IHHIIHHJIH ORBIS ROMANUS
PHILOLOGIA CLASSICA
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VOL. 11 • FASC. 1. 2016
UDC 82-143+821.124 OVIDS LIEBESDICHTUNG*
Michael von Albrecht
Universität Heidelberg, (Professor emeritus),
Voßstraße 2, Geb. 37, 69115, Heidelberg, Deutschland; [email protected]
The following article is divided into two parts. The first one deals with a question of co-existence of various poetics in the "Amores" of Ovid. The author discusses it in connection with the poet's approach to the topic from the very beginning to going beyond the boarders of the Latin love elegy as genre. In this connection, 2, 1 and 3, 12 elegies from the "Amores" are brought to the forefront. The second part of the article studies changes in Ovid's concept of love and traces it from the "Amores" and the "Art of Love" to the "Heroides" and then to the "Metamorphoses". Among other things, the author studies Ovid's different approaches to similar love stories in the earlier and later works of Ovid.
Keywords: Ovid, love poems, Latin love elegy, reception of Latin literature.
Erster Hauptteil: Zur Poetik in Ovids Amores I A: Typische Poetik der römischen Liebeselegie
Für wen und wie schreibt Ovid die Amores? Am. 2, 1, 5-10:
Me legat in sponsi facie non frigida virgo 5
et rudis ignoto tactus amore puer, atque aliquis iuvenum, quo nunc ego, saucius arcu
agnoscat flammae conscia signa suae miratusque diu ,quo' dicat ,ab indice doctus
conposuit casus iste poeta meos?' 10
„Mich lese ein junges Mädchen, das beim Anblick ihres Verlobten nicht kalt bleibt, und ein unerfahrener Knabe, angerührt von der Liebe, die er nicht kennt. Irgendein junger Mann, den derselbe Bogen (Amors) verwundet wie mich, erkenne die Zeichen, Mitwisser seines eigenen Feuers, und nach langem Staunen frage er dann: 'Welcher Verräter hat diesen Dichter informiert, so dass er meine eigenen Leiden aufzeichnete?'"
Wir halten fest: Der Dichter schreibt für junge Leser (nicht in erster Linie für Gelehrte). Es geht um .Liebeserfahrungen'1, die in Ich-Form dargeboten werden. Sprecher
1 So die gute Formulierung von B. M. Gauly, s. Literaturhinweise. Übersetzungen lateinischer Texte sind, sofern nichts anderes angegeben, vom Verfasser dieses Aufsatzes.
* Дорогому Александру Константиновичу с чувством дружбы и уважения. © St. Petersburg State University, 2016
ist immer der liebende Mann (das wird sich in den Heroiden ändern). Zumindest der Fiktion nach spricht das elegische Ich immer aus eigenem Erleben (.subjektiv erotisch' ist der Fachausdruck). Das gehört zum Gattungscharakter der römischen Liebeselegie). Aber die ,Liebeserfahrungen' sind zugleich so formuliert, dass viele Leser sich darin erkennen können (man nennt das ,idealtypisch'). In der Tat hat Ovid viele Leser erreicht; schon zu Lebzeiten war er der meistgelesene Autor (Trist. 4, 10, 128).
Welche göttlichen Mächte erkennt der Dichter als elegischer Liebhaber an? Was ist hier der Zweck der Elegien? Amores 2, 1, 17-22: Der Dichter war im Begriff, Juppiters Kampf gegen die Giganten zu besingen, also einen mythischen, hochepischen Stoff, und fühlte sich der Aufgabe durchaus gewachsen, doch da
clausit amica fores: ego cum Iove fulmen omisi, 17
excidit ingenio Iuppiter ipse meo. Iuppiter, ignoscas: nil me tua tela iuvabant;
clausa tuo maius ianua fulmen habet. 20
blanditias elegosque levis, mea tela resumpsi: mollierunt duras lenia verba fores...
ad vatem, pretium carminis, ipsa venit. 34
„Doch da verschloss die Freundin ihre Tür. Ich ließ Juppiter samt dem Blitz fallen, sogar Juppiter war aus meinem Geist entschwunden. Juppiter, verzeih mir: Deine Geschosse nützten mir nichts. Der Blitzschlag der verschlossenen Tür ist mächtiger als der deine. Stattdessen griff ich wieder zu Schmeichelreden und leichten elegischen Versen, meinen Waffen. Und die sanften Worte erweichten die harten Türflügel. ... Sie kommt selbst zu dem Dichter als Lohn für sein Lied".
Betont wird die ,erweichende' Funktion der Elegie; ein Gedicht, das vom ,Weinen vor der Tür' handelt, nennt man ,Paraklausithyron' (von griechisch KÄ.ai« ,ich weine' und öupa ,Tür'; zwar ist die Tür verschlossen, aber die Etymologie hat nichts mit claudere ,schließen' zu tun!). Der Liebhaber darf nur durch Worte überzeugen, nicht mit Gewalt vorgehen: Darin steht die Liebeselegie der Redekunst nahe. Die Rhetorik ist eine Schule der Zivilisation, denn das Wort ist die allein menschenwürdige „Waffe"2.
Die Geliebte hat für den Elegiker ,göttliche' Macht. Sie ist für ihn „mehr als Juppiter". Von ihr als Gottheit ist er „schlechthin abhängig" (um diesen Ausdruck des Theologen Schleiermacher hier zu gebrauchen). Sein Zustand ist eine Art Sklavendienst: servitium amoris3. Hier zeigt sich für staatstreue Römer die Skandalträchtigkeit der Elegie. Diese bildet in manchem ein Kontrastprogramm zur traditionellen römischen Gesellschaft und ihrem Staatsgott.
