HORIZON 6 (2) 2017 : I. Research : A Gniazdowski: 66-81
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ÉTUDES PHÉNOMÉNOLOGIQUES
ASYMPTOTE DES LEBENS.
DIE PHÄNOMENOLOGIE EDMUND HUSSERLS
ALS EINE WELTANSCHAUUNGSPHILOSOPHIE
ANDRZEJ GNIAZDOWSKI
PhD in Philosophy, Assistant Professor.
Polish Academy of Sciences, Institute of Philosophy and Sociology. 00-330 Warsaw, Poland.
E-mail: agniazdo@ifispan.waw.pl
THE ASYMPTOTE OF LIFE: EDMUND HUSSERL'S PHENOMENOLOGY AS A WORLDVIEW PHILOSOPHY
Phenomenology, one of the most important and influential philosophical movements of the last hundred years, has been very rarely subjected to the comparative historical research that would place its idea in the broad socio-political as wells as cultural context. Even more rarely, if at all, has it been analyzed from the perspective of the history of ideas. Such an analysis would allow to regard phenomenology as an expression of some broader worldview. The aim of the article is to reconstruct such a historical as well as practical background of its idea formulated by Edmund Husserl in his logos-article. The applied method refers in its character to the methodology of the Warsaw School of History of Ideas, especially to the interpretation strategy that Leszek Kolakowski followed in his book Husserl and the Search for Certitude. The conclusion of the article is that the initial, practical impulse of the idea of phenomenology as a rigorous science consisted not so much in his religious, but rather in his socio-political search. This allows us to interpret the idea of phenomenology as a form of resistance against the racist tendencies of that time.
Key words: Phenomenology, worldview, practical philosophy, religion, naturalism, race theory, history of ideas.
АСИМПТОТА ЖИЗНИ. ФИЛОСОФИЯ ЭДМУНДА ГУССЕРЛЯ КАК ФИЛОСОФИЯ МИРОВОЗЗРЕНИЯ
АНДЖЕЙ ГНЯЗДОВСКИ Доктор философии, доцент.
Польская академия наук, Институт философии и социологии. 00-330 Варшава, Польша.
E-mail: agniazdo@ifispan.waw.pl
Феноменология, одно из наиболее важных и влиятельных философских направлений минувшего столетия, редко обращалась к компаративным историческим исследованиям, связанным с широким социально-политическим или культурным контекстом. Еще реже,
если она вообще делала это, такой анализ предпринимался с точки зрения истории идей, которая позволила бы рассматривать феноменологию как выражение некоторого более широкого мировоззрения. Таким образом, цель статьи состоит в том, чтобы реконструировать исторический и практический контекст, сформулированный Гуссерлем в его статье для журнала «Логос». Прикладной метод ее по своему характеру относится к Варшавской школе истории идей, особенно к интерпретационной стратегии Лешека Колаковски, следуя в этом ему за его книгой «Гуссерль и поиск достоверности». Заключение статьи состоит в том, что изначальный практический импульс к идее феноменологии как строгой науки состоял не столько в его религиозном, сколько в социально-политическом поиске, который позволяет интерпретировать идею феноменологии как форму сопротивления против расистских тенденций того времени.
Ключевые слова: Феноменология, мировоззрение, практическая философия, религия, натурализм, расовая теория, история идей.
1. EINFÜHRUNG
Wie schon im Titel angekündigt, werde ich in meinem Beitrag versuchen, die Ausführungen Edmund Husserls aus dem Logos-Artikel sozusagen gegen Husserl zu lesen. In seinem Artikel hat Husserl ausdrücklich nicht nur zwischen der Wissenschaft und der Weltanschauung unterschieden. Er hat dort eine scharfe Unterscheidung auch zwischen der Philosophie, die als strenge, theoretische Wissenschaft auftreten wollte, und der ihrem Wesen nach praktisch orientierten Weltanschauungsphilosophie gemacht. Während die Ideen Weltanschauung und Wissenschaft, schrieb Husserl in seinem Artikel, in den historischen Philosophien nicht scharf geschieden waren, „haben sie sich — als praktische Ideen verstanden — für das neuzeitliche Bewusstsein scharf getrennt, und sie bleiben von nun ab für alle Ewigkeit getrennt" (Husserl, 1987, 52). Die Weltanschauungsphilosophie und die wissenschaftliche Philosophie sollten nach ihm „zwei in gewisser Weise aufeinander bezogene, aber nicht zu vermengende Ideen" sein. Ihre Realisierungen sollten sich zwar, mit Husserl gesprochen, „im Unendlichen einander assymptotisch annähern und decken", aber nur insofern, als „wir uns das Unendliche der Wissenschaft fiktiv als einen ,unendlich fernen Punkt' vorstellen wollten" (Husserl, 1987, 52).
