HORIZON 5 (i) 2016 : I. Research : M. Khorkov : 183-193
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ÉTUDES PHÉNOMÉNOLOGIQUES
Doi: 10.18199/2226-5260-2016-5-1-183-193
PHÄNOMENOLOGIE AN DER GRENZE:
ZUR GESCHICHTE DER REZEPTION UND VERMITTLUNG
DER AXIOLOGIE MAX SCHELERS IN DEN WERKEN
VON TADEUSZ H. CZEZOWSKI (1889-1981)
UND LARISSA A. CHUHINA (1913-2002).
EINE FORSCHUNGSNOTIZ
MIKHAIL KHORKOV
PhD, Associate Professor, Senior Research Fellow, Institute of Philosophy, Russian Academy of Sciences, 109240 Moscow, Russia.
E-mail: mkhorkov@mail.ru
PHENOMENOLOGY AT THE BORDER: ON THE HISTORY OF RECEPTION AND MEDIATION OF MAX SCHELER'S AXIOLOGY IN THE WORKS OF TADEUSZ H. CZEZOWSKI (1889-1981) AND LARISSA A. CHUHINA (1913-2002). A RESEARCH NOTE
This article is written in the form of a brief research note and reports on the role and significance of the reception of Max Scheler's phenomenological philosophy of values in the axiology of Polish philosopher Tadeusz H. Czezowski (1889-1981) and in the works of his Russian student Larissa A. Chuhina (1913-2002), who played an important role in the studies in philosophical ideas of Max Scheler in Russia and Latvia during the Soviet period. Particular attention is paid to the fact that due to the influence of Czezowski Chuhina interpreted Max Scheler not so much as one of the founders of philosophical anthropology, but primarily as proposer of the original phenomenological theory of values. The emphasis is also made on a significant modification which Max Scheler's philosophy of values experienced in axiology of Czezowski and Chuhina.
Key words: Max Scheler, theory of values, phenomenology, axiology, Polish philosophy of the 20th century, Tadeusz H. Czezowski, history of reception of phenomenological theories in Russia and Latvia, Larissa A. Chuhina.
© MIKHAIL KHORKOV, 2016
ФЕНОМЕНОЛОГИЯ НА ГРАНИЦЕ: К ИСТОРИИ РЕЦЕПЦИИ И ОПОСРЕДОВАННОЙ РЕТРАНСЛЯЦИИ АКСИОЛОГИИ МАКСА ШЕЛЕРА В РАБОТАХ ТАДЕУША ИППОЛИТА ЧЕЖОВСКОГО (1889-1981) И ЛАРИСЫ А. ЧУХИНОЙ (1913-2002).
ИССЛЕДОВАТЕЛЬСКАЯ ЗАМЕТКА ХОРЬКОВ МИХАИЛ ЛЬВОВИЧ
Кандидат философских наук, доцент, старший научный сотрудник, Институт философии РАН, 109240 Москва, Россия.
E-mail: mkhorkov@mail.ru
Эта небольшая статья, написанная в форме краткой исследовательской заметки, сообщает о роли и значении рецепции феноменологической философии ценностей Макса Шелера в аксиологии польского философа Тадеуша Чежовского (1889-1981) и работах его русской ученицы Ларисы А. Чухиной (1913-2002), сыгравшей важную роль в изучении философских идей Макса Шелера в России и Латвии в советское время. Особое внимание уделяется тому, что благодаря влиянию Тадеуша Чежовского Л.А. Чухина стала интерпретировать Макса Шелера не столько как философского антрополога, но, прежде всего, как создателя оригинальной феноменологической теории ценностей. При этом акцент также делается на существенной модификации, которую испытала философия ценностей Макса Шелера в аксиологии как Тадеуша Чежовского, так и Л.А. Чухиной.
Ключевые слова: Макс Шелер, теория ценностей, феноменология, аксиология, польская философия XX века, Тадеуш Чежовский, история рецепции феноменологических теорий в России и Латвии, Лариса Чухина.