Aber auch von ,dichterischer Freiheit' kann in der römischen Liebeselegie zunächst keine Rede sein. Die Poesie ist grundsätzlich der Geliebten, den Liebesgöttern und einem Überredungszweck untergeordnet. Wer inspiriert den Dichter?
carmina purpureus quae mihi dictat Amor (Amores 2, 1, 38).
Lieder, die mir der purpurne Amor einbläst.
2 Dazu die Arbeiten von W. Stroh (s. Literaturhinweise).
3 Dazu G. Lieberg, Puella divina, s. u. und Stroh 1970.
Amor ist die inspirierende Gottheit. Weil er hier ,diktiert', könnte man ihn fast als dictator bezeichnen. Er hat schon im ersten Gedicht (1, 1) durch den Diebstahl eines Versfußes die epischen Intentionen des Dichters in elegische verwandelt. Neben Amor tritt als motivierende Instanz (besonders nachdrücklich im dritten Buch) Corinna:
Ingenium movit sola Corinna meum (Am. 3, 12, 16; vgl. Trist. 4, 10, 59f.).
„Mein Talent setzte allein Corinna in Bewegung."
Zu der spezifisch ,elegischen' Poetik in den Amores halten wir fest: Inspirierende Instanzen sind nicht etwa Augustus (wie in Vergils Georgica) oder die Staatsgötter, sondern die Liebesgötter4 und die Geliebte selbst. Solche Poetik ist erklärtermaßen subjektiv erotisch und zunächst auf Glaubwürdigkeit (unter der Fiktion der persönlichen Erfahrung) bedacht und somit weitgehend ihrer sogenannten dichterischen Freiheit beraubt.
I B: Andersartige Poetik in Spannung zur elegischen
Zu dieser Poetologie kommt jedoch von Anfang an (und im Laufe der Amores zunehmend) eine ganz andersartige Poetik hinzu, die in Spannung zu der ersteren steht. Das wird spätestens im dritten Buch ganz offensichtlich. Nach Veröffentlichung der ersten beiden Bücher ist der Sprecher in Not. Er hat sein Mädchen allgemein bekannt gemacht und infolge dessen an sein Publikum verloren, Am. 3, 12, 7-10:
Fallimur? An nostris innotuit illa libellis? Sic erit: ingenio prostitit illa meo.
Et merito: quid enim formae praeconia feci? Vendibilis culpa facta puella mea est.
„Täusche ich mich, oder ist sie durch meine Büchlein bekannt geworden? So wird es sein:
Durch mein Talent ist sie öffentlich preisgegeben worden. Und es geschieht mir recht: Wozu habe
ich ihre Schönheit gepriesen? Durch meine Schuld ist mein Mädchen käuflich geworden".
Um Abhilfe zu schaffen, bemüht er nun eine ganz andersartige Poetik. Er erklärt, das Publikum hätte ihm nicht glauben dürfen, da Dichter bekanntlich lügen, 19-20:
Nec tamen ut testes mos est audire poetas: Malueram verbis pondus abesse meis.
„Freilich ist es nicht Brauch, auf Dichter zu hören, als wären sie Zeugen. Es wäre mir lieber
gewesen, meine Worte hätten kein Gewicht gehabt".
Es folgt eine Aufzählung unwahrscheinlicher Mythen nach Art der Metamorphosen. Folgerung, 41-44:
4 Die inspirierende Rolle der Liebesgötter erstreckt sich auch auf die Liebeskunst; denn für ein Lehrgedicht müssen Dichter jeweils die für den Stoff zuständigen Gottheiten anrufen. So wendet sich Vergil in den Georgica an die Götter der Landwirtschaft, Ovid in den Metamorphosen an diejenigen Götter, welche die Verwandlungen hervorgerufen haben (1, 2). Dennoch tritt selbst dort die Bedeutung der Liebesgötter überraschend klar hervor, z.B. wenn Amor den stolzen Apollo, den Schutzgott des Augustus, durch einen Pfeilschuss verliebt macht: „Dein Bogen mag alles treffen, Phoebus, aber meiner trifft dich" (figat tuus omnia, Phoebe, te meus arcus: Met. 1, 463f.).
Exit in inmensum fecunda licentia vatum
Obligat historica nec sua verba fide: Et mea debuerat falso laudata videri
Femina; credulitas nunc mihi vestra nocet.
„Die erfinderische Willkür der Dichter schweift ins Unendliche und fesselt ihre Worte nicht
an historische Glaubwürdigkeit. Eigentlich hätte man meinen müssen, mein Mädchen sei fälschlich gelobt worden. Jetzt aber ist eure Leichtgläubigkeit mein Schaden".
Es stimmt ja, dass Dichter nicht nur Wahrheit verkünden, sondern auch lügen können. Das weiß man seit Hesiod, dessen Musen Wahres und Unwahres verkünden, Theog. 26-28:
„Hirten vom Lande, ihr Lumpengesindel und lediglich Bäuche,
Viel zu erlügen verstehn wir (iö|i£v tyEuöea noAAä Ai-yeiv), auch wenn es wie Wirklichkeit klänge,
Sind wir aber gewillt, verkünden wir lautere Wahrheit". (Übersetzung: verändert nach Thassilo von Scheffer, Wiesbaden: Dieterich 1947.)