In meinem Beitrag werde ich für die These plädieren, dass die Idee der streng wissenschaftlichen Philosophie und die der Weltanschauungsphilosophie keineswegs darauf so lange warten mussten und dass sie sich bereits in der Phänomenologie Husserls selbst gedeckt haben. Die in dieser These zum Wort kommende, auch von anderen Husserl-Forscher vertretene Strategie, Husserl in dieser Hinsicht gegen Husserl auszuspielen (vgl. Fellman, 1983), soll meinem Selbstverständnis nach nicht nur dazu dienen, die sozusagen historische Faktizität
und damit auch den praktischen Sinn seiner Phänomenologie auf den Tag zu bringen. Sie zielt zugleich darauf an, ihr konkret kämpferischen Charakter zu enthüllen und die von Husserl in Gang gesetzte phänomenologische Bewegung als eine Art „Widerstandbewegung" darzustellen. Sofern Husserl in seinem Artikel sowohl die Idee der Weltanschauung, als auch die der Wissenschaft als „Inhalte von Lebenszielen" bzw. „praktische Ideen" betrachtet hat, kann ein solches Verfahren als auch von ihm selbst gerechtfertigt angesehen werden. Den praktischen Sinn, bzw. Lebensinhalt der Idee der Phänomenologie hat Husserl in seinen späten Schriften ganz offen gelegt, indem er die Krisis der europäischen Wissenschaften im „Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit" verankerte (Husserl, 1976, 3). Die Phänomenologie sah er dort als berufen an, diese Krisis mit der Wiederherstellung jener Bedeutsamkeit, bzw. des Nutzens jener Wissenschaften für das Leben abzuwenden, was seine eigene Selbstverständnis als keineswegs „Reaktionär", sondern eher ein „Radikaler" und „Revolutionär" rechtfertigen sollte (Husserl, 1976, 337).
Mit dem Versuch, die These Husserls über die Phänomenologie als eine „Asymptote des Lebens" kritisch zu problematisieren und auf den eher Zusammenstoß ihrer Idee mit der Idee der Weltanschauung hinzuweisen, wiederhole ich einerseits die bereits in 1932 von Edith Stein gestellte Frage nach der „weltanschaulichen Bedeutung der Phänomenologie" (Stein, 2014, 143-158). Dass ich in meinem Beitrag die Idee der Phänomenologie selbst als Ausdruck einer Weltanschauung und die von Husserl entworfene „phänomenologische Philosophie" als eine Weltanschauungsphilosophie identifizieren will, kommt andererseits von dem von mir vertretenen, sogenannten genius loci. Die vorgeschlagene Lesart soll meinerseits den Versuch sein, die Idee der Phänomenologie mit der Anwendung der ihr vom Grund aus fremden Methode der Warschauer Schule der Ideengeschichte zu deuten, die in den sechziger Jahren des 20 Jahrhunderts unter anderen von Leszek Kolakowski, Andrzej Walicki, Bronislaw Baczko und Jerzy Szacki entwickelt wurde (Gniazdowski, 2014, 141153).
In jener Zeit wurde diese Methode von ihren Vertreter in erster Linie bezüglich der Philosophie von Marx angewandt, insbesondere hinsichtlich der ihr via Engels entspringenden Idee des „wissenschaftlichen Sozialismus" (Kolakowski, 1967). Als die Methode eines radikalen Historismus zielte sie ursprünglich darauf ab, die staatlich institutionelle Ansprüche der marxistischleninistischen Philosophie auf Wissenschaftlichkeit mit Verweis auf ihre bloß historische, weltanschauliche Geltung zu entschärfen und damit das „Nutzen" des
wissenschaftlichen Sozialismus für das Leben in Polen nach dem Zweiten Weltkriege in Frage zu stellen. Von den Vertreter der Warschauer Schule der Ideengeschichte wurde diese Methode auch bezüglich der anderen philosophischen Positionen angewandt, mit der Absicht, den moralischen Sinn sowie die inneren Antinomien jener historischen Philosophien zu enthüllen (Kolakowski, 1958; Walicki, 1964; Baczko, 1964; Szacki, 1965). Was ich in meinem Vortrag vorhabe, ist nichts anderes, als ihre Strategie hinsichtlich der Phänomenologie Edmund Husserls anzuwenden und nach den Grenzen einer solchen Anwendung zu fragen.
2. GÜLTIGKEIT UND GELTUNG DER IDEE DER PHÄNOMENOLOGIE
Der Versuch, die Phänomenologie zu einer historischen Philosophie zu reduzieren, wurde schon einst im Rahmen der Warschauer Schule der Ideengeschichte von Leszek Kolakowski durchgeführt. Sowohl die Realisierung von Husserl der Idee der Phänomenologie, als auch diese Idee selbst hat er in seinem Buch Husserl und die Suche nach der verlorenen Gewissheit als Ausdruck einer Weltanschauung gedeutet. Kolakowski wies dort darauf hin, dass die Phänomenologie nur auf den ersten Blick eine sehr technische Weise des Philosophierens zu sein scheint. Er schrieb, dass wenn sie auch bestrebt ist, eine Wissenschaft, nicht eine Weltanschauung zu sein, kommt doch ihr „weltanschaulicher Impuls" immer wieder zum Vorschein (Kolakowski, 1977, 11).
