DOI :10.30842/ielcp230690152315
Natalija Ganina
(МГУ им. М. В. Ломоносова)
ZEITBEZEICHNUNGEN IM LÜBISCHEN RECHT
В статье, посвященной исследованию лексики любекского городского права, рассматривается функционирование субстантивных обозначений времени и производных от них наречий. В частности, определяется состав этой лексико-семантической группы, обсуждается семантика и правовая специфика соответствующих обозначений. Исследование основывается на тексте, представленном в важнейшей рукописи любекского права, а именно в «кодексе любекской канцелярии» (Киль, Stadtarchiv, Hs. 79413, около 1282 г.), тогда как при обсуждении вступлений, колофонов и дополнений учитываются и другие кодексы любекского права, прежде всего недавно обнаруженный кодекс Бардевика (Юрьевец, «Музеи города Юрьевца», ЮКМ-2010, 1294 г.).
Ключевые слова: Любек, любекское право, средненижненемецкий, Кильский кодекс, кодекс Бардевика
Natalija Ganina
(Lomonosov Moscow State University)
Indications of time in the Lübeck Law
This study concerning the vocabulary of the Lübeck City Law focuses on the usage of time indications represented by nouns and their adverbial derivatives. In particular, we define the structure of this group of terms and discuss its semantics and law specifics. The study is developed on the base of the text presented in the principal manuscript of the Lübeck Law, namely in the 'Codex of the Lübeck Chancellery' (Kiel, Stadtarchiv, Hs. 79413, c. 1282), while the discussion of preambles, colophons and additions considers other codices of the Lübeck Law, especially the recently discovered Bardewik Codex (Yuryevets, 'Museums of Yuryevets', YuKM-2010).
Keywords: Lübeck, Lübeck Law, Middle Low German, indications of time, Kiel codex, Bardewik codex
Die Zeitbezeichnungen im Lübischen Recht bilden ein kompaktes, leicht übersehbares System. Ihre Funktionierung kann folgendermaßen dargestellt werden.
1. Zeit, Zeitpunkt, Frist
Das Substantiv tit (f.) 'Zeit' ist in einer Reihe von Artikeln des Lübischen Rechts belegt (Ki 49, 57, 98, 190f., 207, 226, 243, 246)1 und dient zur Bezeichnung einer Zeitspanne von bestimmter bzw. unbestimmter Dauer, deren genauere Charakteristik aus dem Kontext hervorgeht. Vgl.: So welic man en schep huret to ener beschedenen tit (Ki 98), vnde eset den inener beslotenen tit (Ki 231), er si en oder mer to siner rechten tit (ebd.), vmme dhene dhe to ener fiunde ofte to eneme dhaghe ofte to lengher tit (Ki 191), He schal fe auer to ener tit nomen alle (Ki 49).
Der Begriff 'Zeitpunkt' wird durch das Substantiv mal 'Mal, Zeitpunkt' (n.) wiedergegeben (Ki 25, 126, 172, 195, 201, 214), vgl. to deme dridden male (Ki 25, 195), to dem male. do he den ienen beclagede. (Ki 214) in der Bedeutung 'Mal' und sunt dem male 'von da an' (Ki 201), sunt dem male dat 'seitdem' (Ki 126), na dem male dat 'da, weil' (Ki 172) in der Bedeutung 'Zeitpunkt'; zu den Deutungen siehe (Korlen 1951:216). Der Begriff 'zum dritten Mal' wird allerdings mit dem Adverb driddenwerve bezeichnet (Ki 223).
Der Begriff 'Frist' wird mit dem Substantiv verst (f.) bezeichnet, das in einem späteren Artikel des Lübischen Rechts erscheint: (Ki 214, Artikelüberschrift van claghe vor gherichte' Von der Klage vor Gericht').
2. Stunde
Das Substantiv stunde (f.) ist im Lübischen Recht nur einmal belegt: Liker wis eset vmme dhene dhe to ener ftunde ofte to eneme dhaghe ofte to lengher tit (Ki 191). Dabei handelt es sich um die Bedeutung 'Stunde' (Korlen 1951:226) und nicht um 'Zeitabschnitt, Zeitpunkt, Zeit' im allgemeinen Sinne, wie es für die Belege aus mittelhochdeutschen literarischen Denkmälern üblich ist (Lexer 1872-1878, 2: Sp. 1268f.)