Allerdings gibt es einen Einwand gegen Ovids Vorgehen in diesem Zusammenhang: Die Berufung auf die freie, mythenschaffende dichterische Phantasie ist etwas, das im Grunde nicht zu der Behauptung der Elegiker passt, ihre Dichtung sei ganz der Werbung um die Geliebte untergeordnet und stehe völlig im Dienste des ßio; ¿pwxtKÖq, des Lebens für die Liebe. Bei genauerem Zusehen stellt man jedoch fest: Diese Unterordnung der Elegie unter einen Zweck und unter das reale Leben des Liebhabers ist eine Einengung, über die Ovid schon im ersten und im zweiten Buch der Amores hinausstrebt.
Bereits im ersten Buch liegt die Dichtung allein schon zeitlich vor der Liebe. Im ersten Gedicht (1, 1, 1-2) sehen wir das poetische Ich nicht als Liebenden, sondern zunächst als Schreibenden. Er will Erhabenes dichten (das erste Wort lautet Arma wie in Vergils Aeneis); da stiehlt ihm Amor in jedem zweiten Vers einen Versfuß, so dass aus Hexametern elegische Distichen werden. Dabei ist für den Poeten noch nicht einmal ein Mädchen in Sicht. Erst am Ende des Gedichts muss Amor schleunigst den Pfeilschuss nachholen, um den Dichter verliebt zu machen.
Auch im zweiten Buch hat Ovid zunächst höhere Ambitionen als die Liebesdichtung. Er wollte ursprünglich, wie er behauptet, die Gigantomachie besingen. Und er fühlte sich dazu auch stark genug: et satis oris erat (2, 1, 12, „und mein Mund, meine Stimme war dieser Aufgabe gewachsen"). Das ist ein klarer Gegensatz zu Kallimachos (der klein und fein dichten wollte) und dessen römischen Nachfolgern, Dichtern, die sich auf die angeblich geringe Kraft ihres Talentes berufen (um kein staatstragendes Epos dichten zu müssen)5.
Da schließt die Freundin die Tür (clausit amica fores: 2, 1, 17), und prompt fällt dem Poeten Juppiter aus der Hand und er muss wieder „weichmachende" Elegien dichten.
Immerhin wurde vorher deutlich, dass der Dichter über Regenwolken und Blitz samt Juppiter Macht hat, ja diesen gewissermaßen in der Hand hat (in manibus nimbos et cum Iove fulmen habebam: 2, 1, 15). Diese Poetik ist nicht die elegische, vielmehr steht hier im Hintergrund der alte Gedanke von der Macht der Dichtung. Die mythenschöpfende Kraft der Poesie ist ein sublimer Gedanke. Die Griechen schrieben Homer und Hesiod
5 Zu dieser sogenannten ,apologetischen' Thematik: Wimmel 1960.
die Schöpfung ihrer Götter zu (so Herodot 2, 53), auch Horaz6 und Ovid sind sich dessen bewusst, dass nicht etwa nur Mädchen, sondern auch Herrscher wie Augustus für die Verewigung ihres Namens auf die Dichter angewiesen sind. Dem größten römischen Dichter, Vergil, schrieb Macrobius (Anfang 5. Jh.) einen mit Mutter Natur oder dem Schöpfergott vergleichbaren Rang zu (Saturnalia 5, 1, 18-20). Ovid ist derjenige römische Dichter, der sich am häufigsten auf göttliche Inspiration und auf den „Gott in uns" beruft („so viele Dichter anwesend waren, so viele Götter hielt ich für anwesend", quotque aderant vates rebar adesse deos: Trist. 4, 10, 42; „es gibt auch Leute, die glauben, wir hätten göttliche Macht", sunt etiam qui nos numen habere putent: Am. 3, 9, 18, vgl. auch Ars 3, 548). Die Idee des vates, des Sehers, wird von Ovid sogar bei der Auseinandersetzung mit den Mächtigen zugrunde gelegt (in den Metamorphosen (15, 848) fliegt der vergöttlichte Caesar nur „höher als der Mond", Ovid aber „hoch über die Gestirne" (15, 875-876). Im Brief an Perilla (Trist. 3, 7, 48) hat der Caesar (Augustus) keine Macht über Ovids ingenium. Die selbstbewusste Berufung auf das eigene ingenium steht übrigens in elegischer Tradition. Properz weiß um die Vergänglichkeit der architektonischen Weltwunder und fährt dann (über Horaz, Carm. 3, 30 hinausgehend) folgendermaßen fort (3, 2, 25-26):
At non ingenio quaesitum nomen ab aevo Excidet: ingenio stat sine morte decus.
„Aber, den das Talent erwarb, der Name wird niemals
Untergehn. Sein Ruhm dauert und kennt nicht den Tod".