Als Grundintention der Phänomenologie hat Kolakowski die im Titel seines Buches erwähnte Suche nach der Gewissheit dargestellt, die infolge des „sich verirrenden Rationalismus" der modernen Philosophie verlorengegangen sei (Husserl, 1976, 337). Das Ziel Husserls, schrieb Kolakowski, „war unveränderlich dasselbe: wie die unerschütterliche, die absolut unzweifelhafte Grundlage der Erkenntnis ausfindig zu machen sei; wie die Argumente von Skeptizisten, von Relativisten zu widerlegen seien" (Kolakowski, 1977, 10). In seinem Versuch, die verlorene Gewissheit durch „eine Neubegründung der Philosophie im Sinne strenger Wissenschaft" wieder dem Menschen zu verschaffen (Husserl, 1987, 7), sah Kolakowski keineswegs den Ausdruck einer theoretischen Paranoia. Er gab zu, dass Husserl mit seiner Suche wahrscheinlich recht hatte. In seinem Buch schrieb er, dass die Geschichte von Wissenschaft und Philosophie in der Tat unverstehbar wäre, „wenn wir das Trachten nach solch einer Gewissheit unterlassen würden, einer Gewissheit, die mehr als in einem nur praktischen Sinn
zu befriedigen mag; ein Trachten nach Wahrheit, das verschieden vom Streben nach technisch zuverlässigem Wissen ist" (Kolakowski, 1977, 14).
Gegen die Idee der Phänomenologie als der Suche nach der absolut gewissen Wahrheit über die Welt, die den Menschen auch bezüglich seiner eigenen „Stellung in der Welt", „sein Woher? und Wohin?" (Stein, 2014) vergewissern sollte, hat Kolakowski seiner Meinung nach die in erster Linie theoretischen Argumente angeführt. Er hat auf die in diese Idee eingeschriebene Antinomie hingewiesen, die nach ihm in den „Widerstreit der beiden grundlegenden Merksätze der Phänomenologie" bestand: dem „zurück zu den Sachen selbst" und dem „Philosophie soll eine strenge Wissenschaft sein" (Kolakowski, 1977, 61). Der erste Merksatz war in der Interpretation von Kolakowski den Ausdruck des von Husserl fortgesetzten, platonisch-cartesianisch-kantianischen Trachtens nach der absoluten Wahrheit „an sich", die der Idee seiner Phänomenologie gemäß nur in der unmittelbaren, intellektuellen Intuition, in der „kategorialen Anschauung" gegeben sein kann. Der zweite Merksatz gründete Kolakowski im Verlangen Husserls nach der eigentlichen Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie, die der Idee der Wissenschaft als einem System der „objektiv gültigen" Sätze genug zu tun hat. Der Widerstreit zwischen den beiden Merksätze bestand in der Interpretation von Kolakowski darin, dass indem die objektive Gültigkeit in der Wissenschaft nur solchem verliehen ist, was sich „sprachlich kommunizieren" lässt, die Erfahrung der Gewissheit in Husserls Sinn „so inkommunikabel wie eine mystische Erfahrung" erscheint (Kolakowski, 1977, 34).
Mit dem Verweis auf den Widerstreit jener, für ihre Idee gleichkonstitutiven Merksätze der Phänomenologie hat Kolakowski das, was Husserl für ein asymptotisches Verhältnis gehalten hat, als eine Antinomie gedeutet. Die Grundantinomie, in welche sich Husserl mit seiner Idee der Phänomenologie verwickelte, stellte Kolakowski zwar nicht ausdrücklich als die zwischen der Wissenschaft und der Weltanschauung dar. Der von ihm festgestellte Widerstreit zwischen dem „Verlangen nach Unmittelbarkeit" und dem „Verlangen, wissenschaftlich zu sein" kann dennoch in seinem Grunde als die Antinomie zwischen der „Ideen Weltanschauung und Wissenschaft" dargestellt werden. Der Hauptverdienst Husserls sah Kolakowski darin, dass seine Philosophie nach Leibniz „das stärkste Argument zugunsten der Behauptung lieferte, dass der Begriff der Wahrheit vom empirischen Standpunkt aus sinnlos sei ebenso wie der Begriff von Wissenschaft als der Suche nach der Wahrheit" (Kolakowski, 1977, 36). Der theoretische Hauptverdienst Husserls, die philosophische Diskussion
zwischen Empirismus und Rationalismus (bzw. „Transzendentalismus") auf diese Weise „an ihren äußersten Punkt" geführt zu haben (Kolakowski, 1977, 38), war in seiner Interpretation im nichts anderen, als in dem obenerwähnten, „weltanschaulichen Impuls" seiner Phänomenologie gegründet. Mit der Zurückweisung der Ansprüchen der Wissenschaft auf die Wahrheit hat Husserl in der Interpretation von Kolakowski den modernen Menschen vor dem „peinlichen Dilemma des Wissens" gestellt: „entweder konsequenter Empirismus mit seinen relativistischen, skeptizistischen Resultaten (ein Standpunkt, den viele für entmutigend, unstatthaft und in der Tat ruinös für die Kultur halten) oder transzendentalistischer Dogmatismus, der sich nicht wirklich selbst rechtfertigen kann und am Ende ein willkürlicher Entschluss bleibt" (Kolakowski, 1977, 96).