Trotz wachsender Kenntnisse der gegenwärtigen Historiker der Philosophie über die große Bedeutung der Phänomenologie bei der Entwicklung der Philosophie im 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa sowie für den Prozess ihrer Selbstidentifizierung auf nationaler und regionaler Ebene ist der Einfluss einzelner phänomenologischen Richtungen und Denker auf bestimmte Länder und Gruppen von Philosophen noch nicht allseitig geklärt. Wir wissen zwar, dass es neben der Husserlischen in vielfacher Verschränkung mit ihr auch andere phänomenologische Gedankenführungen rezipiert und präsent waren, aber es bedarf noch einer weiteren Prüfung, in wieweit sich bei den mittel- und osteuropäischen Philosophen Elemente verschiedener phänomenologischen Theorien und Ideen auswirkten. Diese Phänomene der Rezeption und Weiterentwicklung
haben ihre eigenen Merkmale, die nicht nur durch die sehr häufigen Änderungen der Staatsgrenzen und Veränderungen von Ideologien und politischen Regime, sondern auch durch innere Logik der philosophischen Entwicklung sowohl auf lokaler und internationaler Ebene zum Leben gebracht wurden. Manchmal erschienen unter diesen Bedingungen seltsame Kreuzungen und Vermischungen der phänomenologischen und nicht-phänomenologischen Schulen und Ideen, die offensichtlich nicht in allen Fällen als oberflächliche Eklektizität charakterisiert werden müssen. Weiter in diesem Beitrag versuche ich näher zu zeigen, wie diese typischen Merkmale und lokale Besonderheiten sich im Fall einer wenig bekannten Rezeption der phänomenologischen Philosophie von Max Scheler gezeigt haben.
Wenn wir — die berühmte Fragestellung Max Schelers in seinem Werk «Die Stellung des Menschen im Kosmos» (Scheler, 1976, 9) paraphrasierend («Fragt man einen gebildeten Europäer...») — einen philosophisch ausgebildeten Mittel- und Osteuropäer fragen, ob und — falls ja — was genau er über Max Scheler gehört hat, bekommen wir in den Fällen positiver Antworten eine vielfärbige Palette verschiedener Interpretationen, die einen guten Grund zu bezweifeln geben, dass man hier überhaupt über die gleiche Person und die gleiche Philosophie spricht. In einigen Ländern gilt er in erster Linie als Ethiker, in den anderen als ein philosophischer Anthropologe oder Wissenssoziologe. Einige halten ihn für einen Vertreter der katholischen Religionsphilosophie, für die anderen ist er ein Unterstützer des deutschen Kriegsnationalismus, oder des Pantheismus, oder Anhänger einer Philosophie der Geduld und des Pazifismus. Die gegenwärtige Rezeption Schelers, sehr oft an den Universitätsabteilungen der philosophischen Anthropologie oder Ethik von den anderen Philosophiegebieten isoliert, marginalisiert und didaktisch angepasst, stellt jedoch immer die Frage, ob und wie Philosophie im Allgemeinen und Phänomenologie im Besonderen ihr Interesse an diesen Philosoph zeigen müsste.
In den 1920er Jahren war die Situation bemerkenswert anders, vor allem in Mittel- und Osteuropa. Beispielsweise zeigte das große Interesse an der Schelers phenomenologischen Werttheorie die sogenannte Lemberg-Warschauer Schule (die sie als «Axiologie» übersetzte und interpretierte). Zwar ist diese Schule in der allgemeinen Geschichte der Philosophie als solche mit Phänomenologie insgesamt gar nicht oder ganz wenig assoziiert (in der Regel, berücksichtigt werden nur einige Aspekte der
Entstehung dieser beiden Schulen im Rahmen der österreichischen philosophischen Tradition), ist es jedoch wohl möglich, mit gutem Grund darüber zu sprechen, dass sie auch in den späteren Stadien ihrer Entwicklung von den einzelnen Strömungen der phänomenologischen Bewegung zu neuen Ansätzen inspiriert wurde.