Ovids dichterisches Selbstbewusstsein wurzelt zwar in der Elegie, doch seine Poetik ist bereits seit in seinem ersten Werk auf das Transzendieren der Gattungsschranken hin ausgelegt. Er wird sein individuelles ingenium in immer umfassendere Literaturformen hinaustragen — oder vielmehr sich von seinem ingenium dorthin tragen lassen. Dass er sich mit stärker das Mythologische einbeziehenden Gattungen auseinandersetzen wird, zeigt sich schon in den Amores. Dort ist ausdrücklich von der Tragödie (Am. 3, 1 und 3, 15; es war eine Medea) die Rede, aber auch von den Heroidenbriefen (Am. 2, 18). Die Metamorphosen sind in Gestalt zahlreicher Verwandlungsmythen (gerade in dem poetologi-schen Gedicht Am. 3, 12) gegenwärtig. Nur die Verbannungsgedichte sind in den Amores nicht erwähnt; das zeigt übrigens, dass die Verbannung keine rein literarische Erfindung war, kein Teil seines poetischen Lebensplanes, sondern ein tatsächlicher Schicksalsschlag, der unerwartet in das Leben des Dichters einbrach. (Eine unbewusste Vorahnung liegt in 3, 12, 13 vor, wo er erklärt, seine Dichtung habe ihm geschadet; im realen Leben sollten es freilich nicht die Amores sein, sondern die Liebeskunst, und der Schaden war nicht der Verlust des Mädchens, sondern der Heimat).
Im zweiten Teil, der stärker inhaltlich angelegt ist, werden wir zeigen, wie sich Ovids Auffassung der Liebe von Werk zu Werk wandelt.
6 Hor. Carm. 4, 9, 25-7: Vixere fortes ante Agamemnona / multi. Sed omnes inlacrimabiles/ urgentur ignotique longa/ nocte, carent quia vate sacro („Vor Agamemnon lebten tapfere Helden schon / und viele! Unbeweinbar sind allesamt / und unbekannt, bedrängt von langer / Nacht: denn es gab nicht den heilgen Dichter").
II. Hauptteil: Wandlungen des Liebesverständnisses: Amores-Ars-Heroides-Metamorphoses
Die göttliche Autorität Amors ist auch für das Liebesverständnis in den Amores wichtig; Er und Venus sind nicht nur poetische Chiffren, sie sind Gottheiten. Liebe ist etwas Göttliches, sie darf nicht erzwungen und schon gar nicht käuflich sein. Sie beruht auf freiwilligem Einverständnis zweier Menschen. Amor ist nackt und hat keine Taschen, da er kein Geld nimmt, Am. 1, 10, 15-18:
Et puer est et nudus Amor, sine sordibus annos Et nullas vestes, ut sit apertus, habet.
Quid puerum Veneris pretio prostare iubetis?
Quo pretium condat, non habet ille sinum.
„Amor ist ein Knabe und nackt, sein jugendliches Alter ist frei von schmutziger Berechnung, und um offen und ehrlich zu sein, trägt er keine Kleider. Was befehlt ihr dem Knaben der Venus, sich für Geld öffentlich anzubieten? Er hat keine Tasche7, um den Erlös einzustecken".
Folgerichtig werden in den Metamorphosen die Erfinderinnen der Prostitution, die Propoetiden, von der beleidigten Venus in Stein verwandelt (zur Strafe für ihre Leugnung der Gottheit der Venus und als logische Konsequenz aus ihrer Gefühllosigkeit: Met. 10, 238-242).
Weil Venus eine Göttin ist, verbietet Ovid auch, ihre Mysterien auszuplaudern. Man soll also nicht vor anderen protzen: „Die dort habe ich auch schon gehabt" (haec quoque nostra fuit: Ars 2, 628). Hier geht es um Achtung der Menschenwürde, Ars 2, 607: Prae-cipue Cytherea iubet sua sacra taceri („Vor allem gebietet Venus, ihre Mysterien zu verschweigen"). Dieser Vers wird auch vom Dichter der Carmina Burana (der gewiss kein Kind von Traurigkeit war) wieder aufgenommen und direkt zitiert:
Veneris mysteria iam non occultantur cistis et exposita coram praesentantur: proh dolor! non dedecet palam commisceri? Praecipue Cytherea iubet sua sacra taceri8.
„Die Mysterien der Venus werden nicht mehr in Schreinen [d. h. solchen zur Aufbewahrung heiliger Geräte] verborgen, sondern allen Blicken ausgesetzt und öffentlich zur Schau gestellt. Oh weh! Ist es nicht unpassend sich öffentlich zu vermischen? Vor allem befiehlt Cytherea ihre heiligen Handlungen zu verschweigen".
Auch Goethe stimmt (sogar in seinen recht freizügigen Elegien, 1, 20) zunächst zu:
Zieret Stärke den Mann und freies mutiges Wesen,
O so ziemet ihm fast tiefes Geheimnis noch mehr.
7 Sinus ist der Bausch des antiken Gewandes.
8 Schmeller 1847, 222, Nr. 156.
Allerdings vertraut er sein Geheimnis schließlich dennoch den Versen an, die es dann allen ausplaudern (wie die Binsen das Geheimnis von Midas' Eselsohren Met. 11, 179-193).
In der Forderung nach Diskretion geht Ovid ungewöhnlich weit, bis zum Selbstbetrug. Fordert er doch die Geliebte sogar auf, selbst wenn sie ihm untreu war, am Tage danach alles abzustreiten: cras mihi constanti voce dedisse nega (Am. 1, 4, 70). Ein besonders wichtiger Aspekt der Amores, der hinter solchen überspitzten Gedankenspielen steht, ist die wechselseitige Achtung vor der Menschenwürde beider Partner.