Auf die Frage nach dem Inhalt jenes Entschlusses, danach, welchen Zweck die Phänomenologie mit ihrem Trachten nach Wahrheit verfolgte, antwortete Kolakowski mit Verweis auf den Glauben Husserls, „dass die Suche nach Gewissheit für die europäische Kultur konstitutiv war, und dass der Verzicht auf diese Suche auf die Zerstörung dieser Kultur hinauslaufen wurde" (Kolakowski, 1977, 13-14). Die Phänomenologie Husserls, die nach Kolakowski „in unserem Jahrhundert der bedeutendste und ernsthafteste Versuch war, zu den letzten Quellen des Wissens zu gelangen" (Kolakowski 1977, 11), hielt er als solche für gerechtfertigt insofern, als — wie er in den abschließenden Zeilen seines Buches schrieb — „unsere Kultur ohne jene Menschen arm und erbärmlich wäre, die in dem Versuch fortfahren, dieses Ziel zu erreichen, und sie könnte kaum überleben, wenn sie gänzlich den Händen der Skeptiker ausgeliefert wurde" (Kolakowski, 1977, 96). Ungeachtet der Tatsache, dass die Phänomenologie mit ihrem Trachten nach der identisch Eine Wahrheit sich vom Streben nach dem sowohl technisch, als auch praktisch zuverlässigen Wissen scharf unterscheiden wollte, sollte sie somit, in der Interpretation von Kolakowski, selbst als eine streng wissenschaftliche Philosophie den praktischen, bzw. moralischen Sinn haben. „Diese Suche, schrieb er in seinem Buch, hat wenig zu tun mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Technologie. Ihr Hintergrund ist eher religiöser als intellektueller Natur; sie ist, wie Husserl zutiefst wusste, eine Suche nach Sinn. Sie ist ein Verlangen, in einer Welt zu leben, aus der Kontingenz verbannt ist, wo allem ein Sinn (und d. h. ein Zweck) gegeben ist" (Kolakowski, 1977, 35).
Der Grund, warum ich die Interpretationsstrategie von Kolakowski in Bezug auf die Idee der Phänomenologie fortsetzen möchte, ist ihre Vermöglichkeit, den Weg zu einer näheren Bestimmung des von ihm festgestellten, religiösweltanschaulichen Hintergrund bzw. „Impuls" zu dieser Idee zu bahnen. Dies
scheint mir nicht nur durch die Berücksichtigung einer breiteren, diesbezüglichen Quellenbasis möglich zu sein, sondern auch durch den Verweis auf die weltanschaulichen Begrenzungen jener Strategie selbst, die mit der historischkritischen Fortsetzung der von Kolakowski dargestellten Interpretation vielleicht mindestens thematisiert werden können. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, dass die Auslegung von ihm der Idee der Phänomenologie als einer religiös motivierten Suche nach dem Sinn keineswegs voraussetzungslos war und dass er mit ihr seinen eigenen, praktischen Zweck verfolgt hat. Der Hintergrund dieser Auslegung war die seine Interpretationsstrategie bestimmende, der Auseinandersetzung der Warschauer Schule der Ideengeschichte mit dem Marxismus entspringende Grundintention, alle philosophische Absolute, welche sie auch sein mögen, auf die menschliche Praxis zurückzuführen und sie damit in der Geschichte aufzulösen (Walicki, 1984).
Die Idee der Phänomenologie als einer strengen und zugleich lebensbedeutsamen Philosophie hat Kolakowski jener Intention zufolge genauso wie die des wissenschaftlichen Sozialismus als Ausdruck einer Art philosophischen Religion gedeutet. Er nahm dementsprechend im Voraus als selbstverständlich an, dass die von Husserl aufgenommene Suche nach der absoluten Gewissheit fehlschlug und stellte sich bloß die Frage auf, warum sie sowohl scheiterte, als auch, wie er selbst feststellt, „zwangsläufig scheitern" musste (Kolakowski, 1977, 11). In seinem Buch lehnte er auf diese Weise von vornherein das von Husserl in seinem Logos-Artikel gemachte Unterscheidung zwischen der objektiven Gültigkeit und der historischen Geltung der Idee der Wissenschaft ab. Er wollte nicht das von Husserl verlangte Zugeständnis machen, dass „wie große Schwierigkeiten das Verhältnis zwischen fließendem Gelten und objektiver Gültigkeit, zwischen Wissenschaft als Kulturerscheinung und Wissenschaft als System gültiger Theorie dem aufklarenden Verständnis bieten mag — der Unterschied und Gegensatz anerkannt werden müsse" (Husserl, 1987, 44). Die von Husserl beanspruchte Gültigkeit der Idee der Phänomenologie hat Kolakowski genauso wie die des wissenschaftlichen Sozialismus zu ihrer bloßen Geltung reduziert und dem menschlichen Kultur gegenüber funktionalisiert. Was ich im Weiteren vorhabe, ist demgegenüber die These über die Gültigkeit bzw. Ungültigkeit der Idee der Phänomenologie als einer Wissenschaft sozusagen „einzuklammern" und den Weg zur Frage nach der sowohl faktischen, als auch möglichen, historischen Geltung dieser Idee zu öffnen.