3. Tag
Das Substantiv dach 'Tag' kommt in den meisten Gebrauchsfällen (Ki 61, 138, 146, 159, 182, 191, 202) in direkter Bedeutung vor, vgl.: binnen eneme oder binnen twen daghen (Ki 159). Nur in einem Beleg entwickelt sich die Bedeutung 'Termin,
1 Hier und im Folgenden werden die Artikel des Lübischen Rechts nach dem Kieler Codex (Ki; der 'Lübecker Kanzleicodex', Kiel, Stadtarchiv, Hs. 79413, früher ohne Signatur, um 1282) bzw. nach der Edition von Gustav Korlen zitiert (Korlen 1951: 83-169).
Zahlung': Dar en deme anderen schuldich is. vnde nicht ne gelt. to sime dage (Ki 142). Was die Termine anbetrifft, werden die Fristen von einem Tag, von zwei sowie von drei Tagen und von acht Tagen erwähnt: binnen eneme oder binnen twen daghen (Ki 159), binnen dRen daghen (Ki 181, vgl. men leget en uredelos indeme dridden daghe, Ki 182) und binnen achte dagen (Ki 61, 138, vgl. vnde schal it denne holden. achte daghe, Ki 146). Am häufigsten wird dach in der Formulierung jar unde dach gebraucht (dazu s.u.). Das Substantiv kommt auch in den Bezeichnungen der Kirchenfeste vor: des hilegen dages 'sonntags' (Ki 137, 152), na funte Michelis dage 'nach dem Michaelstag' (Ki 96), to sunte mertens daghe 'zum Martinstag' (Ki 220). Einmal ist auch die Zusammensetzung etdach 'Eidestag' belegt: to den ed daghen (Ki 231). Das Substantiv morgen 'Morgen' wird nur in der Zusammensetzung morgensprake (f.) 'Morgensprache, Zunftversammlung' belegt (Ki 37), während es keine Belege für 'Abend' gibt.
4. Nacht
Als Simplex kommt das Substantiv nacht (f.) 'Nacht' im Lübischen Recht nur einmal vor: So we des nachtes inder strate geit (Ki 72, Artikelüberschrift van nacht gengeren). In demselben Artikel sind auch die Zusammensetzungen nachtgengere und nachtgengelinc (E 72) 'Nachtwanderer' belegt. Interessant ist die Textstelle, in der die Zusammensetzung nachttit neben der Erwähnung der Nachtglocke (slapklocke) gebraucht wird: Schut auer desse mishandelinge bi nachtiden. na der slapcloken he schal sunderliken dar vmme wedden der stat dre mark suluers (Ki 228).
Die wichtigsten Belege für 'Nacht' sind allerdings die Komposita verteinnacht (Pl.) 'Frist von 14 Nächten bzw. Tagen' (Ki 88, 96, 146, 226) und dwernacht f.) 'Quernacht, die zwischen zwei Tagen liegende Nacht, Frist von zwei Tagen und einer Nacht' (Ki 146, 158). Vgl.: so schal he ene vor bringen binnen vertein nachten (Ki 88, Artikelüberschrift van deme warende 'Von dem Gewährsmann'), ne gift he sines tinses nicht verteyn nacht na paschen. oder verteynacht na sunte Michelis dage. wil de man dat vorderen des de wort tins sin is. (Ki 96, Artikelüberschrift van wort tinse 'Von dem Wortzins/Grundzins'), dar na schal het holden vertein nacht (Ki 146, Artikelüberschrift van demepande 'Von dem Pfand'), de scal it ieneme de den tins vp boret vore kundeghen vertein nacht vor der tit alfe he den tins fchal ut gheuen doit he des nicht. fo mach het nicht lofen er auer en ander tit to cumpt. fo fcal het auer ieneme vertein nacht vore kundeghen. (Ki 226, Artikelüberschrift van wichbelde
vnde van wortinse to losende 'Von der Ablösung der Grundrente und des Grundzinses'), vnde fokal it denne holden. achte daghe. vnde ouer de dweren nacht. (Ki 146, 'Von dem Pfand'), men schalet dar na holden ouer dwer nacht (Ki 158, Artikelüberschrift van pande 'Von dem Pfand').