Was die Behandlung der Liebe betrifft, so strebt Ovid schon in den Amores nach umfassender Darstellung. Er bespricht eine Vielzahl von Situationen, darunter auch von den römischen Vorgängern weniger behandelte und nach landläufiger Auffassung eher unpoetische Themen wie Impotenz (3, 7) und Abtreibung (2, 13 und 14). Außer Betracht bleibt allerdings — im Unterschied zu Tibull — die gleichgeschlechtliche Liebe, die auch in der Liebeskunst und den Heroiden zurücktritt, in den Metamorphosen aber berücksichtigt wird. Das Hinausdrängen über die Schranken der Liebeselegie zeigt sich unter anderem daran, dass im dritten Buch die 13. Elegie ein Fest zu Ehren der Ehegöttin Juno beschreibt. Dass der Dichter hier seine Ehefrau erwähnt, ist in der Liebeselegie unerwartet und ohne direktes Vorbild. Der stoffliche Vorgriff auf die Fasti, den später von Ovid verfassten Festkalender, steht im Einklang mit den Intentionen des Properz, der im letzten Buch einige römische Ursprungssagen behandelte und zum Schluss (4, 11) der Matrone Cornelia das Wort erteilte, allerdings keine eigene Ehefrau erwähnte9.
Durchweg herrscht in den Amores der Standpunkt des Mannes vor. Sprecher ist überall der Mann. Das schließt nicht aus, dass in bestimmten Elegien auch der Standpunkt der Frau zur Geltung kommt. So in der Elegie 1, 7, wo die Geliebte, nachdem der Liebhaber ihre kunstvolle, in langen Mühen geschaffene Frisur zerstört hat, auf laute und heftige Reaktionen verzichtet, aber ihn gerade durch ihr beharrliches Schweigen bestraft und den schlimmsten Gewissensqualen aussetzt. Sie vergießt Tränen, gleichzeitig schwitzt er Blut. Die doppelte Metapher drückt dies unnachahmlich aus, Am. 1, 7, 59-60:
Tunc ego me primum coepi sentire nocentem;
sanguis erant lacrimae, quas dabat illa, meus.
„Da fing ich zum ersten Mal an, mich als Missetäter zu fühlen. Die Tränen, die sie vergoss, waren mein Blut".
Sogar bei einem (aus männlicher Sicht) vergleichsweise geringfügigen Anlass (wie der Auflösung der Frisur, die allerdings bei römischen Damen ein in langwieriger Arbeit hergestelltes Kunstwerk war) fühlt sich das elegische Ich in die Lage und die Denkweise der Geliebten ein und hat Schuldgefühle. Das ist ein Symptom der Verfeinerung. Schon Ovids Vorgänger in der Elegie wetteifern miteinander in der Ausschaltung grober Handgreiflichkeiten: Während Tibull 1, 10, 51-64 maßvolle Gewalt gegenüber der Geliebten noch für akzeptabel hielt, übt Properz (2, 5, 21-26) diesbezüglich Kritik an einem gewissen „Bauern" (rusticus: so hatte sich Tibull 1, 1, 8 selbst bezeichnet). Daraufhin verzichtet Tibull im zweiten Buch auf die Rolle des Kleinbauern und wählt eine würdevollere dichterische persona10. Das schließt nicht aus, dass Properz mit Worten nicht selten grausamer ist als der sanfte Tibull. Ovid überbietet hier beide Vorgänger in der Rücksichtnahme.
9 Zur allmählichen Distanzierung von der elegischen Liebe bei Properz: Neumeister 1983.
10 Albrecht 2013, 146-147. Wifstrand Schiebe 1981, 109-110.
Noch sprechender als in den Amores wird das beredte Schweigen in den Metamorphosen sein: Voll Liebe wendet sich Orpheus — entgegen dem göttlichen Verbot — nach Eurydike um, die nun erneut sterben muss. Während bei Vergil Orpheus sich aus heftiger Leidenschaft umwendet, und Eurydike ihm nicht weniger heftige Vorwürfe macht, ersetzt Ovid das vergilische Pathos durch Ethos. Orpheus wendet sich um, weil er besorgt ist, ob Eurydice mit ihrer Fußverletzung den steilen Anstieg bewältigen kann. Er handelt also nicht aus Leidenschaft, sondern aus zarter Rücksicht. Ähnliches gilt für Eurydike: sie macht Orpheus keinerlei Vorwürfe, sondern bleibt stumm (denn sie will sich nicht darüber beklagen, dass er sie liebt), Met. 10, 60-61:
Iamque iterum moriens non est de coniuge quicquam Questa suo. Quid enim, nisi se quereretur amatam?
„Und während sie nun schon zum zweiten Male starb, beklagte sie sich mit keinem Wort
über ihren Mann. Denn worüber hätte sie klagen können, als darüber, dass sie geliebt wurde?"
Schon in den Amores wird zarte wechselseitige Rücksicht vielfach zum Thema gemacht. Die Liebe wirkt hier weniger egozentrisch, weniger besitzergreifend als sie z. B. manchmal bei Properz erscheint. Das heißt aber nicht, dass in den Amores die Liebe fehlt. Nur das Zerstörerische des Affekts tritt vielleicht stärker zurück. Dafür zeigt sich nicht selten die Solidarität der Partner.
Unter einem noch stärker veränderten Aspekt erscheint die Liebe in Ovids Liebeskunst. Nicht nur sind die in den Amores exemplarisch dargestellten, Liebeserfahrungen'11 in der Liebeskunst systematisiert. Durch diesen quasi wissenschaftlichen, technischen Zugang (den die didaktische Poesie als Gattung erfordert) tritt das Liebesgefühl notgedrungen stärker zurück.