3. DIE WELTANSCHA UUNG EDMUND HUSSERLS UND DIE PHÄNOMENOLOGIE ALS EINE WELTANSCHA UUNGSPHILOSOPHIE
Die historische Geltung der Phänomenologie als einer Weltanschauungsphilosophie muss im Ausgangspunkt einer solchen Untersuchung von dem historischen Inhalt der Weltanschauung Edmund Husserls selbst klar unterschieden werden. Es handelt sich hier um die gleiche Unterscheidung, die auch Husserl in seinem Logos-Artikel gemacht hat, nämlich die zwischen der individuellen Weltanschauung und der in einer historischen Epoche geltenden sowie diese Epoche als ein Ganzes bestimmenden Weltanschauungsphilosophie. Der Begriff „Weltanschauung" hat Husserl für den modernen, wie er schrieb, „jetzt beliebten Ausdruck" gehalten, der sich darauf bezogen hat, was in den historischen Philosophien von Platon bis Hegel auch als eine persönliche „Geistesgestaltung", „Bildung", bzw. einen „Tugend" bezeichnet wurde. Im Allgemeinen war sie nach ihm in einer Lebenserfahrung als dem „persönlichen Habitus" gegründet, der Husserl als den „Niederschlag der im Ablauf des Lebens vorangegangenen Akte natürlicher erfahrender Stellungnahme" definiert hat (Husserl, 1987, 48). „Danach hat der allseitig Erfahrene, schrieb er, oder wie wir auch sagen «Gebildete», nicht nur Welterfahrung, sondern auch religiöse, ästhetische, ethische, politische, praktischtechnische u. a. Erfahrung oder ,Bildung'" (Husserl, 1987, 49). Die so verstandene Weltanschauung hat Husserl nicht als „bloße Leistung der vereinzelten Persönlichkeit" betrachtet, sondern sie auch auf „Kulturgemeinschaft und Zeit" bezogen. Es hatte nämlich für Husserl, seiner eigenen Äußerung nach, „einen guten Sinn, nicht nur von Bildung und Weltanschauung eines bestimmten Individuums, sondern von derjenigen der Zeit zu sprechen" (Husserl, 1987, 49), d. h. von einem überindividuellen Habitus der Kulturgemeinschaft, der seinen reflexiven Ausdruck in einer Weltanschauungsphilosophie findet.
Im Unterschied zu den Ideen Weltanschauung und Wissenschaft, sollten sich die Weltanschauung eines Individuums und die einer Kulturgemeinschaft nach Husserl nicht „im Unendlichen einander asymptotisch annähern", sondern eher konvergent sein und sich in den „wertvollsten Persönlichkeiten der Zeit" miteinander decken (Husserl, 1987, 51). Sowohl das Individuum als auch die Kulturgemeinschaft haben in ihrem Streben nach der Weltanschauung in der Darstellung Husserls dasselbe Ziel verfolgt, das er mit dem „altmodischen", aus der historischen Philosophien stammenden Wort „Weisheit (Weltweisheit, Welt-und Lebensweisheit)" bezeichnete und das nach ihm immer „als Habitus und
Leistung der Einzelpersönlichkeit zu beurteilen" war (Husserl, 1987, 49, 59). Genauso wie das „sehr abgegriffene Wort Bildung", sollte der Begriff Weltanschauung in seiner Auffassung nur „für die relativ höherwertigen Formen des Habitus" gebraucht werden. Das Streben einer individuellen Persönlichkeit nach der Weltanschauung setzte er mit dem Erwerben eines Habitus gleich, der uns — mit Husserl gesprochen — „in der Idee der vollkommenen Tugend vorschwebt und der die habituelle Tüchtigkeit in Beziehung auf alle möglichen Richtungen menschlicher Stellungnahme, auf erkennende, wertende und wollende, bezeichnet" (Husserl, 1987, 49).
Die Weltanschauung des Individuums und die einer Kulturgemeinschaft sollten sich nach Husserl in der Weltanschauungsphilosophie als ihrer höchstwertigen Form decken. Diese Philosophie war für Husserl ihrer von ihm gegebenen Definition zufolge nichts anderes als „die denkmäßige Fassung der in einer großen philosophischen Persönlichkeit lebendigen, innerlich reichsten, aber sich selbst noch dunkeln, unbegriffenen Weisheit" (Husserl, 1987, 49). Als eine logisch verarbeitete Welt- und Lebensweisheit sollte die Weltanschauungsphilosophie in seiner Auffassung „in den großen Systemen die relativ vollkommenste Antwort auf die Rätsel des Lebens und der Welt" geben (Husserl, 1987, 50). So verstanden, war sie für Husserl wie jede große Philosophie nicht nur eine historische Tatsache, sondern hatte sie „auch in der Entwicklung des Geisteslebens der Menschheit eine große, ja einzigartige teleologische Funktion, nämlich als höchste Steigerung der Lebenserfahrung, der Bildung, der Weisheit ihrer Zeit" (Husserl, 1987, 49). Husserl sah sie als berufen an, „eine wesentliche Komponente des Ideals [...] einer relativ vollkommenen konkreten Abschattung der Idee der Humanität" auszudrücken (Husserl, 1987, 50).
Bereits im Lichte der von Husserl in seinem Logos-Artikel gemachten Unterscheidungen scheint das von Kolakowski geäußerte Bedenken gegen die rein theoretischen Motive der Idee der Phänomenologie wohlbegründet zu sein. Der von Husserl „vollbewusst" gefassten Entschluss, als ein „rein wissenschaftlicher Philosoph" zu leben (Husserl, 1979, 106), wird in diesem Artikel als im Grunde praktisch motiviert dargestellt. Der Unterschied zwischen der Weltanschauungsphilosophie und der wissenschaftlichen Philosophie bestand zwar nach Husserl darin, dass diese erstere von den „von Natur aus" praktischen Menschen betrieben wurde, also denen, „die das Ziel im Endlichen stellen, die ihr System haben wollen, und zeitig genug, um auch danach leben zu können" (Husserl, 1987, 58). Er wies darauf hin, dass es auch angesichts der von ihm festgestellten „geistigen Not" seiner Zeit sicher ist, „dass wir nicht warten können.