Diese Ableitungen vom mnd. nacht gehen auf die altgermanische Zeitrechnung nach den Nächten zurück und kommen sowohl in den germanischen Stammesrechten als auch in deutschen mittelalterlichen Rechtsdenkmälern vor. Der Begriff 'Frist von 14 Nächten' (vgl. engl. fortnight) ist seit dem 7. Jahrhundert belegt, und zwar in den Gesetzen des Königs Ine von Wessex: Ewo biö mid hire giung sceape scill. weorö oppwt XIIII niht ofer Eastran. 'ein Mutterschaf mit ihrem jungen Schaf kostet einen Schilling binnen vierzehn Nächten/Tagen nach Ostern' (Ine 55; Attenborough 1922, 54; XIIII niht in den meisten Handschriften gegenüber XII niht in einer Handschrift bei durchgängiger Zeitrechnung nach den Nächten). Es ist bemerkenswert, dass eine Textstelle im Lübischen Recht mit dieser angelsächsischen Bestimmung wörtlich übereinstimmt, vgl. verteyn nacht na paschen (Ki 96) und XIIII niht ofer Eastran 'binnen vierzehn Nächten/Tagen nach Ostern' (Ine 55). Auch in den altfriesischen Rechtsdenkmälern ist der Rechtsbegriff fiuwertene nacht belegt, u.a. in der Wendung binna fiuwertene nachten (Richthofen 1840: 744). Zum Gebrauch von vertein-, vertennacht im Mittelniederdeutschen siehe (Schiller, Lübben 1875— 1881, V: 245, Lasch, Borchling 1956-2007, I: Sp. 708)2. Dazu sei bemerkt, dass im Lübischen Recht ausschließlich verteynnacht gebraucht wird, während in den altfriesischen Rechtsquellen sowohl 'Frist von 14 Nächten' als auch 'Frist von 14 Tagen' vorkommt, vgl. binna fiowrten degum (von Richthofen 1840: 744).
Das mnd. dwernacht (dwers-, twers-, dwarsnacht, de dwere nacht, von dwer(s) in der Bedeutung 'zwischen inne liegend') wird bei Karl Schiller und August Lübben als 'Quernacht, d. i. ein Zeitraum, den eine Nacht kreuzt, so dass bloß eine Nacht dazwischen liegt, innerhalb 24 Stunden' gedeutet (Schiller, Lübben 1875-1881, 1: 614), vgl. weitere Belege und Deutungen in diesem Sinne: das mhd. (über) dwerch naht 'so dass bloß eine Nacht dazwischen liegt, innerhalb 24 Stunden' überein (Benecke, Müller, Zarncke 1854-1866, 3: Sp. 166b), das mhd. twerhes über naht 'in der Nacht zwischen diesem und dem folgenden Tag' (Lexer 1872-
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Albrecht Cordes (Frankfurt a. M.) habe ich fur seine freundliche Hilfe beim Zugang zum Mittelniederdeuschen Handworterbuch zu danken.
1878, 2: Sp. 1600 twerchnaht, Lexer 1872-1878, 3: Sp. 378) und das afries. thwers (twers, dwers) ur nacht 'quers über Nacht' (Richthofen 1840: 1082). Im Gegenteil wird in moderner Forschung die Vorstellung von einer längeren Frist hervorgehoben, vgl. „Quernacht, die zwischen zwei Tagen liegende Nacht, Zeitraum, innerhalb dessen eine volle Nacht liegt, över dwernacht dat is des anderen dages, altera die, secunda die, över de dweren(de) nacht, der durch eine dazwischen liegende Nacht vom dies a quo getrennte Tag, dwernacht dat is van der tit uppe den derden dach d.i. unter Einrechnung des Anfangs- und Endtermins 48 Stunden" (Lasch, Borchling 1956-2007, 1: Sp. 505f.). Dies stimmt mit der Deutung des mnd. dwernacht in der Edition des Lübischen Rechts überein: „Quernacht, die zwischen zwei Tagen liegende Nacht, Frist von zwei Tagen und einer Nacht" (Korlen 1951:199).
Weitere Bedeutungen des mnd. dwernacht kommen als Weiterentwicklung des ursprünglichen Begriffs vor, nämlich 'Zeitraum der gesetzlichen Zitation, Zeitraum der beschleunigten Zahlungsverpflichtung (zu bestimmten Zeiten im Jahre); das Recht des Klägers während dieses Zeitraums vom Schuldner proxima die ante occasum solis Zahlung zu erhalten' und 'Termin, Frist', vgl. dwernacht leggen 'Termin feststellen', bes. dwernacht leggen över 8 dage, dwernacht is 14 dage, to dwernachtenrechte '6 Wochen und 6 Tage' (ebd.) Im Lübischen Recht sind diese späteren Bedeutungen des mnd. dwernacht nicht belegt.