Ja, es liegt sogar der Verdacht nahe, dass Ovids Leserinnen und Leser lernen könnten, wie man den Partner täuschen kann. Deshalb hat z. B. im Mittelalter Christine de Pisan (1364-ca.1430) die Liebeskunst verabscheut als einen livre d'Art de grant decevance... et de fausse apparence (ein Buch der großen Täuschung und des falschen Scheines"). Daher verbietet sie ihrem Sohn die Lektüre12. Solche Töne beschränken sich nicht aufs Mittelalter. Im Internet kann man heute noch ähnliche Beiträge finden. In der Tat sollte keine Lehrkraft, der Humor und Ironie fremd sind, dazu gezwungen werden, die Liebeskunst im Unterricht zu behandeln. Seriöse Kritik an der Liebeskunst übt sogar ein Meister der Ironie wie Russlands größter Dichter, Puschkin13, der in seinem Versroman den Dandy Jevgenij Onegin als Experten in der ovidischen Liebeskunst darstellt. Als die junge, unerfahrene Tatjana ihm spontan ihre Liebe erklärt, erteilt er ihr eine trockene Lektion in remedia amoris. Einige Jahre später verliebt er sich wirklich in Tatjana, die inzwischen verheiratet ist. Jetzt weist sie ihn ab. Puschkins Dichtung ist eine implizite Kritik an Ovids Liebeskünsten, die in seinen Augen den Gegenpol zur Liebe bilden.
Ein geistreicher Franzose hat das Werk deshalb „Die Kunst, ohne Liebe zu lieben" genannt (l'art d'aimer sans amour)14. Das ist eine Übertreibung. Denn, da der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, gehört rationales Verhalten zu seiner Natur. Verhaltenswei-
11 Vgl. Gauly 1990.
12 Stroh 1969, 33.
13 Albrecht 1989, 71-89.
14 Ripert 1921, 43-92.
sen werden eingeübt. So ist nicht auszuschließen, dass ein Schüler Ovids, der den Verliebten zunächst nur spielt, sich im Laufe der Zeit wirklich verliebt. Echte Liebe ist also keineswegs ausgeschlossen. Gegen eine Kunstlehre der Liebe bestehen also keine grundsätzlichen Bedenken, zumal es sich bei Ovids Buch nicht um Pornographie handelt, sondern um eine Erforschung der Psychologie der Liebe. In der Geschichte der Psychologie haben überhaupt die Römer (von Lukrez über Seneca bis hin zu Augustinus) Wichtiges geleistet.
Ferner wird nicht immer beachtet, dass Ovid, vor allem im zweiten, aber auch im dritten Buch der Ars ausführlich darauf eingeht, wie man der Liebe Dauer verleihen kann. Der rasch verfallenden Schönheit muss man durch innere Werte, vor allem Geistesbildung aufhelfen. Als ein Dichter, dem Bildung und Kultur nicht nur am Herzen, sondern im Blute liegen, nimmt Ovid in der Liebeskunst jeden Anlass wahr, die Notwendigkeit von Bildung zu betonen.
Sit procul omne nefas! Ut ameris, amabilis esto,
quod tibi non facies solave forma dabit (Ars 2, 107-108).
„Fern sei aller Frevel! [Gemeint sind Magie und Liebestränke]. Um geliebt zu werden, musst du liebenswert sein. Schönheit und gutes Aussehen allein werden dir das nicht bescheren".
Iam molire animum, qui duret, et adstrue formae:
solus ad extremos permanet ille rogos (Ars 2, 119-120).
„Jetzt schon setze deinen Geist in Bewegung, der ja von Dauer ist, und füge ihn zu deiner Schönheit hinzu. Er allein bleibt bis zum letzten Totenfeuer erhalten".
Da Gewalt verabscheuenswert und menschenunwürdig ist, sollten Männer auf das überzeugende Wort setzen und Rhetorik lernen. Und zwar so gut, dass ihre Redekunst vollkommen natürlich wirkt (Ars 1, 459-468). Eine abgespulte Schulrede führt zu keinem Erfolg. Sie klingt im günstigsten Fall abschreckend und im schlimmsten Fall lächerlich. Man muss lernen, sich klar, einfach und natürlich auszudrücken. Ovids Lehren für Liebesbriefe sind über ihren Anlass hinaus für jeden beherzigenswert, der sich auch in anderen Lebens- und Literaturbereichen um guten Stil bemüht. Liebe ist hier mit wirklicher Kultur identisch. Die Parallele Rhetorik-Erotik ist nicht auf den äußeren Gleichklang der beiden Vokabeln beschränkt.
Ähnliches gilt für Ovids Lehren für Mädchen, nur geht es hier nicht um Rhetorik, sondern um noch attraktivere Gebiete. Wenn man auf die Dauer gefallen will, sollte man — meint Ovid — nicht nur auf Schönheit setzen (die, falls überhaupt vorhanden, vergänglich ist), sondern auf Bildung. Hier stehen Musik und Dichtung im Mittelpunkt. Die Lektüreliste für Mädchen (Ars 3, 329-348) ist dabei so anspruchsvoll, dass sie jedem philologischen Seminar Ehre machen würde. Es fehlte in der römischen Gesellschaft ja keineswegs an gebildeten Frauen, sogar an Dichterinnen; noch in der Verbannung wird Ovid in einer Art poetischem Testament (Trist. 3, 7) die junge Autorin Perilla verewigen (wohl seine Stieftochter). Dabei wiederholt er nachdrücklich sein Wissen um die Vergänglichkeit der Schönheit und die Dauerhaftigkeit geistiger Werte.
