukt der Aufklärer der mehrsprachigen, verschiedene Kulturen umfassenden Schweiz mit ihren regional unterschiedlichen Geschichten entgegen. Ihre „Nationalität" definierte sich nun aus der prägenden Kraft der Alpen, welche allein hier die verschiedenen Kulturen zusammenführen und die verschiedenen Sprachen in einen höheren nationalen Einklang bringen konnte. Nicht Blut und „Rasse" bildeten die schweizerische „Nationalität", sondern das Bewusstsein einer Einheit auf höherem Niveau und der darauf beruhende Wille zum Zusammengehen. Die Schweiz definierte sich als „Willensnation" [17, S. 142-143].
1 «Diese Felsenburg der Freiheit! Hat sie keinen Winkel für mich?» Diese Worte wurden dem deutschen Pädagogen und Schriftsteller Heinrich Zschokke zugeschrieben, der die Schweizer Bürgerschaft angenommen hatte. Siehe [25].
Aber schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden die Alpen von den progressiven Publizisten als ein Bestandteil der nationalen Identität betrachtet:
Schon die bekannteste der schweizerischen Moralischen Wochenschriften, „Die Discourse der Mahlern" mit ihrer grosser Wirkung im gesamten deutschen Sprachraum, will 1721 programmatisch „die Tugend und den guten Geschmack in unsern Bergen" einführen. Bei Johann Heinrich Tschudi erscheint die Alpenlandschaft in den ersten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bereits als Bestandteil einer schweizerischen nationalen Identität. In seinen „Monatlichen Gesprächen" sind ihm 1715 die Berge Symbol schweizerischer Freiheit, einer Freiheit, die „mit so festen Mauren und Forteressen/ ich will sagen/ mit so hohen und fast unüberwindlichen Bergen verwahret ist". Deutlich ist die Entdeckung der Alpen hier mit dem Versuch verbunden, die Besonderheiten schweizerischer Identität zu beschreiben und zur Herausbildung eines schweizerischen Nationalbewusstseins beizutragen [3, S. 177].
Im Kapitel Massensymbole der Nationen seines Hauptwerkes Masse und Macht wies Elias Canetti darauf hin, dass es fehlerhaft sei, die richtige Definition für das Nationale schlechthin zu finden, wenn man den Nationen auf den Grund kommen will [4, S. 197]:
Wäre sie (die Definition. - N. L.) erst einmal da, so ließe sie sich gleichmäßig auf alle Nationen anwenden. Man nahm die Sprache her oder das Territorium; die geschriebene Literatur; die Geschichte; die Regierung; das sogenannte Nationalgefühl; und immer waren dann die Ausnahmen wichtiger als die Regel. [ebd.].
Als er dann auf die konkreten Völker zu sprechen kommt, geht Canetti auf die Schweizer und ihre Berge ausführlicher ein:
Allerdings haben sie (die Schweizer. - N. L.) ein Massensymbol gemein, das ihnen allen jederzeit vor Augen steht und unerschütterlich ist wie das keines anderen Volkes: die Berge. Von überall sieht der Schweizer die Gipfel seiner Berge [ebd., S. 204].
Diese Beobachtung findet durch die Idee aus dem Grünen Heinrich (1854/55) Gottfried Kellers Bestätigung:
So kann man wohl sagen, nicht die Nationalität gibt uns Ideen, sondern eine unsichtbare, in diesen Bergen schwebende Idee hat sich diese eigentümliche Nationalität zu ihrer Verkörperung geschaffen [13, S. 50].
Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Verweise auf die Alpen beinahe inflationär, und die alpinen ethnokulturellen Praxen wie Älplerfest, Alpaufzug, Höhenfeuer, Fahnenschwingen, Jodeln, Alphornblasen usw. haben in politisch relevanten Kontexten zusätzliche symbolische Sinne bekommen. Selbst im 20. Jahrhundert wurden die Alpen als das Fundament des heroischen Bildungsmythos der Schweiz betrachtet, wovon auch die Texte der politischen Publizistik zeugen, die in der oben erwähnten Abhandlung Chr. Merkis analysiert wurden:
„Das geschah in den grossen Tagen der Eidgenossenschaft, die wir alle kennen, den Tagen, in welchen der Schweizer es bewährte, dass eine Kraft in seiner Seele glühte, welche in ihrer Art nicht schwächer ist, als die Kraft, welche seine Berge gen Himmel trieb, dass die Kraft auch in seinen Adern rollte, welche in so eigentümlicher Stärke durch alle Erzeugnisse seiner Länder strömt. Das waren die Tage, die wie Sterne leuchten in unsere Geschichte hinein, wo der Schweizer Ehrenfestigkeit leuchtete in die treulose Zeit hinein wie ein Gestirn in dunkle Nacht, wo ihre Heldenkraft thronte über den Schlachtfeldern <...>." Diese „Vision von der Vaterländischen Geschichte" findet sich im berühmten Manifest der schweizerischen Scharfschützeneidgenossenschaft (1844) von Jeremias Gotthelf. Derartiges Gotthelfsches Vokabular und Pochen auf Kraftschwangerheit - nennen wir es Staatsmachismo - ist in den bürgerlichen l.-August-Artikeln bis ins Jahr 1935 allgegenwärtig [20, S. 57].
Heute sind die alpinen Motive im literarischen wie im politischen Diskurs keine Exotik mehr. Die Berge treten in manchen Texten als symbolische Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen richtig und falsch, zwischen gut und böse auf. Man kann sagen, dass auch im politischen Diskurs alpine Motive funktionalisiert wurden, was mit literarischen Traditionen korrespondiert. Dabei kann die Funktion als dem weitgehenden politischen bzw. ideologischen Ziel dienlich interpretiert werden: Einerseits können die Alpen als Versinnbildlichung für den unitarischen Staat stehen, andererseits können sie durchaus als Symbol der Polykulturalität auftreten. Von besonderer Bedeutung sind die Hinweise auf die Rolle der Alpen in der offiziellen defensiven Militärdoktrin der Schweiz (das Réduit)1. Die Spuren der Réduit-Ideologie, die für die Schweiz bis zum
1 «Das „Réduit nationale" steht als Inbegriff des Widerstands der Schweiz gegen das Dritte Reich. Es bezeichnet den Kern der Verteidigungsanlage, genauer die Alpenfestung zwischen Sargans, St. Maurice und dem Gotthard. Grundlage ist der in Auftrag gegebene Plan durch General Guisan zur Verteidigung der Schweiz. Er sieht vor, nicht eine solide Festung zu errichten, sondern das Land selbst zur
Ende des Kalten Krieges aktuell war, kann man in modernen literarischen Texten entdecken, denn der Alpenraum war in diese Doktrin einbezogen, mit seiner Topographie und seinen natürlichen Umständen wie Vegetation und Gesteinstypen, darauf weist explizit Chr. Duckart hin [5, S. 66]. Auch dadurch wird die ideologische Funktion der Landschaft realisiert.
In der modernen und postmodernen Literatur wird die Tradition fortgesetzt, die Alpen als literarischen Raum systematisch zu nutzen, wobei die beiden Dimensionen des Raums - die ästhetische und die politische -zur Geltung kommen. Die Funktion der Alpen als eines zeitgemäß modifizierten Heimatsymbols ist auch erwähnenswert, weil in diesem Fall ein modern interpretiertes, diskursbildendes Konzept in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Und noch eine Rolle, die den Alpen im literarischen Diskurs zugedacht wird, ist die eines Prüfsteins für Mut, körperliche Kraft, Charakterstärke und andere ausgeprägt maskuline Qualitäten, die bei der verzweifelten Suche nach der eigenen Identität besonders aktuell werden.
Der alpine Raum der Literatur ist vielgestaltig, polymorph und unerschöpflich, desto interessanter sind die Recherchen an den Schnittstellen zahlreicher Diskurse, die ihren Status, ihre Entfaltung und ihr Zusammenspiel den realen Alpen verdanken.
LITERATURVERZEICHNIS
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Festung werden zu lassen. Es gab hier zwei Strategien, die verfolgt wurden, der erste Plan sah vor das ganze Territorium der Schweiz mit einer Grenzverteidigung zu schützen, der zweite sah vor sich auf einen soliden Kern zu konzentrieren und dieses zu verteidigen.» [5, S. 65]
Вестник МГЛУ. Выпуск 6 (745) / 2016
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