5. Woche
Das Substantiv weke (f.) 'Woche' ist viermal belegt, worum es sich um verschiedene Fristen im Zusammenhang mit konkreten Rechtssituationen handelt, und zwar um vier bis sechs bzw. zehn Wochen. Vgl. binnen ver weken (Ki 17, 61, Verkauf von Erbgut und Aufteilung des Erbes in einer Erbengemeinschaft), binnen fes weken (Ki 88, Artikelüberschrift van deme warende 'Von dem Gewährsmann'), he schal dar vore eten brot vnde water. tein weken in deme torne (Ki 55, Artikelüberschrift van slande dat lemede maket 'Von der Schlägerei, die zu der Lähmung führt').
6. Monat
Das Substantiv manet (m., im Mnd. auch n. und f.) kommt im Lübischen Recht nur einmal im Plural vor. Der entsprechende Artikel ist dem Erwerb der Lübecker Bürgerschaft gewidmet, wobei die erlaubte Aufenthaltsdauer eines Fremdlings mit seiner Familie auf die Frist von drei Monaten beschränkt wird: van der
borgherschap. So welc man kumt in vnfe fiat. mit fineme wiue. ofte mit finen kinderen. de mach dar inne wesen dre manede. Blift he dar leng inne. he fchal vnfe burfcap winnen. (Ki 187).
7. Jahr
Das Substantiv jar (n.) wird vor allem in konkreten Zeitangaben gebraucht, vgl. So wanne de ratman de van der louen genomet sint vp dat hus komet so Scholen se de besenden de en iar geseten hebbet (Ki 136), he mach dat hus mit siner enen hant en iar beholden up den hiligen (Ki 34, Artikelüberschrift van hushure 'Von der Hausmiete'; eine Person darf ein Haus ein Jahr durch seinen Eid auf den Reliquien behalten), So schal he dar vmme licghen indeme torne en iar vnde eten vnde drinken dar in ne water vnde brot vnde na dheme iare schal men ene wisen vt der stat (Ki 229, Artikelüberschrift De ene iuncfruwen vor louet ane vormunden '[Von dem], der eine Jungfrau ohne Vormund vermählt'), dar to solen se ers ammetes inberen en ganz iar (Ki 205, Artikelüberschrift van bekkeren 'Von den Bäckern'), Mer de ene wone in deme hus en iar oder twe al so lange alse se to rade werden (Ki 60), dat schal he vorderen binnen den ersten twen iaren (Ki 172, Artikelüberschrift van der vruwen medegift to vorderende 'Von der Forderung der Mitgift der Frau'), So wor en. man ene Jvncfruwen ofte ene vruwen nimt vnde besit mit ere twintich iar oder dhar over. vnde sterft (Ki 171), he is schuldich dat iar alle ganz. to geldene (Ki 34).
Die Halbjahresfrist bezieht sich auf die Bedingungen der Hausmiete: he is schuldich dehure van deme haluen iare. ne is auer he dar nicht in geuaren. he ne is nicht schuldich. Is oc he dar inne. ouer dat halue iar. he is fchuldich dat iar alle ganz. to geldene (Ki 34). Daneben gilt die Halbjahresfrist als Strafe für einen Mann, der eine Jungfrau oder eine Frau unter einem falschen Eheversprechen zur Beiwohnung verleitet: he schal dar vmme eteen indeme torne en half iar water vnde brot. na deme haluen iare schalmen ene setten vppen kak (Ki 170, Artikelüberschrift De vp ene vruwen ofte vp ene iuncvruwen sprecht vp echtschap [Von dem], der mit einer Frau oder mit einer Jungfrau über die Ehe redet').
Der Gebrauch des Wortes ist auch mit Altersangaben sowie mit dem Begriff der Volljährigkeit bzw. Mündigkeit verbunden, vgl. is dat der kindere ienech is to sinen Jaren komen (Ki 13), kindere binnen twelf iaren (Ki 94), Alse en knecht is achtein iar olt. so is he sulf mundich. vnde wanso en iuncvrowe is twelef iar alt. den is se komen to eren iaren. iedoch so ne wert se nicht sulfmundich. nicht mer mit ereme vormunde. (Ki 115, Artikelüberschrift De mvndich is
'Eine Person, die mündig ist'), ein kint van tuelf iaren (Ki 240), iungelinge de comen sint. to eren achtein. iaren (Ki 206), binnen den viuunttwintich iaren mach he nicht don ane bis[orgere] beneden den xviii iaren ane voremunde [...] Na dem viuuntwintegisten iare. schal de iungelinc suluen raden (Ki 207). Das abgeleitete Adverb järlikes kommt einmal vor: dar vmme fchal he geuen iarlekes achte fchillinge (Ki 150, Artikelüberschrift van der mvren 'Von der Mauer'; es handelt sich um gegenseitige Verpflichtungen der Nachbarn bei Errichtung einer Mauer im Zusammenhang mit dem Grundzins).
