HORIZON 3 (2) 2014: I. Research: Guillermo Ferrer: 81-98
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ÉTUDES PHÉNOMÉNOLOGIQUES
MONADOLOGIE, KRITISCHE PHILOSOPHIE UND PHÄNOMENOLOGIE DES UNSTERBLICHEN ICH (LEIBNIZ, KANT UND HUSSERL)1
GUILLERMO FERRER
Doctor of Philosophy of Bergische Universität Wuppertal, undergraduate Studies of Philosophy at Universidad Panamericana de México and Universidad Nacional Autonoma de México (UNAM); presently lecturer at Central-European Institute of Philosophy at Charles University, Prague. 15800 Prague, Czech Republic.
E-mail: [email protected]
MONADOLOGY, CRITICAL PHILOSOPHY AND PHENOMENOLOGY OF THE IMMORTAL „I“ (LEIBNIZ, KANT AND HUSSERL)
This paper aims to research the different views of Leibniz, Kant and Husserl concerning the immortality of the «I». For this purpose I will read the Monadology from a phenomenological perspective, but taking into account Kants exposition of the Paralogismes in the Critic of Pure Reason. There he points out the illusion which consists in taking the identical, but finally empty representation of the «I» for the givenness of his real substantiality, even his possible persistency after death. Because of this appearance which arises again and again from our very self-awareness we trend to assert that the «I» could persist indefinitely, besides that he couldn’t be annihilated at all due to internal causes or to an antagonism with circumstances of the external world. But in spite of the force of this critic, we can find in Leibniz‘ Monadology and somehow in Husserls* writings drafts of another conception of the selfawareness which includes the experience on an organical continuity of the body. In the face of Kants* critic, this conception could perhaps raise new phenomenological questions about the relationship of self-awareness, mortality and even immortality of the «I». Thereby I want to show to what extent the question about the giveness or not-giveness of a certain infinity of self-consciousness can contribute to renew the meaning of a phenomenology of the death and the experience of mortality.
Key words: Leibniz, Kant, Husserl, monad, self-awareness, infinity, immortality.
МОНАДОЛОГИЯ, КРИТИЧЕСКАЯ ФИЛОСОФИЯ И ФЕНОМЕНОЛОГИЯ БЕССМЕРТНОГО Я (ЛЕЙБНИЦ, КАНТ И ГУССЕРЛЬ)
ГИЛЬЕРМО ФЕРРЕР
Доктор философии Университета Вупперталя, выпускник Панамериканского университета (Мексика) и Национального автономного университета Мехико (UNAM); преподаватель Центрально-Европейского Института Философии при Карловом ^иверситете, Прага. 15800 Прага, Чехия.
E-mail: [email protected]
Целью этой статьи является исследование взглядов Лейбница, Канта и Гуссерля относительно бессмертности «Я». Для этого я предлагаю прочесть «Монадологию» в феноменологической перспективе, однако, принимая во внимание Кантовское изложение паралогизмов в «Критике чистого разума». Кант указывает на иллюзию, состоящую в том, что мы принимаем идентичное, но, в конечном счёте, пустое представление о «Я» за данность в её реальной субстанциальности, примысливая этому «Я» даже возможность сохраниться после смерти. Из-за этой видимости, возникающей вновь и вновь прямо из нашего само-сознания, мы склонны к тому, чтобы утверждать, что «Я» может бесконечно сохраняться, даже что оно не может быть аннигилировано в силу внутренних причин или в результате 1
1 Die Grundgedanken des vorliegenden Artikels entstammen meinen Seminaren des WS 2013 und des SS 2014 am Mitteleuropäischen Institut für Philosophie der Karls-Universität in Prag. Dort wurden Texte von Leibniz, Kant und Husserl gelesen und zur Diskussion gestellt, um der Rolle des Begriffes des Unendlichen in einer Phänomenologie des Todes Rechnung zu tragen.
© Guillermo Ferrer
HORIZON 3 (2) 2014
81
противоборства с обстоятельствами внешнего мира. Но, несмотря на силу этой критики, мы можем найти в «Монадологии» Лейбница, а некоторым образом и в рукописях Гуссерля, другую концепцию самосознания, которая включает опыт в органическую непрерывность живого тела. Перед лицом Кантовской критики, эта концепция может спровоцировать новые феноменологические вопросы о соотношении самосознания, смертности и даже бессмертия «Я». При этом я хочу показать, в какой мере вопрос о данности или не-данности некоторой беконечности самосознания может послужить вкладом в феноменологию смерти и опыта смертности.
Ключевые слова: Лейбниц, Кант, Гуссерль, монада, само-сознание, бесконечность, бессмертие.
Bekanntlich hat Husserl Grundbegriffe der leibnizschen Monadologie aufgegriffen und neu gestaltet, um die Strukturen des transzendentalen Subjekts noch tiefer zu beschreiben und das Problem der Intersubjektivität lösen zu können. Aber inwiefern eignet sich Husserl die leibnizsche Lehre der «Unvergänglichkeit» der Monade an, wenn er die Unsterblichkeit des transzendentalen Ich behauptet?2 Die Absicht des vorliegenden Artikels besteht darin, eine Antwort auf diese Frage zu entwerfen. Dazu werde ich meinen Gedankengang in drei Teile gliedern. Erstens werde ich die Frage stellen, wie Husserl zum Begriff eines unsterblichen transzendentalen Subjekts gekommen ist. Es wird gezeigt, dass ein solcher Begriff den Anspruch auf die phänomenologische Aufweisbarkeit eines unendlichen Bewusstseinsstroms und der Fortdauer eines mit ihm verbundenen transzendentalen Ich erhebt. Zweitens werde ich auf Kants Kritik der reinen Vernunft Bezug nehmen. Dort bezeichnet er die These eines nach dem Tod fortlebenden Bewusstseins als einen sich aus der scheinbaren Gegebenheit eines substantiellen und einfachen Ich ergebenden Paralogismus. Im dritten Teil werde ich weitere Fragen zu beantworten versuchen: Inwiefern gibt es in Husserls Analysen leibnizsche Leitmotive, die der kantischen Kritik gegenüber die Unsterblichkeit des transzendentalen Bewusstseins phänomenologisch plausibel machen könnten? Hier möchte ich aber nicht unbedingt die husserlsche These des unsterblichen Ich befürworten, sondern vielmehr einen Ansatzpunkt für Diskussionen über den phänomenologischen Begriff des Unendlichen bieten, der dieser These zugrunde liegt. Dazu werde ich meine abschließenden Überlegungen widmen.
1. DAS HUSSERLSCHE ARGUMENT FÜR DIE UNSTERBLICHKEIT DES TRANSZENDENTALEN ICH
Eine Grundidee des husserlschen Beweises3 für die Unsterblichkeit des transzendentalen Ich ist die Undenkbarkeit einer aufhörenden lebendigen Gegenwart. Ein anderer Grundgedanke ist der Ausschluss irgendeines «vernichtenden Widerstreits» des Lebensstroms mit einem anderen Seienden, dem kein «Dann-Sein» des transzendentalen Subjekts folgen würde. Dabei geht es um zwei Aspekte oder Varianten des Arguments für die transzendentale Unsterblichkeit, deren Entwürfe bereits in der mo-nadologischen Metaphysik von Leibniz enthalten sind. Mutatis mutandis hat Husserl versucht, sie mit phänomenologischen Methoden zu unterstützen. Einerseits führt er eine transzendentale Reduktion
2
3
Der ähnliche Begriff der Unsterblichkeit bei Husserl und Leibniz ist bereits manchen Forschern aufgefallen. Folgende Beiträge zu diesem Thema scheinen mir besonders relevant: (MacDonald, 2007, 1-18; Altobrando, 2010, 211-220). Worte wie «Beweis» oder «Argument» scheinen hier unangebracht zu sein, denn die phänomenologische Herangehensweise beruht nicht zunächst auf logischen Schlussfolgerungen aus Prämissen, sondern auf Beschreibungen der Erfahrung. In der Tat lässt Husserl zunächst die These eines unsterblichen transzendentalen Bewusstseins auf der Aufweisbarkeit seiner ungebrochenen Präsumtionsform beruhen: Trotz aller Kontingenz der protentionalen Erwartungen müsse immer wieder eine neue, inhaltlich erfüllte Gegenwart auftreten. Aber diese Apodiktizität des protentionalen Bewusstseins bedeutet nicht sofort die Unendlichkeit der Zukunft des transzendentalen Lebens. Diese bedarf einer «Ableitung» der unendlichen Zukunft von der unendlichen Vergangenheit, in welcher es zwar ein transzendentales Leben gab, jedoch war es «stumm» und «schlummernd», es befand sich in einem Latenzzustand, wie eine «schlafende Monade». Zu diesem latenten Leben gelangt nicht die phänomenologische Anschauung unmittelbar, wobei eine «Rekonstruktion» dieses frühen Zustands vonnöten ist. Dasselbe gilt für die Beschreibung eines transzendentalen Lebens nach dem Tod des empirischen Ich. Man sieht bereits, inwiefern das phänomenologische «Argument» für die transzendentale Unsterblichkeit vielschichtig ist.
82
GUILLERMO FERRER
auf die unaufhörliche lebendige Gegenwart (als allerletztes Residuum des Bewusstseins) durch. Andererseits stützt er sich auf ein imaginativ-variierendes Verfahren, welches die wesentliche Unverletzlichkeit der Präsumtionsform bzw. Protentionalität des Bewusstseinsstroms hervorhebt.
a) Die Unaufhörlichkeit der lebendigen Gegenwart und die Unsterblichkeit des transzendentalen Ich
Um diese Ansätze zu verdeutlichen, werde ich nun auf einen ersten Moment des husserlschen Gedankengangs eingehen. Betrachten wir zunächst eine bedeutende Passage der Späten Texte über Zeitkonstitution (C-Manuskripten), an der Husserl eine erste Variante seines Arguments darstellt:
Es ist evident, dass das konkrete Aufhören, natürliche Aufhören der lebendigen Gegenwart, nicht als eine Tatsache, nicht als ein Seiendes, als ein Erfahrbares denkbar ist. Was ja hieße, dass ich dieses Aufhören konstatieren und immer wieder als Aufhören identifizieren könnte, also eben nicht, dass das Aufhören aufgehört hatte und nach dem Aufhören ein Vergangenes hätte usw. Lauter Unsinn (Husserl, 2006, 96).