Vielleicht am klarsten kann man diese Tendenz beispielsweise in den Werken von Tadeusz H. Czezowski (1889-1981) sehen. Dieser in Lemberg studierte und dann in Vilnius dozierte polnische Philosoph hat von Franz Brentano und Max Scheler die Idee übernommen, dass die ethischen Prinzipien und Werte in den Akten ihrer individuellen Realisierung apriorisch gegeben und darüber hinaus dem Bewusstsein evident sind, wenn auch nicht durch ein rationales logisches Denken als allgemeine Prinzipien aus den Gegebenheiten dieses Bewusstseins abgeleitet sein können:
Fundamentem metodologii etyki naukowej jest koncepcja doswiadczenia aksjologicznego. Terminy wyst^puj^ce w rozwazaniach etycznych nie rözni^ si§ pod wzgl^dem logicznym od terminöw pozostalych nauk doswiadczalnych, a struktura etyki ma byc analogiczna do struktury teorii empirycznych. (Smolicka 2010, 77)
Die Grundlage einer Methode der wissenschaftlichen Ethik ist Konzept der axiologischen Erfahrung. Die Begriffe erscheinen in ethischen Überlegungen nicht in Bezug auf die Logik der anderen experimentellen Wissenschaften, und die Struktur der Ethik ist keine Analogie zu der Struktur der Theorien der empirischen Wissenschaften.1
Während seiner Lehrtätigkeit an der Universität Vilnius (damals polnische Universität Wilna) in den 1920er und 1930er Jahren hat Czezowski diese Idee mehrmals wiederholt zum Ausdruck gebracht, selbstverständlich auch im Bezug auf Scheler (Czezowski, 1936; neu aufgelegt: Czezowski, 1989, 115-116; Wachowiak, 1997; Torczynska, 2013, 101). Leider kann die philosophische Tätigkeit Czezowskis an der Universität Wilna während der Vorkriegszeit nur mit Hilfe seiner ganz wenigen in den regionalen und lokalen philosophischen Periodika veröffentlichten Artikeln beurteilt werden. Seine Handschriften und wissenschaftliche Archive gingen während des Zweiten Weltkriegs in einigen wesentlichen Teilen anscheinend verloren. Zumindest im Czezowski-Nachlass, der heute an der Nikolaus-Kopernikus-Universität Torun aufbewahrt ist, gibt es zwar zahlreiche Materialien (vor allem offizielle Dokumente und Briefe) aus der Vorkriegszeit, die Czezowskis enorme Verwaltungstätigkeit an der Stefan-Batory-Universität in Vilnius
1 Aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt von Mikhail Khorkov.
und seine Aktivität in den polnischen philosophischen Gesellschaften ausführlich dokumentieren, aber leider sehr wenig nennenswerte philosophische Manuskripte und Publikationen der 1920-1930er Jahre (Czezowski, 1853-2012). Allerdings ist es immer noch möglich, auf der Grundlage von zeitgenössischen Berichten mit vollem Recht zu sagen, dass Czezowski die grundlegenden Prinzipien seiner früheren Philosophie auch in den Nachkriegsjahren beibehalten hat, wenn er schon als Professor für Philosophie an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Torun zu unterrichten begann. Dies wird klar und zweifellos durch die zahlreichen Veröffentlichungen seiner zweiten Lebenshälfte bestätigt (Czezowski, 1946a, 1946b, 1946c, 1948, 1949, 1959, 1965, 1969, 1989).
Die einzigartige Interferenz der phänomenologischen Axiologie Schelers und der logisch-gnoseologischen Prämissen und Methoden der Lemberg-Warschauer Schule in der Philosophie von Czezowski, der allgemein zwar als kein Phänomenologe, sondern als Vertreter der Lember-Warschauer Schule gilt, aber gleichzeitig viel aus der Wertethik Schelers in seine eigene philosophische Axiologie übernommen haben sollte (Torczynska, 2013, 101-102; Kovalchuk, 2014b, 12), hat Larissa A. Chuhina2 (geb. Stowbunik, 19132002) tief beeinflusst, die in den 1930er Jahren als junge russisch-weißrussische Studentin an der Universität Wilna bei Czezowski studierte (Kovalchuk, 2014a, 343; Kovalchuk, 2014b, 11). Unter ihren anderen philosophischen Lehrer waren auch Religions- und Kulturphilosoph Bogumil Jasinowski (1883-1969) und Henryk Elzenberg (1887-1967), der in Polen als einer der Gründer und Befürworter der Axiologie gilt (Kovalchuk, 2014a, 343-344; Kovalchuk, 2014b, 12). Trotz politischer und geschichtlicher Turbulenzen der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit konnte L.A. Chuhina sein Interesse an Schelers Phänomenologie in ihren Promotions- und Habilitationsschriften (1967 Leningrad, 1984 Moskau) und in ihren sonstigen russischen (Chuhina, 1966, 1968, 1980, 1991, 1994, 1996a), englischen (Chuhina, 1993, 1996b) und lettischen (Chuhina, 1970, 1995) Publikationen sowie in ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit in Riga (Kovalchuk, 2014a, 346; Kovalchuk, 2014b, 15-16) weiterentwickeln. Dank der Aktivität von Schülern und Kollegen, vor allem von Frau Prof. Dr. Maija Küle und Dr. Svetlana Kovalchuk,
2 Eine solche «formalisierte» Transkription ihres Namens verwendet man in der Regel in englischsprachigen Publikationen und allgemeinen Bibliographien. Daher tritt er auch hierin auf, um die bibliographische Dissonanzen zu vermeiden. Aus Gründen der Phonetik scheint mir jedoch die Transkription Cuchina mehr korrekt zu sein.