Wir müssen Stellung nehmen, wir müssen uns mühen, die Disharmonien in unserer Stellungnahme zur Wirklichkeit [...] auszugleichen in einer vernünftigen, wenn auch unwissenschaftlichen ,Welt- und Lebensanschauung'" (Husserl, 1987, 56). Dass Husserl selbst auf eine solche Stellungnahme sowie auf die Betreibung der Weltanschauungsphilosophie verzichtet hat, wurde von ihm damit begründet, dass er als ein theoretischer Mensch „um der Zeit willen" die Ewigkeit nicht preisgeben wollte (Husserl, 1987, 57). Insofern als er seine Verpflichtung gegenüber der Ewigkeit mit der „Verantwortung hinsichtlich der Menschheit" gleichgesetzte und sie in der „endgültigen Überwindung" der geistigen Not seiner Zeit sah, sollte dennoch auch die wissenschaftliche Philosophie diesem Artikel zufolge eine teleologische Funktion in der Entwicklung des Geisteslebens der Menschheit haben und damit praktisch motiviert sein.
Indem Husserl für die Gültigkeit der Idee der wissenschaftlichen Philosophie plädierte, sprach er ihr somit eine historische Geltung keineswegs ab. Selbst wenn die diese Idee zu realisierende Phänomenologie, mit Husserl gesprochen, „sich dem praktischen Weltanschauungsstreben als theoretische Wissenschaft gegenüberstellen und sich von ihm vollbewusst trennen" musste (Husserl, 1987, 57), bedeutete es keineswegs, dass sie nach ihm keinen praktischen und damit auch weltanschaulichen Sinn hatte. Die in seinem Artikel erwähnte geistige Not seiner Zeit, die — wie er schrieb — „in der Tat unerträglich geworden" ist, stellte Husserl ausdrücklich als eine „Weltanschauungs-„ bzw. „Lebensnot" dar. Die ihm zeitgenössische, weltanschauliche Philosophie kritisierte er demzufolge nicht bloß wegen ihrer Weltanschaulichkeit, sondern deswegen, dass sie ihr praktischen Ziel verfehlte, d. h. dass sie die relativ vollkommene konkrete Abschattung der Idee der Humanität auszudrücken versagte. Der härtesten Kritik unterzog Husserl aus diesem Gesichtspunkt die naturalistische Philosophie, die er als „ein wissenschaftliches Halbfabrikat" bzw. „ein ungeschiedenes Gemenge von Weltanschauung und theoretischer Erkenntnis" bezeichnete (Husserl, 1987, 55). Der Grund, warum er den in ihrem Rahmen vorgenommenen Versuch einer streng wissenschaftlichen Neubegründung der Philosophie ablehnte, war, dass er in einer Form zustande kam, die — mit Husserl gesprochen — „theoretisch von Grund auf verfehlt ist, so wie sie praktisch eine wachsende Gefahr für unsere Kultur bedeutet" (Husserl, 1987, 8).
Die sich hier aufdrängende Frage nach dem konkreten, weltanschaulichen Inhalt der sich der naturalistischen Philosophie widersetzenden Idee der Phänomenologie hat Edith Stein gleich wie Kolakowski mit dem Verweis auf den
ihr inhärenten, religiösen Impuls beantwortet. Im Gegensatz zu Scheler, dessen Werke „Lücken, Unklarheiten, Widersprüche" aufweisen, die eine „feste Begründung des Baus unmöglich machten", sowie im Unterschied zu Heidegger, bei dem erschien es ihr „verfrüht, sein Weltbild zeichnen zu wollen", musste man nach Stein für Husserl auch „zweifellos sagen, dass er durch seine Methode, ohne dies als Ziel zu verfolgen, tatsächlich zu einem geschlossenen Weltbild gekommen ist" (Stein, 2014, 13-14). Während „die Zentralstellung des Daseins" in der Fundamentalontologie Heideggers und „die Betonung der Sorge als zu ihm wesenhaft gehörig, des Todes und des Nichts, sowie manche extremen Formulierungen auf ein gottloses, ja geradezu nihilistisches Weltbild" in ihren Augen hingewiesen haben, kannte Husserl nach Stein „ein absolutes Sein, auf das alles andere zurückweist und von dem aus alles andere zu verstehen ist" (Stein, 2014, 13). Gleich wie die Interpretationsstrategie von Leszek Kolakowski, war damit aber auch die Auslegung der Idee der Phänomenologie von Edith Stein keineswegs weltanschaulich unbefangen. Ihre Überzeugung, dass sie „auf die gesamte Weltauffassung und den Geist ihrer Zeit wirken kann", hat sie darin begründet, dass die Phänomenologie Husserls „den Blick auf unbekannte oder unbeachtete Gebiete gelenkt" und dass sie die ,Orientierung am absoluten Sein" ermöglicht hat, „mit der unser katholischer Glaube steht und fällt" (Stein, 2014, 1, 16).