Aus diesen Zeilen geht eine für das ganze Argument wesentliche Idee hervor: Das Aufhören der lebendigen Gegenwart könnte keinem objektiven Vorgang gleichkommen, denn dieser sollte sich eben im transzendentalen Bewusstsein konstituieren. Aber wie könnte das Aufhören der lebendigen Gegenwart selbst im inneren Zeitbewusstsein stattfinden? Nur im folgenden Szenarium: Das im Sterben liegende transzendentale Subjekt sollte irgendwie dem Ende jedes impressionalen Auftretens und jeder seiner retentionalen und protentionalen Modifikationen zuschauen. Diese Erfahrung hätte einen impressionalen Anfang, dessen erste Phasen im retentionalen Kontinuum versinken würden. Aber dann würden sie sich weiter im retentionalen Bewusstsein als soeben-gewesen und allmählich als ferner-gewesen darstellen. Damit würde die Richtung des retentionalen Kontinuums automatisch in die nachfolgenden Phasen des Aufhörens umkehren werden, nämlich in eine auf seine künftigen Phasen bezogene protentionale Intention.
Gleichwohl erweist sich solch eine transzendentale Erfahrung des eigenen Todes als völlig widersprechend oder «lauter Unsinn». Sie sollte sich in einem unendlichen Kontinuum retentionaler und protentionaler Modifikationen zeitigen, was evident mit keiner Erfahrung eines endgültigen Aufhörens des transzendentalen Lebens gleichzusetzen wäre. Im Gegensatz bestünde sie in einer weiteren Erfüllung des «innersten Zeitbewusstseins». Mit anderen Worten: Deshalb, weil ein Aufhören der lebendigen Gegenwart unkonstituierbar ist, ist der Tod des transzendentalen Subjekts einfach undenkbar.
Der Schwerpunkt liegt hier darauf, dass man durch keine Anstrengung des Denkens und der Phantasie die lebendige Gegenwart, bzw. den Bewusstseinsfluss zu einem «empirischen Faktum», einen «Seienden» oder irgendeinen «Erfahrbaren» entarten kann, welches aufhören könnte oder müsste. Denn damit wäre ein weiterer Fluss der lebendigen Gegenwart, als Hauptsitz der Konstitution dieses «Aufhörens», vorausgesetzt. Dadurch hebt die erste Variante den fortströmenden Bewusstseinsfluss von jedem endlichen Vorgang ab. Hierunter ist auch der unumgängliche Tod des empirischen Subjekts zu zahlen, wie Husserl in einer Textstelle der Analysen zur passiven Synthesis schreibt:
Das Fortleben und das Ich, das fortlebt, ist unsterblich -notabene das reine transzendentale Ich, nicht das empirische Welt-Ich, das sehr wohl sterben kann. Dessen Tod, dessen leibliches Zerfallen und somit dessen Unauffindbarkeit in der objektiven, raumzeitlichen Welt, dessen Nicht-dasein in ihr ist gar nicht geleugnet (Husserl, 1966, 378).
HORIZON 3 (2) 2014
83
Keine protentionale Vorzeichnung meines transzendentalen Aufhörens, kein Bevorstehen meines früher oder später kommenden Todes im transzendentalen Sinne sei möglich. Hier bezeichnet das Wort «möglich» vor allem ein irgendwie «vorstellbares», «erfahrbares» oder «denkbares» Ende meines transzendentalen Seins. In dieser Hinsicht sind Husserls Behauptungen unzweideutig: «Nur das ist “undenkbar” für mich, dass ich transzendental aufhöre» (Husserl, 2006, 97, hervorh. G. F.).
Aus einer phänomenologischen Perspektive kann man sagen, dass der Tod in einer endgültigen Trennung des transzendentalen Ich vom empirischen Ich besteht. Im transzendentalen Bewusstseinsstrom konstituiert sich der Mensch als ein weltliches Vorkommnis mit Anfang und Ende. Hingegen ist das transzendentale Ich insofern unsterblich, als er mit einem unaufhörlichen Bewusstseinsfluss verflochten ist. Zwar transzendiert er das immanente Sein des Erlebnisstroms, jedoch er fungiert immer als der feste Pol jedes Punktes des Bewusstseinsurprozesses, sogar dann, wenn seine Selbstobjektivierung in der Welt, also sein wachen Leben, zu Ende gekommen ist, wobei das transzendentale Ich in einen nicht widerrufharen «Tiefschlaf» fällt: «Eine Monade, z.B. eine menschliche, die stirbt, verliert nicht ihre Erbschaft, aber sie versinkt in absoluten Schlaf <...>; aber dieser Schlaf kann nicht zum Wachen werden wie der periodische Schlaf im menschlichen Dasein» (Husserl, 1973, 609). Das transzendentale Ich wickelt sich sozusagen in eine dunklen hyle ein, die nicht mehr als weltbezogen aufgefasst werden kann.
b) Die Unverletzlichkeit der protentionalen Form der lebendigen Gegenwart
Eine zweite Variante des Arguments stellt noch einen anderen Zug der Unsterblichkeit des transzendentalen Ich dar. Wir finden sie in der folgenden Passage der Analysen zur passiven Synthesis:
Sowie man den Gedanken des «Dann-nicht-Seins» vorstellig macht, setzt man ein «Dannsein» voraus, mit dem das Nicht-sein streitet. Man unterschiebt dem möglichen Aufhören eines jeden beliebigen einzelnen Seins ein vermeintliches Aufhören des Lebensstroms.
Das Aufhören selbst als gegenständliches Aufhören setzt ein Nichtaufhören, nämlich das Bewusstsein voraus, in dem das Aufhören bewusst ist (Husserl, 1966, 377-378).
Diese Variante wiederholt den Gedanken eines Irrtums, der darin besteht, uns das «Aufhören», bzw. «Dann-nicht-sein» des transzendentalen Bewusstseins nach dem Muster eines gegenständlichen Vorgangs vorzustellen versuchen. Hier warnt uns Husserl noch einmal vor einem falschen Schritt, nämlich einer Art von vitium subreptionis, einem Fehler der Erschleichung. Infolgedessen unterschieben wir «dem möglichen Aufhören» eines konstituierten gegenständlichen Seienden ein «vermeintliches Aufhören des Lebensstroms». Noch einmal besteht Husserl auf den Widersinn der Vorstellung eines Aufhörens der lebendigen Gegenwart: Um uns ein solches Aufhören vorstellen zu können, vergegenständlichen und entarten wir es zu einem quasi objektiven Vorgang, aber dadurch setzen wir stillschweigend ein «Nichtaufhören», nämlich das Bewusstsein selbst voraus, «in dem das Aufhören bewusst ist». Wir bilden uns einen Widerstreit zwischen dem transzendentalen Bewusstsein und einem von außen her kommenden Bedrohlichen ein. Aber wenn solch ein Widerstreit stattfinden würde, dann sollte er sich in weiteren Phasen ausdehnen. Jede «Gefahr» für das transzendentale Ich, die durch einen Widerstreit heraufheschworen werden könnte, löst sich also in die übertragene Vorstellung von protentionalen Vorzeichnungen eines weiteren «Dann-seins» auf.
Die leibnizsche Idee einer «Fensterlosigkeit» oder monadischen Immanenz, die von außen her weder vermindert noch vernichtet werden könnte, nimmt hier bei Husserl eine andere Gestalt. Der hauptsächliche Akzent liegt hier auf der Protentionalität als Gewähr eines unendlichen Fortgangs des Bewusstseinsflusses, und dies aufgrund ihrer Formalität oder Wesenheit selbst. Diesem Punkt messe
84
GUILLERMO FERRER
ich eine große Bedeutung für die weiteren Überlegungen bei. Diesmal werde ich mich auf eine Textstelle der C-Manuskripte über das Zeitbewusstsein beziehen, um die Formalität der Präsumtionsform des transzendentalen Bewusstseins näher zu bestimmen:
...die transzendentale strömende Gegenwart hat in apodiktischer Notwendigkeit in jeder Phase die invariable Form: Präsumtion von Zukunft, und konkret-kontinuierlich ist die Form kontinuierlichen Seinwerdens als künftige <...> seiner Vergangenheit festgelegt. Aber im Strömen, gemäß dieser korrelativ verharrenden Form, kann im Sondergehalt des als künftiges Sonderereignis faktisch Präsumierten die Wandlung des «anders» statthaben, das natürlich in seinem «Anders-Eintreten» darum doch die invariante Form nicht verletzt (Husserl, 2006, 97, hervorh. G. F).
Daraus liest sich zwar eine gewisse «metaphysische» Begriffsbildung der lebendigen Gegenwart heraus, jedoch nur sofern wir unter dem Eigenschaftswort «metaphysisch» eine Wesensanalyse der transzendentalen Seinssphäre verstehen. Indes bedarf es hier weiterer Präzisierungen: Eine beliebig gewählte transzendental-phänomenologische Bestimmung der Seinsweise der lebendigen Gegenwart kann erst dann als metaphysisch bezeichnet werden, wenn sie auf einer apodiktischen Evidenz beruht, welche ihr «Nichtsein» völlig ausschließt. Der Schwerpunkt der oben zitierten Textstelle liegt darin, die apodiktische Notwendigkeit der Protentionalität, bzw. Präsumtionsform des transzendentalen Bewusstseins mit ihrer invariablen, somit unverletzlichen Form zu verbinden. Dazu ist ein methodologisches Verfahren erforderlich, durch welches gezeigt wird, wie die Präsumtionsform des Bewusstseins jedem Nichtsein, also jedem vernichtenden Widerstreit widersteht.