die zahlreiche Dokumente aus dem Nachlass der Philosophin publizierten und im Zusammenhang mit ihrem Jubiläum im Jahr 2013 eine Reihe von Veröffentlichungen gemacht haben (Kovalchuk, 2014a; Kovalchuk, 2014b), wird der Name von L.A. Chuhina und ihren Beitrag in die Entwicklung der Phänomenologie in Osteuropa nicht vergessen.
Im Bezug auf die Scheler-Rezeption bei Chuhina muss man zunächst sagen, dass sie bei der Beschreibung der Schelers Axiologie immer ihre phänomenologischen Wurzeln ausdrücklich betonte (Chuhina, 1966; 1994, 380). In ihrem Nachwort zur russischen Übersetzung der ausgewählten Werke von Max Scheler (Chuhina, 1994) geht sie z.B. davon aus, dass die Werte und Wertphänomene bei Scheler immer mit Hilfe seiner phänomenologischen Methode untersucht wurden, die ihm erlaubte, diese Phänomene in ihrem konkreteren persönlichen Vollzug als der Welt eines Menschen zugehörige Aktwesenheiten zu verstehen (Chuhina, 1994, 380). Dieser Ansatz bietet einen Einblick in das Verständnis der phänomenologischen Grundlagen nicht nur Scheler'scher Wertlehre und Ethik, sondern auch seiner philosophischen Anthropologie, Wissenssoziologie, Religions- und Geschichtsphilosophie. Dabei nennt sie die Wertlehre Schelers — offensichtlich dem üblichen Begriff von Czezowski (Czezowski, 1936; Smolicka, 2010, 6, 8, 12, 14-16, 20, 23-24, 77, 88 ff.) nachfolgend — «Axiologie» (Chuhina, 1966; Chuhina, 1968; Kovalchuk, 2014a, 48). D.h. sie bezeichnet sie fast ausschließlich mit dem Wort, das in den Werken von Scheler kaum auftaucht. Der Interpretation von Czezowski folgt Chuhina offensichtlich auch in dem Versuch, Schelers «Axiologie» als eine in erster Linie praktische, nicht theoretische philosophische Disziplin zu verstehen (Chuhina, 1994, 380381). Dieses Verständnis divergiert aber schon erheblich mit den theoretischen Zielen, die Scheler tatsächlich verfolgte, durch die Entwicklung seiner Werttheorie zu erreichen (Henckmann, 1998, 84, 115-125).