4. WAHRHEIT UND RASSE
Um eine von Husserl vielleicht am hoffnungsvollste erwartete, wenn auch aus den durchaus verständlichen Gründen ohne als Ziel verfolgte, weltanschauliche Wirkung der Idee der Phänomenologie auf den Geist seiner Zeit näher zu bestimmen, erweist es sich als unumgänglich, gegen das klar ausgesprochene Verbot Husserls vorzugehen, sich auf die Ideengeschichte nicht bloß „in der Weise der Historiker" zu beziehen. Den Inhalt der als ein Lebensziel, d. h. praktisch verstandenen Idee der Phänomenologie kann nicht vollkommen an den Tag gebracht werden, ohne sich — mit, oder eher gegen Husserl gesprochen — „in die Entwicklungszusammenhänge zu verlieren", in welchen sie wie alle „großen Philosophien" erwachsen ist (Husserl, 1987, 60-61). Zu den von ihm erwähnten Zusammenhänge der historischen Entwicklung der Idee der Phänomenologie gehört dabei sowohl die Weltanschauung von Husserl selbst, d. h. die von ihm erworbene Lebens- und Welterfahrung und Bildung, als auch die Weltanschauung seiner Zeit, bzw. der von ihm als seine eigene angesehenen Kulturgemeinschaft. Nur durch das Sich-Verlieren in diese faktischen
Entwicklungszusammenhänge, in welchen die Phänomenologie als eine historische Philosophie erwachsen ist, kann sowohl den „weltanschaulichen Impuls" der Idee der Phänomenologie, als auch ihre historische Geltung als einer Weltanschauungsphilosophie bestimmt werden.
Es stellt sich natürlich die Frage auf, was konkret mit diesem Sich-Verlieren überhaupt zu gewinnen ist. Was eine solche Interpretationsstrategie in meinen Augen nicht nur gerechtfertigt, sondern sie auch aus den zugleich theoretischen und moralischen Gründen von dem Leser fordert, ist dass der von Kolakowski festgestellte, „weltanschauliche Impuls" der Idee der Phänomenologie insbesondere nach 1933 bei Husserl immer stärker zum Vorschein kommt. Nicht zuletzt heute scheint es deswegen die persönliche Verpflichtung gegenüber Husserl selbst zu sein, den innersten Inhalt jenes Impulses, der angesichts der noch vor dem Ersten Weltkriege in Deutschland anwachsenden, durch die naturalistische Philosophie „wissenschaftlich" legitimierten Antisemitismus von ihm auch in seinen Briefen nur andeutungsweise ausgesprochen wird, sich klarzumachen. Erst nach dem Kriege, wenn die „geistige Not" seiner Zeit ihr offenen Ausdruck auch untern seinen Fachkollegen fand, hat sich Husserl zum ersten Mal erlaubt, sein Widerstand jener auch für manchen seinen Schüler nicht klar verstehbaren Not wörtlich zu leisten. In 1919 hat er z. B. in einem Brief an Arnold Metzger in Reaktion auf das von ihm zugesandte Buch Phänomenologie der Revolution seinen Schüler dafür gelobt, dass er „durch die phrasenlose Nüchternheit und radikale Sachlichkeit" seiner Schriften „das sie tragende persönliche Ethos" fühlte (Husserl, 1979, 105). Husserl gab in seinem Brief zugleich ausdrücklich zu, dass er sich vollbewusst entschieden hat, als rein wissenschaftlichen Philosoph zu leben, nicht weil ihm „die Wahrheit und Wissenschaft als der höchste Wert gilt" (Husserl, 1979, 106-107). Im Gegenteil, schrieb er in Anknüpfung an Schopenhauer: „Der Intellekt ist Diener des Willens», also auch ich Diener des praktischen Lebensgestalters, des Menschheitsführers" (Husserl, 1979, 107).
Der Wille, dem die Phänomenologie Husserls sich verpflichtet fühlt, kam dennoch bereits im ersten Band der Logischen Untersuchungen andeutungsweise zum Vorschein. Die Wahrheit, für die Husserl in diesem Gründungsbuch der Phänomenologie Glauben fordert, soll seiner bekannten Formulierung nach identisch Eine sein, „ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen" (Husserl, 1975, 117). Nur von der Wahrheit, fügt er präzisierend hinzu, „in dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen
Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind" (Husserl, 1975, 118). Indem Husserl in seinen Logischen Untersuchungen gegen den Anthropologismus in der Erkenntnistheorie auftritt, der nach ihm von dem extremsten Skeptizismus nur durch diese Nuancen geschieden ist, dass er die Subjektivität der Wahrheit statt auf die einzelne Person auf die Spezies bezieht, fragt er sich: „warum wir bei den Grenzscheiden fingierter Klassenunterschiede Halt machen sollen? Warum nicht die wirklichen Rassenunterschiede, die Unterschiede zwischen Vernunft und Wahnsinn und endlich die individuellen Unterschiede als gleichberechtigt anerkennen?" (Husserl, 1975, 152).
Dasselbe, die Idee der Phänomenologie tragende, persönliche Ethos ist genauso durch die Nüchternheit der im Logos-Artikel geübten, radikalen Kritik der naturalistischen Philosophie fühlbar. Nur eine solche Kritik war nach Husserl geeignet, „das Vertrauen auf die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie ungebrochen zu erhalten, das durch die Erkenntnis der widersinnigen Konsequenzen des auf der strengen Erfahrungswissenschaft sich aufbauenden Naturalismus bedroht ist" (Husserl, 1987, 8). Wenngleich Husserl bei der Darstellung der Widersinnigkeit der insbesondere praktischen Konsequenzen des Naturalismus in seinen Schriften äußerst sparsam bzw. nüchtern bleibt, weist er in seinem Artikel mindestens darauf hin, dass „den theoretischen Widersinnigkeiten unvermeidlich Widersinnigkeiten (evidente Unstimmigkeiten) im aktuellen ethischen Verhalten" folgen und dass man „auch die naturalistische Axiologie und Praktik, darunter die Ethik, einer ähnlichen radikalen Kritik und ebenso die naturalistische Praxis selbst" unterwerfen kann (Husserl, 1987, 9).