Denken wir uns etwa den Extremfall eines Zusammenbruchs der ganzen Weltkonstitution, indem alle Antizipationen der Erfahrung durchgekreuzt würden. Möge das transzendentale Ich dieser Katastrophe einer «Weltvernichtung» zuschauen oder als empirisches Subjekt sie erleiden und davon sterben, trotzdem würde die protentionale Form der lebendigen Gegenwart vom Widerstreit mit dem «Dann-nicht-sein» der konstituierten Welt unberührt bleiben. Sogar wenn wir uns unseren letzten Augenblick vorstellen, unser Im-Sterben-Liegen, setzen wir die Präsumtionsform voraus, und zwar das protentionale Bewusstseins weiterer Phasen dieses objektiven Vorgangs sowie auch seine allmähliche Versenkung im retentionalen Horizont. Damit bestätigt sich paradoxerweise die Festigkeit und Unverletzlichkeit der Präsumtionsform der lebendigen Gegenwart. Denn trotz des Widerstreites mit Umständen der äußeren Welt, denen ich als empirisches Subjekt ausgeliefert bin, und die meinen Tod verursachen, konstituieren sich noch weitere protentionale Vorzeichnungen eines künftigen «DannSeins» des transzendentalen Bewusstseins. Darin besteht das methodologische Verfahren, welches durch eine imaginative Variation zum Eidos der unverletzlichen Protentionalität führen soll. Es handelt sich sozusagen um die imaginative Übertragung auf die Zukunft eines Widerstreits zwischen dem transzendentalen Subjekt und einem beliebig ausgewählten Unbekannten x, welches das empirische Subjekt bedrohen und sogar vernichten kann, ohne dadurch die Präsumtionsform einer neu erfüllten Gegenwart zu berühren.
Dennoch kommt diese Undurchstreichbarkeit der Präsumtionsform («Es kommt ein neues Jetzt») noch nicht der unendlichen Zukunft des monadischen Ich gleich, so Husserl [vgl. (Husserl, 1966, 378)]. Vielmehr bezeichnet sie eine stetige Öffnung des protentionalen Bewusstseins auf neue hyletische Inhalte, sogar dann, wenn ein objektiver Vorgang unterbrochen wurde oder die protentionalen Vorzeichnungen das «Wie» des Künftigen verfehlen. Aber die sozusagen aktuale Zukunftsunendlichkeit jedes monadischen Ich soll noch von der Unendlichkeit seiner Vergangenheit abgeleitet werden. Diese Ableitung beweist, dass unter allen Umständen das protentionale Bewusstsein einen Inhalt erwartet, der in einer unendlichen Vergangenheit sinken wird. Oder noch anders gesagt: Unter allen Umständen hat das protentionale Bewusstsein einen Inhalt erwartet, der zur Vergangenheit geworden ist.
HORIZON 3 (2) 2014
85
Dass endlich die Zukunft unendliche Zeit bedeutet, ist leicht zu sehen. Die Wiedererinnerung lehrt, dass immer wieder und notwendig das in jeder vergangenen Gegenwart Vorerwartete als neue Gegenwart eingetreten ist und zur Vergangenheit geworden ist, und es ist nun überhaupt die Notwendigkeit zu sehen, dass der protentionale Horizont, der jeder Gegenwart anhaftet, Erfüllungsmöglichkeiten hat, aber nur in der Form einer vorerwarteten Gegenwart und demnach einer vorerwarteten Vergangenheit (Husserl, 1966, 379).
Im Hinblick auf das Faktum der Wiedererinnerung erweist sich das protentionale Bewusstsein sozusagen als ein Ort, zu dem unendlich viele neue Gegenwarten zuströmen und tatsächlich zugeströmt haben, bevor sie im retentionalen Bewusstsein versanken. Daher erwartet das protentionale Bewusstsein ununterbrochen und apodiktisch neue Gegenwarten, welche zu vergangenen Gegenwarten werden. Bemerkenswerterweise besteht Husserl auf die Unendlichkeit des Wiedererinnerungshorizonts, wobei es unmöglich ist, sich in einem absoluten Anfang des transzendentalen Lebens zurückzuversetzen:
Wie das Aufhören nur im Prozess denkbar ist, aber nicht denkbar ist das Aufhören des Prozesses selbst, so ist das Anfangen nur im Prozess denkbar, aber nicht denkbar als Anfangen des Prozesses.
Vor dem Anfang kann eine Leere liegen, ein indifferentes, eintöniges, stummes Dämmern, aber selbst das ist Vergangenes und hat die Wesensstruktur des Zeitlichen (Husserl, 1966, 378).
Aus einer transzendental-phänomenologischen Perspektive kann man Folgendes sagen: Wenn ich auf die frühesten Strecken meiner Lebensgeschichte und weiterhin auf meine Geburt zurückgehe, kann ich keinen einzelnen Punkt des retentionalen Horizontes als einen absoluten Anfang meines transzendentalen Lebens festsetzen. Aber diese Anfangslosigkeit des transzendentalen Ich kommt keineswegs einem ewigen wachen Leben gleich. Es handelte sich vielmehr um ein Leben, das «innerlich passiv-wahrnehmungsmäßig erschien, aber ohne jede Abhebung, daher ohne jede Icherfassung» (Husserl, 1966, 380). Vom monadischen Ich kann man also sagen, dass es weder geschaffen worden ist noch vernichtet werden kann. In der Hinsicht ist es zwar unendlich, wobei diese Unendlichkeit gar nicht mit einer göttlichen Absolutheit gleichwertig ist. Dem wachen Leben des transzendentalen Ich ist eine unendliche Zeit vorangegangen, in der es nur eine «schlummernde» Monade war. Den Tod des empirischen Subjekts wird das transzendentale Ich zwar überleben, jedoch wird es in einer «ewigen schwarzen Nacht» verbleiben.
2. DER SCHEIN EINER UNENDLICHKEIT DES TRANSZENDENTALEN ICH:
DIE PARALOGISMEN IN DER KRITIK DER REINEN VERNUNFT
Die These eines unsterblichen transzendentalen Ich kommt also größtenteils darauf an, der unendlichen Beharrlichkeit des Bewusstseins einen phänomenologischen Inhalt verleihen zu können. Größtenteils stützt sich die phänomenologische Bestimmung eines Unendlichsseins des Ich vor und nach dem Tod auf eine «rekonstruktive» Vorgehensweise [vgl. (Husserl, 1973, 608)], welche sich auf der Grundlage von der Anschauung aufzubauen will. Daher kann sie zunächst den Eindruck vermitteln, der kantischen Kritik zu entgehen. Denn diese geht davon aus, dass die Vorstellung «Ich denke» bloß leer ist und mir keineswegs die Art und Weise meines Daseins geben kann. Hingegen soll sich das reine Ich der transzendentalen Phänomenologie konkret als der Pol jedes im Bewusstseinsstrom vorfindliche Erlebnisses aufweisen. Es bekommt eine anschauliche Bestimmung aus den unterschiedlichen und immer wechselnden Weisen, in welchen es an jedem Zeitpunkt des Bewusstseinsflusses beteiligt ist. Kurzum: Es ist kein leeres, sondern ein phänomenologisch beschreibbares Ich, dessen Präsenz jedes faktische Erlebnis und jeden hyletischen Inhalt des einen, unendlichen Bewusstseinsstroms umspannt:
86
GUILLERMO FERRER
Das Ich scheint beständig, ja notwendig da zu sein, und diese Notwendigkeit ist offenbar nicht die eines stupide verharrenden Erlebnisses, einer «fixen Idee». Vielmehr gehört es zu jedem kommenden und verströmenden Erlebnis, sein «Blick» geht «durch» jedes aktuelle cogito auf das Gegenständliche. Dieser Blickstrahl ist ein mit jedem cogito wechselnder, mit dem neuen neu hervorschiessend und mit ihm verschwindend. Das Ich aber ist ein Identisches. Mindestens, prinzipiell betrachtet, kann jede cogitatio wechseln, kommen und gehen, wenn man es auch bezweifeln mag, ob jede ein notwendig Vergängliches sei und nicht bloß, wie wir es vorfinden, ein faktisch Vergängliches. Demgegenüber scheint aber das reine Ich ein prinzipiell Notwendiges zu sein (Husserl, 1977, 123).
Sind aber damit alle Schwierigkeiten gelöst worden? Die Antwort soll vielleicht verneinend lauten, wenn wir tiefer in den Sinn der Kritik der Paralogismen einzudringen versuchen. Um diesen Punkt zu erleuchten, gehen wir zunächst auf die Unendlichkeit der lebendigen Gegenwart des Bewusstseinsstroms ein, den das reine Ich zwar transzendiert, jedoch mit ihm untrennbar verflochten ist. In zweierlei Hinsicht hat Husserl die lebendige Gegenwart als ein wirkliches Unendliches herausgestellt:
a) Sie ist notwendig unaufhörlich, weil ihr vermeintliches Ende impressional anfangen, dann im retentionalen Bewusstsein versinken sollte. Spontan würde das protentionale Bewusstsein weitere Phasen dieses Endvorgangs vorzeichnen, wobei es kein Aufhören gäbe. Daraus ergibt sich aber die Problematik der möglichen Phänomenalisierung der inneren Zeit als eine Art vom Unendlichen — im Sinne eines fortwährenden Bewusstseinsstroms —, dessen Erfüllungsmöglichkeiten, im Grunde genommen, aus einer rekonstruierten unendlichen Vergangenheit geschöpft sind: Da dem Bewusstsein immer wieder neue Gegenwarten zugeströmt sind, ist der Auftritt neuer Gegenwarten und ihr Sinken im retentionalen Untergrund immer wieder zu erwarten.
b) Da die Präsumtionsstruktur des Bewusstseinsstroms unverletzlich ist, erweist sich der transzendentale Lebensstrom als eine uneingeschränkte, irgendwie unendliche Seinsmöglichkeit. Denn es ist kein Widerstreit des Bewusstseinsflusses mit einem anderen Seienden erdenklich, dem kein protentional vorgezeichnetes «Dann-Sein» folgen würde. Daraus entsteht aber die Problematik dessen, was ich als eine «Amphibolie» bezüglich der Protentionalität des Bewusstseinsstroms bezeichnen würde: Im transzendentalen Sinne ist diese zwar unverletzlich, aber im faktischen Sinne ist sie doch äußeren Bedrohungen in der Welt ausgesetzt.4 Hier stoßen wir vielleicht auf die größte Paradoxie des Begriffes der Protention: Einerseits entspricht ihr eine bloß präsumtive Evidenz, die «von außen her» zu kommen scheint, insofern die Erfüllung der Antizipationsstruktur völlig vom Aufkommen sinnlicher Eindrücke abhängt. Damit geht zwar eine radikale Kontingenz der Welterfahrung einher, welche aber dennoch die Protentionalität des Bewusstseins nicht bedroht:
Die invariable Wesensform meines transzendentalen Bewusst-seinslebens in ihrer Allgemeinheit als zeitlichen Lebens (immanente Zeitform) lässt sogar die Möglichkeit offen, dass Welterfahrung ganz und gar sich abwandle und die Form der Welterfahrung verliere (Husserl, 2006, 97).