Man wird der Liebeskunst nur gerecht, wenn man den Akzent berücksichtigt, der hier auf Kultur und Bildung gelegt wird. In gleichem Geiste ist schon die Einleitung seines Werkchens über Schönheitsmittel verfasst15: ein Hymnus auf cultus (Pflege und Kultur), schon dort ist jedoch der Vorrang geistiger Qualitäten betont:
15 Vgl. die Einleitung zur zweisprachigen Ausgabe der Medicamina faciei femineae, Rosati 1985.
Certus amor morum est, formam populabitur aetas (Medic. 45).
„Verlässlich ist die Liebe zum edlen Charakter, das Alter wird die Schönheit verwüsten".
Sufficit et longum probitas perdurat in aevum,
perque suos annos hinc bene pendet amor (Medic. 49-50).
„Redlichkeit reicht aus und dauert ein langes Leben hindurch fort, und über all ihre Jahre kann sich Liebe gefahrlos hiervon abhängig machen".
Die nachdrückliche Empfehlung wechselseitiger Rücksicht, guten Geschmacks im Reden und Schweigen, vor allem die Empfehlung geistiger Interessen — und all dies im Dienste einer dauerhaften Liebe — sind wichtige Punkte, die uns vielleicht über die Gefahren einer Technisierung' der Liebe in der Ars ein wenig hinwegtrösten können.
Noch wichtiger ist die Tatsache, dass die Liebeskunst nicht Ovids letztes Wort in Sachen ,Liebe' war. Er überschreitet von Werk zu Werk immer neue Grenzen. In den Amores war der Sprecher, das poetische Ich (wie bei den elegischen Vorgängern) ein Mann. Das gilt auch noch von der Liebeskunst (wobei er allerdings im dritten Buch dem Standpunkt der Frau gerecht zu werden versucht). In den Heroiden erteilt er endlich (Epist. 1-15) allein den Frauen das Wort. Es sind Briefe mythischer Frauen an ihre (meist untreuen) Männer oder Liebhaber. Das ist eine kühne Neuerung in der elegischen Dichtung der Römer. Der Dichter versetzt sich mit seltener Einfühlung in die Seele der Frau, wie dies in der antiken Literatur sonst nur bei den Tragikern (besonders bei Euripides) und vielleicht noch bei einem Historiker wie Livius oder einem Autor wie Plutarch zu beobachten ist. Die Parallele zur Tragödie ist nicht zufällig. Wie dort wird hier Liebe zum Schicksal. Das ist ein ganz anderer Ausgangspunkt als in der Liebeskunst, wo die Technik und der Spielcharakter, überhaupt die rationale Beherrschung des Affekts im Vordergrund stehen. Im Unterschied zu den Männern, die einen Beruf ausüben oder Tätigkeiten wie Politik, Leibesübungen, Krieg, Jagd nachgehen konnten, standen den Frauen kaum anständige berufliche Tätigkeiten offen, und in den meisten antiken Gesellschaften war ihnen nicht einmal Sport erlaubt. Somit waren für die Frau in der Tat Liebe und Ehe fast die einzige Daseinserfüllung, also eine ernste, schicksalhafte Angelegenheit. So entdeckt Ovid bei der Abfassung der Heroiden eine von ihm bisher etwas weniger beachtete Dimension der Liebe: Liebe als Schicksal. Die tragischen Monologe — etwa eines Euripides — wirken stark herein, da in ihnen die unaufhebbaren inneren Spannungen im Schicksal der verlassenen Frauen zur Sprache kommen.
Unter dem Aspekt des Schicksals stehen auch Briefe von epischen Heroinen (Penelope, Briseis, Helena, Dido). Dabei liest Ovid seine Vorlagen vielfach gegen den Strich und spielt den damals eher neuartigen Standpunkt der Frau gegen den der traditionellen Männerwelt aus. Begreiflicherweise machen die Männer hier oft keine gute Figur: Achill ist ein schlechter Liebhaber, der seine Gefangene ohne Abschiedskuss ziehen lässt, sie danach überhaupt nicht zurückfordert, ja sie schließlich nicht einmal zusammen mit teuren Geschenken zurück nehmen will; er ist aber auch ein schlechter Held, da er untätig herumsitzt und Leier spielt, während die Trojaner siegreich vordringen. Ebenso ist (Epist. 7, 30) Aeneas, der Dido verlässt, infidus, also das Gegenteil von pius. Da die Frauen argumentieren müssen, kommen ihnen natürlich häufig die Mittel der Rhetorik zu Hilfe. Dabei werten die Damen die jeweiligen epischen Vorlagen (Homer, Vergil) mit kriminalistischer Sorgfalt und advokatischem Geschick aus.
In den Heroiden herrscht somit eine höchst bedeutungsvolle und reizvolle — nicht selten oppositionelle, ja provokatorische — Intertextualität mit Epen und Tragödien, wobei — vor allem im Vergleich zum Epos — der weibliche Standpunkt neue Aspekte sichtbar macht. In den Doppelbriefen (in denen abwechselnd der Mann und die Frau sprechen: Epist. 16-21), kommt eine neue — fast noch spannendere Intertextualität (genauer: Intratextualität) hinzu: hier nimmt Ovid nämlich unter anderem zusätzlich auf seine Liebeskunst Bezug. Paris und Helena haben, wie Textparallelen zeigen, Ovids Liebeskunst gründlich studiert (Paris rennt trotzdem blind ins Verderben, die kluge Helena aber — was noch schlimmer ist — sehenden Auges. Auch das seröse Werben des Acontius um Cydippe zeigt Spuren dieser Lektüre.