Im Laufe der Zeit werden auch gewisse Unterschiede zwischen Chuhina und ihrem Lehrer Czezowski sichtbar. Unter Beibehaltung der grundlegenden theoretischen Korrelationsstruktur zwischen der Welt der Werte und anderen Bereichen des Wissens und des Verhaltens, die in den Werken von Czezowski vorgeschlagen und entwickelt wurde, beginnt sie in ihren Texten immer wichtigere Rolle der Kultur bei der Umsetzung von Werten zu unterstreichen (Chuhina, 1968; Kovalchuk, 2014a, 176). Besonders betont sie dabei die unersetzliche Rolle der humanistischen geistigen Kultur (Bildung, Religion, Philosophie, klassische Literatur und bildende Kunst). Das Einbeziehen des Menschen
in die Sphäre der Werte erfolgt durch die Kultur und nur in der Kultur. Die Kultur ist hier also vielmehr als Umschlagstelle zwischen Werten und Einzelmenschen zu verstehen. In der weiteren Entwicklung dieses Themas kommt sie zum Schluss, dass die Personwelt (im Schelerschen Sinne) vom geistigen Leben als Kultur wertsetzend sei (Kovalchuk, 2014a, 49). Aber eine solche Interpretationsperspektive verletzt offensichtlich das Prinzip der Autonomie und Unmittelbarkeit der Werte, das Czezowski konsequent verteidigte. Es ist schwierig, mit Sicherheit zu sagen, was genau eine solche Distanzierung L.A. Chuhinas von den ursprünglichen Prinzipien der Lemberg-Warschauer Schule beeinflusste (von einem philosophischen Standpunkt aus gesehen). Jedoch scheint mir höchstwahrscheinlich, dass es in diesem Fall über eine doppelte Wirkung auf die Philosophin sprechen muss: Erstens, es geht hier offensichtlich um Einfluss ihres anderen Lehrers Bogumil Jasinowski; zweitens, um Einfluss der Theorie der Wertträger von Max Scheler.
Das heißt, dass es bei Chuhina auf jeden Fall schon um eine vermittelte Interpretation, man konnte sogar sagen, um eine schulbedingt vermittelte Interpretation geht, die immer von einem breiteren und den anderen Denkströmungen offenen Phänomenologie-Verständnis ausgeht. Das bedeutet aber nicht, dass die Grenzen der Phänomenologie bei konsequenter Durchführung dieser Interpretationsstrategie völlig verwischen. Im Gegenteil, diese Methode unterstreicht deren grundlegende Bedeutung für die Bewertung des philosophischen Gesamtprojektes von Scheler. Mit diesem methodischen Vertrauen ist in den Werken von L.A. Chuhina auch die konstanten Verweise auf die Tatsache verbunden, dass Scheler selbst in seiner typischen Art und Weise Phänomenologie regelmäßig grenzüberschreitend verwendete und damit neue philosophischen Richtungen eröffnete. Bemerkenswert dabei ist, dass sie in dieser kreativen Denkbeweglichkeit keinen Mangel, keine Schwäche und keinen Eklektizismus des deutschen Philosophen sieht. Damit nimmt Chuhina innerhalb der Rezeptionsgeschichte der Scheler'schen Phänomenologie in Russland und Lettland einen ganz besonderen Platz ein, soweit sie Scheler nicht nur als einen «philosophischen Anthropologen» (also, der gleichen Gruppe zusammen mit Helmuth Plessner, Arnold Gehlen und Michael Landmann zugehörigen Denker), sondern auch — und vor allem — als einen Phänomenologen, Erkenntnistheoretiker, Philosophen der Wertethik und der Religion interpretieren versuchte.
Ich denke, dass dieses Beispiel der Max-Scheler-Rezeption, unabhängig davon, wie lokal es als eine philosophiehistorische Studie im Format einer case study scheinen mag, zeigt jedoch im Allgemeinen zwei ganz typische und wichtige Tendenzen der Gesamtentwicklung der Phänomenologie, die in Zentral- und Osteuropa klar nachvollziehbar sind. Erstens, es waren nicht immer die sogenannten «reinen» Schul-Phänomenologen, und tatsächlich es mussten nicht immer sie sein, die Phänomenologie in den mittel- und osteuropäischen Ländern förderten und neue Generationen von Studierenden inspirierten, sich mit ihr zu beschäftigen. Ohne Berücksichtigung des philosophischen Engagements und der pädagogischen Anziehungskraft dieser Persönlichkeiten und ihrer Werke wäre die Geschichte der Phänomenologie in den einzelnen Ländern sowie in der gesamten Region nicht konsistent.
Zweitens, Phänomenologie entwickelte sich in diesen Ländern nicht als eine national geprägte und national geschlossene Denkrichtung, sondern verstand sich immer als eine grenzüberschreitende und überregionale Bewegung. Man könnte sagen, sie war immer als ein internationales, politische und disziplinäre Grenze überwindendes Netzwerk philosophischer Kommunikation und aktueller Denkpraxis organisiert. Uns bleibt nur hoffen, dass sie sich auch weiterhin in dieser Gestalt entwickeln wird.
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