Andererseits ist die Form der «Präsumtion von Zukunft» unverletzbar, gleichsam «immun» gegen jede Verderbnis der «mundanen Apperzeptionen» des gegebenen hyletischen Urstoffs. Oder anders gesagt: Der Schwerpunkt des ganzen Beweises eines unsterblichen transzendentalen Ich liegt darauf, uns die Möglichkeit eines Verlustes der jeweiligen Welterfahrung (der Tod unseres jeweiligen empirischen Ich darin eingeschlossen) vorstellen zu können, ohne dass dadurch die immanente Zeitform des Bewusstseins, also sein apodiktisch gegebenes Faktum irgendwie bedroht wird.
4 Meiner Ansicht nach kann man nicht diese Amphibolie durch die bloße Unterscheidung zwischen dem transzendentalunsterblichen und dem empirisch-sterblichen Ich auflösen. Später werde ich auf diesen Punkt zurückkommen.
HORIZON 3 (2) 2014
87
Insofern beide Begriffe des Unendlichen auf den Bewusstseinsstrom zutreffen, können wir nun mutatis mutandis sie vom Standpunkt der Kritik der reinen Vernunft aus diskutieren. Denn dort ist die Rede von einem Vernunftzwang, sich die Gegebenheit eines fortdauernden Ich vorzustellen. Kant stellt sich die Frage, ob das Ich als eine beharrliche Substanz in der inneren Erfahrung überhaupt gegeben werden kann. Bekanntlich antwortet er darauf verneinend: Aus der bloßen Vorstellung des Ich als Subjekt unserer Gedanken und Urteile kann man nur falsch die Gegebenheit seiner Substanzialität als einer notwendigen Beharrlichkeit in aller Zeit folgern. Da wir das Ich keineswegs als ein weiteres Prädikat unserer innerer Erfahrung bestimmen können (im Gegenteil erweist es sich vielmehr als das Subjekt aller ihrer Prädikate), neigen wir dazu, ihm eine anschaulich gegebene Substantialität zuzuschreiben. Davon zeugt aber unsere innere Erfahrung gar nichts. Höchstens spricht sie nur für eine Beharrlichkeit des Ich im Lauf seines faktischen Lebens. Aber voreilig gehen wir einen falschen Schritt, sobald wir die Subjekt-Eigenschaft des Ich für seine Beharrlichkeit über die subjektiven und objektiven Bedingungen der Erfahrung hinaus halten. Aus diesem Schein glauben wir zu einer gewissen Unendlichkeit oder endlosen Beharrlichkeit des Selbstbewusstseins nach dem Tod schließen zu können [vgl. (Kant, 1983, 204-207)].5
Mit dieser Kritik schließt Kant die Erfahrung einer gewissen Unendlichkeit des Ich aus, welche eine ihm zugehörige Notwendigkeit, irgendwie auf seiner lebendigen Gegenwart beharren zu können, aufweisen würde. Denn erst wegen eines Missverständnisses über mein Selbstbewusstsein bzw. die tranzendentale Apperzeption meines Ich schließe ich aus seinem Subjektcharakter zur Gegebenheit seiner ununterbrochenen Beharrlichkeit, sogar nach dem Tod. Dass meine Selbsterfahrung diese Grenzen nicht überschreiten kann, hat einen tieferen Grund, und zwar die faktische Verbindung des Selbstbewusstseins mit der Welterfahrung. Rufen wir uns nun zwei Züge der Vorstellung «Ich denke» ins Gedächtnis, wie Kant sie begreift: Sie gibt mir zwar von Anfang an die Tatsache meines Daseins, aber sie lässt ihr «Wie» völlig unbestimmt:
Das, Ich denke, drückt den Actus aus, mein Dasein zu bestimmen. Das Dasein ist dadurch also gegeben, aber die Art, wie ich es bestimmen, d.i. das Mannigfaltige, zu demselben Gehörige, in mir setzen solle, ist dadurch nicht gegeben (Kant, 1974, B 157).
Erst dann, wenn die synthetisierende Handlung des Ich nach zeitlichen Verhältnissen anschaulich geworden ist, kann ich mein Dasein empirisch bestimmen. Gleichwohl kommt dieses schon empirisch bestimmte oder bestimmbare Selbstbewusstsein keineswegs der Selbstgegebenheit meiner Ichtätigkeit gleich. Ich erscheine mir selbst nur insofern, als solch eine Spontaneität, vermittels einer Synthesis der Einbildungskraft, den inneren Sinn affiziert:
Er [der Verstand] also übt, unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, dass der innere Sinn dadurch affiziert werde (Kant, 1974, B 153-154).
Was das Ich an sich und seine konstituierenden Leistungen vor der Selbstaffektion ist oder sein könnte, bleibt für mich unbekannt.6 Ich apperzipiere keineswegs meine Spontaneität oder mein Konstitutionsvermögen als etwas an sich, sondern nur in seiner Auswirkung auf die Synthesis meiner inneren und äußeren Erfahrung. Eben deshalb könnte ich nicht meiner eigenen
5
6
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, A 134-138.
Sonst wäre es mir auf einen Schlag die Mannigfaltigkeit meiner inneren Zustände und gegenständliche Vorstellungen
vorgegeben. Es bedürfte keiner Vermittlung eines Vermögens, und zwar der Einbildungskraft, um die sinnlichen Affektionen und die zuerst zusammenhanglosen subjektiven Vorstellungen nach Gesetzen der reproduktiven und induktiven Assoziation anzuordnen. In der Hinsicht wäre ich eine Monade, die sich von vornherein ein unendliches Mannigfaltiges vorstellt, sei es auf verworrene Weise. Aber in einem kantischen Zusammenhang kommt all dies letztendlich der Aufhebung des Unterschieds zwischen der endlichen und der göttlichen Anschauung gleich.
88
GUILLERMO FERRER
Zeitlichkeit innewerden, ohne sie, dank der Einbildungskraft (ihrer figürlichen Synthesis), mithilfe einer geraden Linie oder eines Pfeils vorzustellen, also ohne sie auch in der objektiven Weltzeit der alltäglichen und der naturwissenschaftlichen Erfahrung zu verorten. Kurzum: ich kann weder das innere Zeitbewusstsein noch das reine Ich abschotten, um ihnen erkennbare Eigenschaften zuzuschreiben. Im Grunde genommen kann mein Selbstbewusstsein keine Seinsgegebenheit meines Ich an sich ausdrücken, sondern nur jene formale Bewusstseinseinheit bezeichnen, in welcher das Mannigfaltige sowohl der inneren als auch der äußeren Anschauung vereinigt wird. Der falsche Schluss besteht darin, diese Einheit «für die Anschauung des Subjekts als Objekts» zu nehmen und darauf die Kategorie der Substanz zu übertragen [vgl. (Kant, 1974, B 412)]. Erst dadurch stelle ich mir mein Selbst als etwas Beharrliches in der Zeit vor. Dass es sich letztendlich um einen Paralogimus handelt, entspringt aus dem Missverhältnis zwischen der inneren Anschauung und dem bloßen «Ich denke»: Jene gibt mir nie etwas Beharrliches, welches dem transzendentalen Selbstbewusstsein entspricht und aus dem ich seine Unaufhörlichkeit schließen könnte.
Bezüglich der protentionalen Form meines Bewusstseins kann ich mich fragen, ob sie mir wirklich eine unendliche Zukunft gibt, die dem zukomme, was ich phänomenologisch als mein transzendentales ego bezeichne. Denn die innere Erfahrung zeugt vielmehr von meiner Veränderlichkeit, wenn nicht von meiner Vergänglichkeit. Hier nutzt es vielleicht nichts, auf die Unterscheidung zwischen dem transzendentalen und dem empirischen Ich zurückzugreifen. Denn so entsteht eine «Amphibolie», diesmal den Begriff des Ich betreffend: Auf dem transzendentalen Standpunkt bedarf es einer methodologischen Isolierung der ursprünglichen Bewusstseinshyle von der Affektion und der Weltauffassung, die ein waches Leben ausmachen, damit das unendliche Leben eines reinen Ich hervorsticht. Aber faktisch gesprochen geht das Bewusstsein des Ich mit demjenigen einer Affektion dessen einher, was «Nicht-Ich» ist. Darauf übt das reine Ich seine synthetisierende Tätigkeit aus, indem sie auch den inneren Sinn affiziert. Man sieht in diesem Gedanken der Selbstaffektion, wie eng Kant das Selbstbewusstsein mit der Welterfahrung verbindet. Denn das Faktum meines Selbstbewusstseins gehört damit zusammen, dass ich meinem Vollzug einer Synthesis der aus den Affektionen der Gegenstände entspringenden Vorstellungen gegenüber ein passives Subjekt bin.