Kurz: Inhaltlich ist in den Heroiden das Liebesverständnis dank der Perspektive der Frau um die schicksalhafte Dimension bereichert und vertieft. Zugleich gelingt es Ovid, jeweils in dem relativ schmalen Umfang eines Briefes sich kritisch mit den wichtigen Literaturgattungen der Antike auseinanderzusetzen (Epos, Tragödie, und, wenn wir den Sappho-Brief hinzunehmen dürfen, Lyrik). Die Heroiden sind also nebenbei auch eine kleine Enzyklopädie der antiken Dichtung. Darüber hinaus bezieht Ovid in den Doppelbriefen in neuer Selbstreflexion (also intratextuell) seine eigenen früheren Werke, besonders auch die Liebeskunst, mit ein.
Abschließend sei nur angedeutet, dass diese graduelle Erweiterung und Vertiefung des Liebesverständnisses sich in den Metamorphosen fortsetzen wird. Hier werden früher erzählte Geschichten wieder aufgegriffen und vielfach anders verstanden: das Los von Daedalus und Icarus, in der Liebeskunst psychologisch durchleuchtet, wird in den Metamorphosen schicksalhaft gedeutet16. Ähnliches gilt von der Liebe zwischen Cephalus und Procris). Darüber hinaus wird die Palette der Liebesgeschichten um Sonderformen erweitert (Knabenliebe, Liebe zwischen zwei Mädchen, Inzest, Liebe zu einer Statue), aber auch durch ein vertieftes Verständnis der Liebe zwischen Eheleuten (Ceyx und Alcyone, Cephalus und Procris). Doppelverwandlungen und Doppelapotheosen (Cadmus und Harmonia, Philemon und Baucis, Romulus und Hersilia — möglicherweise eine Erfindung Ovids — lassen sich vor dem Hintergrund des platonischen Mythos im Symposion (Symp. 191d-193c) so verstehen, dass Mann und Frau als zwei Hälften eines Ganzen gedeutet werden. Bei Platon trägt der Komödiendichter Aristophanes den Mythos vom ursprünglich vollkommenen Kugelmenschen vor. Um die Gefahr zu bannen, diese vollkommenen Wesen könnten den Himmel stürmen, teilte Zeus die Kugeln in zwei Hälften; seitdem vergessen wir, den Himmel zu stürmen, denn jeder ist auf der Suche nach seiner besseren Hälfte. Diese Sage trägt nicht nur scherzhafte Züge, sie erweist sich als altes Erbe der Menschheit17. Wollte Ovid seiner römischen Gesellschaft durch die Doppeapotheosen einen Spiegel vorhalten? Hatte er die Gefahr erkannt, dass in der römischen Kultur mit ihrer vielfach zu beobachtenden Ausrichtung auf Militärisches das weibliche Element verkürzt werden könnte, so dass die schöpferischen Kräfte versiegen und eine Erstar-
16 Der Tod des Icarus wird in den Metamorphosen nachträglich als Vergeltung für den Mord des Daedalus an seinem besten Schüler Perdix gedeutet.
17 Auch laut dem Alten Testament (Genesis 1, 27) schuf Gott „den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn und schuf sie einen Mann und eine Frau". Der Wechsel vom ursprünglichen Singular [„ihn": oto] zum Plural [„sie": otam] legt nahe: Beide zusammen sind ein Ebenbild Gottes. Die spätere Erschaffung Evas aus der „Rippe" Adams (Genesis 2, 21-2) widerspricht dieser Deutung nicht, sondern bestätigt sie: tselah („Rippe") heißt auch „Seite", „Seitenstück" (pendant) und bezeichnet überhaupt die Hälfte eines symmetrischen Ganzen (z. B. Türflügel).
rung eintritt? Hat er durch seine Würdigung des weiblichen Elements schon seit Amores, Liebeskunst und Heroiden und durch die wohl von ihm erfundene Doppelapotheose des ersten römischen Herrscherpaares versucht, den traditionell die männlichen Züge ihrer Kultur betonenden Römern ein neues, weniger einseitiges Bild ihrer Kultur zu vermitteln?
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For citation: Albrecht M. von. Ovids Liebesdichtung. Philologia Classica 2016, 11(1), 42-53. DOI: 10.21638/11701/spbu20.2016.104
ЛЮБОВНАЯ ЛИРИКА ОВИДИЯ
Михаэль фон Альбрехт
Представленная статья логичным образом разделяется на две части. В первой рассматривается вопрос о сосуществовании нескольких поэтических техник в «Любовных элегиях» Овидия. Автор обсуждает их на фоне подхода поэта к теме любви — от начала творческого пути и до преодоления границ любовной элегии как жанра. В этой связи на первый план выходят две рассматриваемые элегии из сборника "Amores" (2, 1 и 3, 12). Во второй части автор исследует изменения в понимании любви Овидием и прослеживает их от «Любовных элегий» и «Искусства любви» к «Героидам», а затем и «Метаморфозам». В числе прочего в работе рассматриваются схожие любовные истории, которые по-разному освещаются в ранних и поздних произведениях Овидия.
Ключевые слова: Овидий, любовная лирика, латинская любовная элегия, рецепция римской литературы.
Received: 10.02.2016 Final version received: 19.05.2016