Selbst wenn Husserl es auch nicht ausführlich tut, wird die Richtung einer solchen Kritik von ihm bereits in seinem Artikel eindeutig bestimmt. Diese Kritik richtet er hier nicht bloß an einem abstrakten „Naturalist", der — mit Husserl gesprochen — glaubt, dass durch Naturwissenschaft und naturwissenschaftliche Philosophie „das Ziel der Hauptsache nach erreicht" sei und „mit aller Begeisterung, die dieses Bewusstsein gibt, [...] er nun für das naturwissenschaftlich' Wahre, Gute und Schöne als Lehrer und praktischer Reformator eintritt" (Husserl, 1987, 10). Der Naturalist als der von Natur aus praktische Mensch, der trotz der Naturalisierung von ihm aller absoluten Ideale und Normen „lehrt, predigt, moralisiert, reformiert", wird von Husserl in seinem Logos-Artikel auch beim Namen genannt: „Hackel und Ostwald, schreibt er in der Fußnote, können uns dabei als hervorragende Repräsentanten dienen" (Husserl, 1987, 10).
Insbesondere Ernst Haeckel, der mit Wilhelm Ostwald in 1906 den sogenannten Monistenbund als eine Art „naturalistische Kirche" gegründet hat, deren Ziel die Popularisierung der naturalistischen Weltanschauung in der Form der Sonntag-Predigen war (Lübbe, 1963, 129), musste in Augen Husserls die mit dieser Weltanschauung verbundene Widersinnigkeiten im ethischen Verhalten hervorragend vertreten. Als Evolutionstheoretiker und zugleich Wegbereiter der Eugenik und Rassenhygiene, der mit seinen zahlreichen Schriften zur Verbreitung des wissenschaftlichen Lebens- und Weltbildes in Deutschland wesentlich beigetragen hat, kann er als den direkten Adressat der im Logos-Artikel geübten Kritik angesehen werden. Auf jeden Fall kann er in dieser Rolle in Bezug auf die dort geäußerte Hoffnung Husserls auftreten, dass mit der phänomenologischen Reform der Philosophie im Sinne einer strengen Wissenschaft „auch jene Art philosophischer Scheinliteratur nicht mehr möglich sein [wird], die heutzutage so üppig wuchert und die uns mit der Prätention auf ernsteste Wissenschaftlichkeit ihre Erkenntnistheorien, logischen Theorien, Ethiken, Naturphilosophien, Pädagogiken auf naturwissenschaftlicher und vor allem experimentellpsychologischer' Grundlage darbietet" (Husserl, 1987, 40).
5. SCHLUSS
In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Studien entstanden, die den historisch-biographischen, und damit auch weltanschaulichen Hintergrund der Phänomenologie Edmund Husserls wesentlich erhellt haben. Neben den historischen Arbeiten von Karl Schuhman (Schuhman, 1977, Schuhman, 1988) ist es hier z. B. auf das Studium von Ferdinand Fellman über das Werk Rudolf Euckens als weltanschaulicher Rahmen für die Freiburger Phänomenologie Husserls hinzuweisen (Fellmann, 2009, 31-41) oder den Artikel von James Hart zu nennen, in welchem er den weltanschaulichen Hintergrund der von Husserl gehaltenen Kriegs-Vorträge über Fichtes Menschheitsideal analysiert (Hart, 1995). Wichtige biografische Informationen bringen mit sich die von Malvine Husserl verfasste Skizze eines Lebensbildes von Edmund Husserl sowie das alte Studium von Jan Kühndel über Edmund Husserls Heimat und Herkunft. Die persönliche Geistesgestaltung Husserls kann man auch sozusagen auf eigene Faust zu rekonstruieren versuchen, und zwar auf Grund der von ihm hinterlassenen, von Karl und Elizabeth Schuhmann publizierten Korrespondenz (Husserl 1994) sowie den zahlreichen Zeugnissen, die in den Briefen und Erinnerungen seiner Schülern zersplittert sind.
Wofür ich aber in meinem Vortrag plädiert habe, reicht der Niederschlag der phänomenologischen Schriften Husserls selbst als Zeugnis dafür aus, dass seine Phänomenologie ihrer Idee nach nicht bloß die Weltanschauungs-, sondern eher Kampfsphilosophie war. Sie sprechen der von mir fortgesetzten Interpretationsstrategie gemäß dafür, dass Husserl angesichts des anwachsenden rassistischen und sozialen Populismus sowie der ihn zu rechtfertigenden, naturalistischen Wissenschaft in Deutschland mit der Idee der Phänomenologie gegen die Entartung der Lebenswelt zum Todeswelt kämpfte. Was man mit dem Sich-Verlieren in die Entwicklungszusammenhänge jener Idee gewinnen kann, erweist sich demzufolge mindestens die Hoffnung, dass die Ideen Wissenschaft und Weltanschauung sich auch für den von Natur aus theoretischen Menschen wie Husserl keineswegs nur dann erst recht decken, wenn er stirbt.
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