Gingen die Affektionen «von außen» verloren, so damit auch die uns bekannten Bedingungen der Möglichkeit für das Selbstbewusstsein, also eine wirkliche Meinigkeitserfahrung. Auch amphibolisch ist der Gedanke einer notwendigen Vorerwartung immer neuer Bewusstseinsgegenwarten, die sogar nach dem Tod des empirischen Subjekts zur unendlichen Vergangenheit des in eine dunkle hyletische Umgebung eingetauchten Ichlebens werden. Käme nicht dieser unendliche retentionale Prozess letztendlich einer «allmählichen Nachlassung (remissio)» aller Kräfte des Ich, also seiner Verwandlung in Nichts? [vgl. (Kant, 1974, B 414)]. Sollte die Unsterblichkeit des transzendentalen Ich sein Eintauchen in unaufhörlich abklingenden hyletischen Daten bedeuten, so bliebe vom Selbstbewusstsein, also von einem Ichleben nichts übrig.
Auch der andere phänomenologische Begriff des unendlichen Bewusstseins, den ich oben erwähnt habe, könnte der kantischen Kritik unterworfen werden. Der zweite Paralogismus der rationalen Psychologie geht von der Ichhandlung aus, um nach ihrer wirklichen Simplizität oder Einfachheit zu gelangen versuchen: Da auf diese Handlung keine äußeren Umstände oder Gegenstände auswirken könnten, wären alle inneren Bestimmungen des Subjekts im Bewusstsein einer unteilbaren Mannigfaltigkeit vorenthalten. Oder anders gesagt: Alle gegenwärtigen, vergangenen und künftige Erlebnisse wären in der absoluten Einheit des Ich eingeschlossen, ohne dass diese durch ein Auseinandersetzen seiner Teile zersplittern könnte, wie es der Fall eines Aggregats oder einer zusammengesetzten Substanz ist, um mich einer leibnizschen Terminologie zu bedienen.
HORIZON 3 (2) 2014
89
Der falsche Vernunftschluss besteht hier darin, aus der bloß logischen, also leeren Vorstellung des «Ich bin einfach»,7 die Unendlichkeit des Selbstbewusstseins als die einer unteilbaren Einheit bzw. eines unzerstörbaren Ganzes herleiten zu wollen, welches keinesfalls mit etwas Fremdem in Widerstreit treten könnte. Da das Subjekt der reinen Apperzeption keine besondere Bestimmung haben kann, schließt man falsch daraus die reelle Einbeziehung jedes Erlebnisses in die Alleinheit oder Gesamtheit eines einfachen Selbstbewusstseins. Gleichwohl misslingt diese Gleichsetzung des «Ich bin einfach» mit einer Art von aktualer Unendlichkeit — im Sinne einer Allumfassung jeder Erlebnisse —: Da das logisches Subjekt oder «Ich denke» keine Bestimmung zulässt, können wir es gedanklich von den Körpern als äußeren Erscheinungen unterscheiden, dessen Entstehen und Vergehen wir in der alltäglichen Erfahrung feststellen. Daraus folgt aber gar nicht, dass das Ich des Selbstbewusstseins keineswegs materiell und teilbar sein, also keinem Widerstreit mit etwas Anderem unterliegen könnte.
Die logische Einfachheit des Ich erlaubt uns zwar zu sagen: «Wir können kein Bewusstsein (und keine seiner Erlebnisse) von außen her anschauen», jedoch ist damit gar nicht gesagt, dass kein materiales Substrat dem Bewusstsein und seinen Inhalten zugrunde liegt. Im Hintergrund der uns affizierenden Erscheinungen steht ein «Noumenon» («ein «transzendentaler Gegenstand»), von dem wir nicht wissen können, ob es das wirkliche Subjekt sowohl der physischen als auch der psychischen Phänomene ist. Deswegen wissen wir auch nicht, ob ein solches Substrat so bewirken kann, dass unser Bewusstsein genauso wie die äußerlichen Erscheinungen durch materielle Vorgänge entsteht und vergeht. Wäre dies der Fall, so käme die Einfachheit des Ich keiner Unendlichkeit im Sinne einer allumfassenden Einheit der Erlebnisse gleich, welche von außen her nicht bedroht werden könnte. Vielmehr wäre das Bewusstsein seinem möglichen Aufhören ausgesetzt.
Nun können wir diese Überlegungen von Kant auf seine Auseinandersetzung mit der Monadologie beziehen. In der Kritik der reinen Vernunft verwirft er Leibniz, die Grundbegriffe seiner Metaphysik auf einer Reihe von «Amphibolien» gegründet zu haben. Darunter versteht Kant eine Verwechselung der möglichen Begriffsverhältnisse, und zwar Beziehungen der «Einerleiheit» und «Verschiedenheit», «Einstimmung und der Widerstreit», des «Inneren und Äußeren», der «Materie und der Form». Diese bestimmen sich unterschiedlich je nachdem, ob die Vorstellungen der Gegenstände entweder in der Sinnlichkeit oder im reinen Verstand verglichen werden. Aber mangels einer Reflexion darauf, hätte Leibniz seine Metaphysik bloß auf reinen Verstandsbegriffen gegründet, die er ungerechtfertigt auf die Erscheinungen überträgt.
Dieser Einwand richtet sich vor allem gegen die Begriffsbestimmung der Monade als eine einfache Substanz. In der Hinsicht fasst Kant den Grundfehler der monadologischen Metaphysik mit einem lapidaren Satz zusammen: Diese «...hat gar keinen andern Grund, als dass dieser Philosoph [Leibniz] den Unterschied des Inneren und Äußeren bloß im Verhältnis aufden Verstand vorstellte» (Kant, 1974, A 274/B 330). Infolgedessen habe Leibniz, als er die Monaden als einfache Substanzen kennzeichnete, ihnen alle äußeren Bestimmungen weggenommen. Leibniz zufolge sind die Monaden, wegen ihrer Unteilbarkeit, unvergänglich. Im Unterschied zu den Aggregaten oder Körpern, bestehen die Monaden aus keinen Teilen und also können nicht durch ihr Auseinandersetzen zugrunde gehen. Kein physischer Einfluss oder Widerstreit mit einem anderen Seienden wäre also imstande, den inneren Dynamismus der Monaden zu unterbrechen. Die Amphibolie bestünde hier in einer Verwechselung des reinen Begriffes der Substanz mit ihrer wirklichen Erscheinung. Erfahrungsgemäß können die Subtanzen verschiedene äußere Verhältnisse zueinander halten, unter denen auch jene eines «wechselnden Abbruchs». Aber indem Leibniz stillschweigend die Monaden als «positive Realitäten» nur im reinen Verstand bestimme, sehe er von einem immer möglichen Widerstreit ab, welcher
7 «Ich bin einfach, bedeutet aber nichts mehr, als dass diese Vorstellung: Ich, nicht die mindeste Mannigfaltigkeit in sich
fasse, und dass sie absolute (obzwar bloß logische) Einheit sei» (Kant, 1974, A 355). Diese Kritik des Paralogismus der Einfachheit lässt sich vielleicht auf die Phänomenologie des unsterblichen Ich übertragen. Denn diese könnte mit dem stillschweigenden Gedanken einer absoluten Einheit des Bewusstseinsstroms operieren, die allen künftigen Gegenwarten vorenthält, sogar jenes «Dann-Sein», das nach einem für das transzendentale Ich scheinbar lebensbedrohlichen Widerstreit mit etwas Fremden auftreten würde.
90
GUILLERMO FERRER
die monadische Substanz selbst bedrohen könnte. Tatsächlich sieht es ganz anders im Erscheinungsbereich aus. Wenn ein Widerstreit zwischen zwei Gegenständen stattfindet, dann kann eine dieser Realitäten die Folgen - Wirkungen - der anderen zum Teil oder völlig vernichten:
Denn der reale Widerstreit findet allerwärts statt, wo A - B = 0 ist, d.i. wo eine Realität mit der andern, in einem Subjekt verbunden, eine die Wirkung der andern aufhebt, welches alle Hindernisse und Gegenwirkungen in der Natur unaufhörlich vor Augen legen <.. .> (Kant, 1974, A273/B329).
Außerdem hat Leibniz die Innerlichkeit der Monaden im reinen Verstand bestimmt, so Kant weiter. Da Leibniz alle äußeren Verhältnisse (mechanische Prozesse der Vereinigung und Auseinandernehmen der zusammengesetzten Substanzen, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung) aus dem Inneren der Substanzen ausschließt, konnte er die Monaden nur nach dem Muster der Vorstellungen auffassen. Diese stellen das ganze Universum dar, wenn auch auf eine verworrene Weise. Ebendarum streben sie ununterbrochen nach einer deutlichen Vorstellung des Weltalls. In dieser Hinsicht sagt Leibniz, dass die Monaden in infinitum gehen. Weil dementsprechend die «Spiegelung» des Unendlichen der Welt in den Monaden dynamisch zu verstehen ist, haben diese eine innere Zeitlichkeit, die von derjenigen der zusammengesetzten Substanzen zu unterscheiden ist. Diese fangen durch Vereinigung der Teile an und enden durch ihr Auseinandernehmen. Aber so können die Monaden weder entstehen noch vergehen. Ihre innere Zeitlichkeit entfaltet sich eher in einem endlosen Prozess. Damit geht noch eine andere Amphibolie einher: Die Zeit wäre für Leibniz die dynamische Folge der monadischen Zustände, also eine unendliche Entfaltung der Vorstellungen bzw. ein endloser Übergang von Perzeption zu Perzeption. Dadurch habe Leibniz eine intellektualisierte Zeit mit der Zeit der Erscheinungen verwechselt. Aber in dieser kann der Widerstreit stattfinden, sogar ein solcher, der mit einer Spannung zwischen verschiedenen Substanzen und die Aufhebung der einen oder der anderen (3-3=0) endet. Diese Kritik lässt sich mutatis mutandis auf den Begriff einer unverletzlichen protentionalen Form übertragen. Denn wir können immer die Frage stellen, ob ihr etwas Fremdes derart bedrohen könnte, dass sie infolgedessen zusammenbrechen würde.
Um diese Schwierigkeiten zu lösen oder mindestens zu nuancieren, werde ich mich abschließend mit jenen leibnizschen Leitmotiven befassen, die in Husserls These des unsterblichen transzendentalen Ich mit einbezogen sind. Richtungsweisend wird die Möglichkeit eines phänomenologisch aufweisbaren Begriffs des unendlichen Bewusstseinsstroms, der paradoxerweise die Endlichkeit des Ich nicht ausschließt, sondern sogar sie in den Vordergrund rückt.
3. DER MONADOLOGISCHE ENTWURF EINER PHÄNOMENOLOGIE DES UNSTERBLICHEN ICH
Bereits im § 4 der Monadologie beschreibt Leibniz die «einfachen Substanzen» als unvergänglich.8 Im Unterschied zu den zusammengesetzten Substanzen oder bloßen Aggregaten haben die Monaden keine physischen Teile. Deswegen können sie weder durch Vereinigung materieller Elemente anfangen noch durch ihr Auseinandersetzen zugrunde gehen: «Es ist <...> keine Auflösung zu befürchten und keine Art und Weise vorstellbar, auf welche eine einfache Substanz natürlichen Weges zugrunde
Leibniz unterscheidet die Unvergänglichkeit der einfachen Monaden von der Unsterblichkeit im strengen Sinne des Wortes, die nur den Geistern zugeschrieben werden kann. Die Unvergänglichkeit der einfachen Monaden besteht darin, dass trotz der Zerstörung der großen Teile seiner «Maschine» das individuelle Lebewesen fortdauert, wenn auch vermindert, benommen und jedem Beobachter entzogen. Die wahre Unsterblichkeit fordert die Erhaltung des Bewusstseins und des Gedächtnisses, also eines persönlichen Ich. Bertrand Russell hat diesen Unterschied deutlich zum Worte gebracht: «Also die Geister sind unsterblich: Sie erhalten ihre moralische Identität, welche vom Selbstgedächtnis abhängt. Hingegen sind die anderen Monaden bloß unaufhörlich, d.i., sie bleiben numerisch identisch, aber ohne es zu wissen.» («Spirits also are immortal: they preserve moral identity, which depends on memory of self, while other monads are merely incessant, i.e.,
they remain numerically identical without knowing it.») (Russell, 2008, 141).
HORIZON 3 (2) 2014
91
gehen könnte» (Leibniz, 1996 a, 439). Da ferner keine der inneren Bewegungen der Monaden «...von irgendeinem anderen Geschöpfe» vermindert werden kann, ist kein Widerstreit denkbar, infolgedessen die Einheit der Monade zerspringen würde.
Ein origineller Zug dieses leibnizschen Ansatzes besteht darin, dem Begriffeiner monadischen Einfachheit sozusagen phänomenologische Konkretion verliehen zu haben. Ihm zufolge gehört die monadische Einfachheit mit einem Ausdruck der «Vielfältigkeit» ihrer Qualitäten und Modifikationen, welche sich in einer einzelnen Perspektive oder einem «point de vue» über das ganze Universum zusammenschließen. Diese Perspektive konstituiert sich in einem endlosen Übergang von «Perzeption» zu «Perzeption», in dem die «Verschiedenheit der Beziehungen zu den [äußeren] Dingen» dargestellt wird. Dieser dynamische Ausdruck des Weltalls gehört mit zwei Begriffen des Unendlichen zusammen, aus denen sich die monadische Unvergänglichkeit erklären lässt: Der erste gilt dem inneren Prozess bzw. der inneren Zeitlichkeit der Monaden, welche in infinitum geht. Denn wir können ihnen kein Ende durch Abtrennung irgendeiner Bestandteile zuschreiben. Der zweite Begriff des Unendlichen bezieht sich auf die unzerstörbare Einheit der Monade, die alle ihre gegenwärtigen, vergangenen und künftigen Zustände umfasst.
Es wäre aber irreführend, die Unendlichkeit des monadischen Ausdrucks und Dynamismus mit einer Art von göttlicher Absolutheit gleichzusetzen.9 Die Monaden gehen zwar ins Unendliche, jedoch auf eine «verworrene» Weise.10 * Dies liegt vor allem in ihrer wesentlichen Verbindung mit einem Körper oder einer Materie, wobei ihre Perspektive über das ganze Universum nur einen Teil der Dinge deutlich darstellen kann, nämlich die nächstliegenden oder die größten in Bezug auf den Körper [vgl. (Leibniz, 1996 a, Monadologie, § 60)].11 Den Rest stellen die Monaden nur verworren dar, insoweit alle Dinge, sogar die entferntesten, sich auf den eigenen Körper auswirken oder ihn durch die Vermittlung anderer Körper affizieren.
Also sowohl die Unvergänglichkeit der einfachen Monaden als auch die Unsterblichkeit der Geister müssen erst in Bezug auf die Veränderungen des ihnen zugehörigen Körpers beschrieben werden: «So wechselt die Seele den Körper nur nach und nach und gradweise, derart, dass sie niemals auf einen Schlag aller ihrer Organe entblößt würde.» (Leibniz, 1996 a, Monadologie, § 72); «Dies bewirkt auch, dass es weder jemals gänzliche Neuschöpfung gibt, noch im strengen Sinne des Wortes genommen vollkommenen Tod, der in der Abtrennung der Seele besteht» (Leibniz, 1996 a, Monadologie, § 73). Noch anders gesagt: Bei Leibniz liegt keineswegs der Schwerpunkt auf einer Gegebenheit eines substantiellen und einfachen Ich, aus welcher er falsch die Unsterblichkeit der Seele schließen hätte. Ferner vertritt er keineswegs die Idee einer absoluten «Fensterlosigkeit» der Monade, wenn man darunter versteht, dass sie nicht von den Vorstellungen ihres eigenen Körpers und seiner Umgebung betroffen werden könnte.12
9
10
11
12
Hier bedarf es einer genaueren begrifflichen Bestimmung des Unendlichen bei Leibniz. Die Unendlichkeit der Dinge besagt, dass es immer gibt, als man angeben kann [vgl. (Leibniz, 1996 b, 211)]. Diese offene Unendlichkeit kommt keinem wahrhaft Ganzen gleich. Konsequenterweise gibt es z.B. keine unendliche Zahl, keine unendliche Linie und keine unendliche Quantität. Das offene Unendliche ist kein absolutes Unendliches. Dieses kann nur im Absoluten oder einem grenzenlosen Attribut bestehen. Und der Begriff dieses Absoluten oder grenzenlosen Attributs kann durch keine Addition gebildet werden.
Yvon Belaval erklärt diese Verworrenheit aus einem «Zuviel» des Unendlichen gegenüber der endlichen Monade: «Die Verdichtung der unendlichen Mannigfaltigkeit in der endlichen Einheit der Substanz führt die Verworrenheit herbei.» («La concentration de la multiplicité infinie dans l’unité finie de la substance entraîne de la confusion.») (Belaval, 1995, 142).
Wie ich oben erwähnt habe, unterscheidet Leibniz das absolute Unendliche, welches ein Ganzes bildet und nur Gott zukommen kann, von einem offenen Unendlichen, das nie zu einer Allheit werden kann. Also die der Monade eigene unendliche Perspektive öffnet sich immer auf Verwandlungen des mit ihr verbundenen Körpers und auf neue Einzelheiten der Weltumgebung. Es gibt m.E. einen phänomenologischen Keim dieser Auffassung einer unendlichen monadischen Perspektive: Sogar das Phänomen des bevorstehenden Todes könnte eine der für das Leben offenen Möglichkeiten sein. Aber was danach kommt, können wir gar nicht im Voraus festlegen. In der Hinsicht hört sich die husserlsche Beschreibung des empirischen Todes und der transzendentalen Unsterblichkeit vielleicht viel zu «steif» an.
Dadurch entgeht er irgendwie der kantischen Kritik der Paralogismen. Dies ist ja erklärungsbedürftig, aber es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.
92
GUILLERMO FERRER
Eben deshalb steht im Mittelpunkt der leibnizschen Auffassung des Todes und der Unvergänglichkeit der Monaden keine metaphysische Lehre der trennbaren und sterblichen Seele, sondern vielmehr die Art und Weise, in welcher die Abänderungen ihrer «Materialität stattfinden».13 Der Tod steht als eine Zerstörung der «großen Teile» ihrer Körper und die Möglichkeit bevor, in einen Zustand der «Betäubung» oder des Verlustes jedes deutlichen Bewusstseins zu geraten. Gleichwohl kann man im Voraus nicht eindeutig behaupten, dass der Tod dem Ende jeder individuellen Lebensform gleichkommt. In diesem Zusammenhang hat Leibniz einen Begriff der monadischen Unvergänglichkeit geprägt, dem sowohl biologische als auch phänomenologische Aspekte zugrunde liegen.
a) Da jede Monade die «vollkommene Ordnung» des Universums ausdrückt, stellt sie sich immer ihren Körper als organisch vor [vgl. (Leibniz, 1996 a, Monadologie, § 63)]. Ihn bezeichnet Leibniz als «einen natürlichen Automaten» oder eine «Maschine der Natur». Nun könnte der organische Körper weder auf-noch abgebaut werden, denn sie sei noch im kleinsten ihrer Teile bis ins Unendliche Maschine [vgl. (Leibniz, 1996 a, Monadologie, § 64)]. Dementgegen sind die «künstlichen Maschinen» nicht in jedem ihrer Teile Maschinen.14 Hieraus gehen aufschlussreiche Gedanken über die Unvergänglichkeit der Lebewesen hervor, wie Leibniz sie versteht. Wir stellen uns falsch ihren Tod al eine völlige Vernichtung vor, weil wir dazu geneigt sind, einen organischen Körper als eine Art von geschaffener Maschine zu begreifen. Aber insofern ein Lebewesen aus unendlich vielen organischen Teilen besteht, könnte er nicht so abmontiert werden, dass er auf einen Schlag aller seiner Organe entblößt würde [vgl. (Leibniz, 1996 a, Monadologie, § 72)]. Daher hält Leibniz den Tod eines Lebewesen oder eines Tieres für unmöglich, wenn man darunter eine Trennung der monadischen Entelechie oder Seele vom organischen Körper durch Auseinandernehmen aller seiner Teile versteht. Denn jeder lebendige Körper ist ein aktuales Unendliches organischer Teile: «Die Maschinen der Natur aber, das heißt die lebendigen Körper, sind noch im kleinsten ihrer Teile bis ins Unendliche Maschinen» (Leibniz, 1996 a, Monadologie, § 64). Gleichwohl können wir uns diese unendliche Fülle des lebendigen Organismus nur auf eine verworrene Weise vorstellen. Da wir dieses aktual-unendliche organische Kontinuum nicht deutlich erkennen können, neigen wir dazu, dem organischen Körper die Eigenschaften einer künstlichen Maschine zu unterschieben.15 Aber deshalb, weil es keine Demontierung der «natürlichen Automaten» bzw. Leiber geben kann, könnte der Tod in keinem Ende des Lebewesens bestehen, sondern nur in seiner Metamorphose. Die «Maschine» eines verstorbenen Tieres geht teilweise zugrunde, und damit werden seine «organischen Hüllen» abgelegt. Der Tod besteht in einer
13 Schon Kuno Fischer widmete Aufmerksamkeit auf diesen originellen Zug der monadologischen Metaphysik der Unsterblichkeit: «Im gewöhnlichen Sinne gilt die Unsterblichkeit nur von der Seele und nicht vom Körper, die Seele soll nach ihrer Trennung vom Körper fortleben und für sich ein körperloses und darum unsterbliches Dasein führen; aber eine solche Trennung ist nach leibnizschen Grundsätzen überhaut unmöglich, und der Körper, weil er sich niemals von der Seele scheidet, gilt für ebenso unsterblich wie diese» (Fischer, 2009, 379). Im Unterschied zu Leibniz vertritt Husserl keineswegs die Unsterblichkeit des empirischen Ich und seines Körpers. Aber sein eigener Begriff der transzendentalen Unsterblichkeit unterscheidet sich wesenhaft von den Unsterblichkeitsbeweisen der traditionellen Metaphysik, da es ihm weder um das ewige Fortleben der Seele noch um die leibliche Auferstehung von den Toten geht.
14 Hierzu führt Leibniz folgendes Beispiel an: «.. .der Zahn eines Messingrades hat Teile oder Bruchstücke, die für uns nichts Künstliches mehr sind» (Leibniz, 1996 a, Monadologie, § 64). Im Gegensatz ist ein Tier oder ein Mensch ein unendliches Kontinuum organischer Teile. Eben deshalb baut man nicht die lebendigen Körperglieder ab, sondern man verletzt oder amputiert sie. Darum missdeutet man das Ursprüngliche des Todphänomens, wenn man es analog zum Abbruch eines Mechanismus oder dem Auseinandernehmen einer Maschine erfasst.
15 Anstatt die Vielschichtigkeit des unendlichen organischen Kontinuums zu erfassen, bilden wir uns es als eine endliche Maschine ein, deren Teile sich aufeinander begrenzen und abbaubar sind. Hierzu schreibt Michel Serres: «Nach dieser biologischen Theorie <...>, nämlich diejenige einer endlichen Maschine, bietet sich der Organismus als dieser zusammengesetzte Mechanismus dar, in den man „wie in eine Mühle“ hineintreten oder aus dem man hinaustreten kann, der Türe, Öffnungen und Fenster, also Hohlräume hat. All dies widerspricht der Hypothese der Fülle. Aber davon hat die mit ineinandergefügten Organen ausgerüstete Maschine nichts. Sie ist voll und dicht, genauso wie die monadische Welt selbst.» («Dans la theorie biologique <...>, celle d’une machine finie, l’organisme se présente comme ce mécanisme composite, où l’on peut entrer ,comme dans un moulin et d’où l’on peut sortir, qui a des portes, des trous et des fenêtres, et qui, donc, présente des vides, ce qui est en contradiction avec l’hypothèse du plein; la machine à organes infiniment emboîtés n’en offre, elle, aucun; elle est pleine et dense, comme le monde monadique lui-même.») (Serres, 2001, 329).
HORIZON 3 (2) 2014
93
«Einhüllung» oder «Verminderung» des organischen Körpers (Leibniz, 1996 a, Monadologie, § 73) sowie auch im Zustand der völligen Verwirrung der monadischen Perzeptionen. Hierbei liegt der Akzent auf dem Tod als einem biologischen Vorgang innerhalb der Welt: Das Lebewesen wird nicht vernichtet, sondern verwandelt.
Aus einer phänomenologischen Perspektive können wir hier von den heutzutage nicht mehr gebräuchlichen biologischen Gedanken absehen und uns fragen, inwiefern das faktische Selbstbewusstsein die Erfahrung des Leibes als eines ununterbrochen organischen Kontinuums mit einschließt. Dass ich meinen Leib - im Unterschied zu einer künstlichen Maschine - als eine Art von «aktualem Unendlichem» organischer Teile erfahre, soll nicht mehr mit der Idee der Selbsterhaltung nach dem Tod als eine «Verkleinerung» des Lebewesens einhergehen, wie Leibniz einst im Hinblick auf die Enthüllung einer mikroskopischen Lebenswelt denken konnte. Viel weniger soll es eine deutliche Leugnung des Todphänomens bedeuten, um es einer bloßen Verwandlung des Lebewesens zu unterschieben. Stattdessen soll uns eine phänomenologische Analyse des Leibes als eines organischen Kontinuums dazu führen, die philosophischen Grundfragen nach dem Selbstbewusstsein und seinem Verhältnis zum Tod nochmals aufzuwerfen.
Etwa in seinem Briefwechsel mit Des Bosses stellte Leibniz die Hypothese eines substantialen Bands (vinculum substantiale) auf, den er eine verwirklichende Leistung zuschrieb, und zwar die Realisierung der körperlichen Phänomene, die eine zusammengesetzte Substanz ausmachen. Bemerkenswerterweise beschreibt Leibniz den substantialen Band eines organischen Körpers weder als ein Korrelat der monadischen Perzeptionen noch einer immanenten Reflexion des Ich. Dieser Band wird von außen her zu den Körperphänomenen hinzugefügt, um ihnen eine wirkliche Einheit zu verleihen. Er entsteht und vergeht in der Zeit, wobei die zusammengesetzte Substanz kann zur Welt kommen und sterben:
Wenn die körperliche Substanz etwas Reales außer den Monaden ist, so wie es heißt, dass eine Linie etwas über die Punkte hinaus ist, dann wird man sagen müssen, dass die körperliche Substanz in einer gewissen Vereinigung besteht, oder vielmehr in einem realen Vereinenden, das von Gott zu den Monaden zusätzlich hinzugefügt ist <...>; aus der Vereinigung der monadischen Entelechien jedoch geht die substantielle Form hervor, die somit aber entstehen und verschwinden kann und bei Auflösung jener Vereinigung verschwindet <...> (Leibniz, 2007, 228).
Von einem phänomenologischen Standpunkt aus lässt sich die Hypothese des vinculum substantiale von ihren metaphysischen Voraussetzungen reinigen und so neu interpretieren: Die Erfahrung meines Körpers als eine wirkliche zusammengesetzte Substanz bzw. ein wirkliches organisches Kontinuum, demgegenüber ich sowohl passiv als auch aktiv bin, ist ein integraler Bestandteil meines Selbstbewusstseins und meiner Ichapperzeption. Selbst die Vorstellung «Ich denke» bezeichnet etwas mehr als eine logische Funktion in der Konstitution der Erfahrung, denn sie muss irgendwie die Wirklichkeit meines Körpers mit einschließen, auch wenn sie ursprünglich kein objektives Korrelat einer kategorialen Synthesis ist, sondern eher etwas von außen her zu ihr Hinzugefügtes. Darum darf ich keineswegs mein rein transzendentales Ich abschotten, um es stillschweigend zu substantialisieren versuchen. Aus dieser Perspektive einer Zusammengehörigkeit des Selbstbewusstseins und der Erfahrung eines organischen Leibkontinuums können wir uns vielleicht die Grundfragen nach dem Tod und der Vorstellung (oder Vortäuschung) eines endlosen Ichlebens neu ausdenken. Im Mittelpunkt dieser Erfahrung steht die Gegebenheit eines gewissen Unendlichen des organischen Kontinuums, welches sich auf das immensum der anorganischen und organischen Welt öffnet und dadurch hebt sich von jeder Aneinanderfügung engbegrenzter Teile ab.
94
GUILLERMO FERRER
b) Da jede Monade ein «Spiegel» des unendlichen Universums ist, dehnt sich ihre Dauer auch in infinitum aus. Die monadische Zeit ist ein Kontinuum innerer Zustände - Perzeptionen und Strebungen-, die sich vermittels eines der Monaden zugehörigen Körpers intentional auf jeden Zeit-und Raumpunkt des Universums beziehen. Da die tierischen und mensclichen Monaden schlafen müssen und auch einen unbewussten Hintergrund «kleiner Perzeptionen» haben, schwanken immer ihre inneren Zustände zwischen Wachheit und Benommenheit, Aktualität und Potenzialität. Der Tod tritt auf als der Grenzfall einer «Involution» der Monade, die infolge der Zerstörung oder Beschädigung der sichtbaren Teile ihres Körpers in eine Art von Tiefschlaf zurückfällt.16
Damit hat Leibniz m.E. den Weg auf Grundthemen der husserlschen Phänomenologie des Todes und des unsterblichen Ich geebnet. Jedoch hat Husserl diese leibnizschen Leitmotive aus einem transzendental-phänomenologischen Standpunkt völlig neu gestaltet. Freilich befreite er sie von unzeitgemäßen naturwissenschaftlichen Theorien. Er geht aber noch darüber hinaus. Für ihn besteht der Tod unzweideutig in einem Ende der Bedingungen des Daseins in der Welt, also der Selbstobjektivierung des transzendentalen Ich in der Welt. Infolge des Todes wird ein einzelnes Ich aus der weltkonstituierenden Gemeinschaft herausgerissen. Was dann überlebt oder übrig bleibt, ist kein «absolutes Bewusstsein» im Sinne eines «aktualen Unendlichen» oder metaphysisches «Eins», sondern ein «schlummerndes» und in der Hyle des Bewusstseinsstroms völlig eingetauchtes Ich. Schon Leibniz bezeichnete den Tod als ein Zustand der «Betäubung» oder «Verwirrung»:
Wie wenn man sich mehrmals nacheinander ohne Unterbrechung in einer und derselben Richtung dreht, wobei ein Schwindel auftritt, der uns ohnmächtig werden lassen kann und uns nicht mehr unterscheiden lässt. Und der Tod kann die Lebewesen eine Zeitlang in diesen Zustand versetzen (Leibniz, 1996 a, Monadologie, § 21).
Trotzdem springen wichtige Unterschiede zwischen beiden Denkern ins Auge: Für Leibniz ist der Tod zwar ein Zustand der «Betäubung» oder des «tiefen Schlafs», der aber nicht ewig dauern kann. Er beschreibt den Tod des Lebewesens als einen Verwandlungsprozess, bei dem das Lebewesen «zurückbleibe», «entblößt» werde und die Teile seines Körpers nach und nach aufgebe. Die sterbenden Lebewesen «...werfen ihre Masken und Hüllen ab», aber damit hören sie gar nicht auf, zu sein. Die innere Kraft der Monade hält den Körper, der, vermindert, irgendwie zersetzt und unserem Sehvermögen entzogen, auf einen «winzigeren Schauplatz» verdichtet ist. Aber das Erwachen, die graduelle Rückkehr auf einen früheren Zustand ist immer noch möglich. Hingegen ist für Husserl der Tod des psychophysischen Ich kein bloßer Umwandlungsprozess innerhalb der Welt, sondern eigentlich das Ende des Daseins in der Welt und die Abtrennung des transzendentalen Ich von dem konstituierten empirischen Ich. Während das transzendentale Ich fortlebt, sterben Leib und Seele unumgänglich.17 Im Unterschied zu Husserl verbindet Leibniz außerdem die Unsterblichkeit der «Geister» mit der Erhaltung des Gedächtnisses und
16 Wie Hans Poser richtig bemerkt, bedeuten Geburt und Tod bei Leibniz «nicht etwa Anfang und Ende einer Monade, sondern nur eine Transformation aus einer Art Schlaf beziehungsweise zurück in eine Art Schlaf» (Poser, 2005, 130).
17 Dominique Pradelle spricht von einer transzendental-phänomenologischen Revidierung der leibnizschen Lehre der monadischen Unsterblichkeit. Sie hängt mit einer gewissen Reinigung des infinitistischen und nicht anschaulichen Zuges jener Lehre zusammen, um die realen Ereignisse der Geburt und des Todes des empirischen Subjekts hervorstechen zu lassen. Die Unsterblichkeit des transzendentalen Ich komme deshalb in Frage, weil die Unendlichkeit der Vergangenheit ein sie konstituierenden Bewusstsein konstituiert: «Wenn das transzendentale Subjekt weder entsteht noch vergeht, so liegt es darin, dass nach dem Prinzip des konstituierenden Idealismus die unbestimmte Vergangenheit kaum möglich ist, ohne dass ein Bewusstsein sie feststellt.» («si le sujet transcendantal pur ne naît ni ne meurt, cest que, conformément au principe de l'idéalisme constitutif, le passé indéfini du monde riest guère possible sans une conscience qui l'atteste <...>») (Pradelle, 2006, 63). Das ist aber nur der Titel für ein andere Problematik, die Quentin Meillassoux heutzutage gestellt hat und sowohl die monadologische Metaphysik als auch die transzendentale Phänomenologie betrifft: Die «Anzestralität» der dem Bewusstsein vorangehenden Welt und die faktischen Strukturen eines sterblichen Ich. [Hierzu vgl. (Meillassoux, 2006/2008)].
HORIZON 3 (2) 2014
95
der individuellen Identität,18 während für Husserl der Tod, als Schlaf ohne mögliches Erwachen, schließt die Wiedererinnerung des Subjekts an die beim Schlaf (oder der Ohnmacht) vorläufig verlorenen Zeitintervalle aus:
Vom Tode kann niemand erweckt werden, in alle Welt-ewigkeit, die Objektivation der monadischen zeitlichen Ewigkeit ist, nämlich nicht in seinem menschlichen Sein, etwa als ein neuer Mensch, der die Wiedererinnerungen des alten und nur neue praktische Möglichkeiten hätte - nicht anders, als wenn einer durch Jahre hindurch schliefe und dann erwachend sich in einer anderen Gegenwart, einer anderen Umwelt fände. Also Unsterblichkeit in gewöhnlichem Sinn ist unmöglich (Husserl, 1973, 610).
Aber Husserl hat noch eine andere Perspektive auf diese Problematik eröffnet. Gewiss geht aus seinen Analysen der Begriff einer «unsterblichen Monade» hervor, dessen Bewusstseinsstrom unendlich fortgehen würde, nur ohne mögliche Beziehung auf die Welt oder irgendeine voraussehbare Wiederbelebung seines wachen Lebens. Diese «schlummernde» Monade würde aber noch eine Rolle in der Weltkonstitution spielen, insofern sie ihre Sedimentationen in einem «Monadenall» hinter gelassen hätte. Aber das einzelne Individuum stirbt. Gleichwohl erlauben andere Texte (besonders der C-Manuskripte) neue Beschreibungsmöglichkeiten. Husserl selbst hat die Unzulänglichkeit des Vergleichs zwischen Tod und Tiefschlaf bemerkt: «Der Tod ist kein Schlaf; im Moment, wo er eintritt, ist mein ganzes weltliches Dasein, mein Ich-bin zu Ende» (Husserl, 2006, 103). Infolgedessen sah er sich dazu geführt, den Tod als ein Ende der Bedingungen für die Einfühlung zu beschreiben:
Den Tod kann niemand an sich erfahren - aber wie erfährt man ihn an anderen? Der Leib stirbt, der Leib verändert sich körperlich so, dass er die Bedingungen der Möglichkeit der Einfühlung aufhebt (Husserl, 1992, 332).
Damit gewinnt die Phänomenologie des Todes eine andere Bedeutung, denn der Akzent verschiebt sich auf die Einfühlung des sterbenden Anderen und auf einen künftigen Bruch der monadischen Gemeinschaft. Eine ausführliche Analyse dieser Akzentverschiebung würde zwar den Rahmen dieses Artikels sprengen, jedoch sei es hier abschließend erwähnt, um weitere Forschungen über das Problem des Todes und der Sterblichkeitserfahrung anzuregen.
18 Das Argument dafür ist die wesentliche Zusammengehörigkeit vom Selbstbewusstsein und Selbstgedächtnis: «Denn Gott hat den Geistern das Selbstbewusstsein verliehen. Daraus ist das Gedächtnis entstanden, und daher erinnert sich der Geist immer daran, derselbe wie früher zu sein. Daraus folgt auch die Unsterblichkeit, denn könnte nicht, sich zu vergessen beginnen, und ein Erlebnis bringt immer ein anderes Erlebnis mit sich. Dagegen gibt es in den Seelen keinen Grund weshalb, wir sagen können, dass sie verharren. Denn die wirkliche Selbsterhaltung besteht in der Erhaltung seiner inneren Wahrnehmung.» («Dedit enim Deus mentibus, ut cogitant de seipsis, unde oriatur reminiscentia quae facit ut mens semper meninerit se eandem illam esse quae prius. Hinc sequitur etiam immortalitas, neque enim vel incipere potest sui oblivisci, semperque cogitatio alia aliam trahit. At in animabus nulla est causa cur easdem manere dicamus, tametsi a corpore sind distinctae. Vera enim conservatio, consistit in conservationis suae sensu...») (Leibniz, 1999, 1461).
96
GUILLERMO FERRER
REFERENCES
Altobrando, A. (2010). Husserl e ilproblema delle monade. Turin: Trauben.
Belaval, Y. (1995). De l’âge classique aux lumières. Lectures Leibniziennes. Paris: Beauchesne.
Husserl, E. (1966). Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918-1926. (Hua XI). Den Haag: Martinus Nijhoff.
Husserl, E. (1973). Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil. 1929-35. (Hua XV). Den Haag: Martinus Nijhoff.
Husserl, E. (1977). Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. (Hua III/1). Den Haag: Martinus Nijhoff.
Husserl, E. (1992). Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934-1937. (Hua XXIX). Den Haag: Kluwer.
Husserl, E. (2006). Späte Texte über Zeitkonstitution (1929-1934). Die C-Manuskripte. (Hua Materialien Vol. VIII). New York: Springer.
Kant, I. (1974). Kritik der reinen Vernunft. (Vol. III/1). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Kant, I. (1983). Schriften zur Metaphysik und Logik. (Vol. III). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Leibniz, G. W (1996 a). Kleine Schriften zur Metaphysik. (Philosophische Schriften. Vol. 1). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Leibniz, G. W. (1996 b). Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand I. (Philosophische Schriften. Vol. 3.1). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Leibniz, G. W (1999). Sämtliche Schriften und Briefe. Sechste Reihe. Berlin: Akademie.
Leibniz, G. W(2007). Der Briefwechsel mit Bartholomäus des Bosses. Hamburg: Felix Meiner.
MacDonald, P (2007). Husserl, the Monad and Immortality. Indo-Pacific Journal of Phenomenology, (7), 1-18. Retrieved from
http://www.ipjp.org/index.php?option=com_jdownloas&Itemid=318&view=finish&cid=119
&catid=31&m=0
HORIZON 3 (2) 2014
97
Meillassoux, Q. (2006). Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence. Paris: Seuil.
Meillassoux, Q. (2008). Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz. Zurich-Berlin: Diaphanes.
Poser, H. (2005). Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung. Hamburg: Junius.
Pradelle, D. (2006). Monadologie et phénoménologie. Philosophie, (92), 56-85.
Russell, B. (2008). A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz. Nottingham: Spokesman. Serres, M. (2001). Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques. Paris: PUF.
98
GUILLERMO FERRER