Weiterhin ist das mnd. jär in der festen Wendung jär unde dach durchgängig belegt (Ki 17, 20, 86-88, 148, 152, 161), vgl. z. B. So war en man en erue uor koft. iemanne he schalet eme vp laten vor deme rade. vnde schal is ene waren. iar vnde dach (Ki 17), ne komet oc neman binnen deme iare. vnde dage (Ki 20), Is he ouer se. binnen iare vnde dage (Ki 88, Artikelüberschrift van deme warende 'Von dem Gewährsmann'). Mit dieser Wendung wird die Verjährungsfrist bezeichnet. Die Hauptfrage ist, ob darunter im Lübischen Recht strikt 'ein Jahr und ein Tag' oder hingegen 'ein Jahr, sechs Wochen und drei Tage' wie im Sachsenspiegel bzw. in weiteren mittelalterlichen Rechtsquellen gemeint ist.
Bei Sybrand Fockema-Andreae wird anhand der fränkischen Kapitularien gezeigt, dass die Bedeutung 'ein Jahr und ein Tag' in den germanischen Rechtsquellen ursprunglich gewesen sei, vgl. annumque et diem in Capitula legibus addita aus dem Jahre 818 (Fockema-Andreae 1893: 75-78). Nach Fockema-Andreae ist die Bedeutung 'ein Jahr und ein Tag' auch für den Sachsenspiegel ursprünglich, während 'ein Jahr, sechs Wochen und drei Tagen' als eine spätere Periphrase der fruheren direkten Bedeutung in der mittelalterlichen Rechtstradition zu interpretieren ist (Fockema-Andreae 1893: 78f.). Im Gegenteil plädiert Franz Klein-Bruck-schwaiger für die Bedeutung 'ein Jahr, sechs Wochen und drei Tagen' (Klein-Bruckschwaiger 1950, Klein-Bruckschwaiger 1978), was auch in der Edition der Wollfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels (Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf 3.1.Aug. 2o) hervorgehoben wird (Hüpper 1993: 152).
Was das Lübische Recht anbetrifft, wird bei Carl Pauli angegeben, dass in Lübeck jär unde dach 'ein Jahr und ein Tag' bedeutet (Pauli 1837-1865, 1:174).3 Der überaus konkrete Gebrauch
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Bei Korlen wird die Deutung 'ein Jahr, sechs Wochen und drei Tage' mit Stütze auf die Studie von Franz Klein-Bruckschwaiger hervorgehoben,
der Bezeichnungen jar, dach und weke im Lübischen Recht (s.o.) spricht zugunsten dieser Deutung. Zur Besprechung von jar unde dach im Lübischen Recht im rechtlichen Sinne, auch mit Rücksicht auf die Frist von vier Wochen in Erbfragen sowie mit Parallelen aus weiteren Rechtsquellen siehe (Pauli 1837-1865, 1: 175-180).
8. Jahreszeiten
Von den Jahreszeiten wird im Lübischen Recht nur der Sommer explizit erwähnt. Im entsprechenden Artikel handelt es sich von der Schiffsmiete, wenn ein Schiff für den Gebrauch im Sommer, und zwar bis zum Martinstag gemietet wird: Wint en man en schip van deme anderen dat he des bruke to somerdaghen. de somer nimt enen ende to sunte mertens daghe (Ki 220, Artikelüberschrift Uan schepen to hurende 'Von der Schiffsmiete'). Dies kann sowohl durch die archaische zweigliedrige Aufteilung des Jahres 'Winter -Sommer' als auch durch die übliche mittelalterliche Tradition der Jahreszeitenangaben nach den Kirchenfesten bedingt sein. Dabei sind schon keine Spuren der altgermanischen Zeitrechnung nach den Wintern auffindbar.
9. Kirchenjahr
Im Lübischen Recht sind folgende Bezeichnungen der Kirchenfeste und Gedenktage belegt: des hilegen dages (G.) 'sonntags' (Ki 137, 152), advente (f.) 'Advent' (Ki 231), vaste f.) 'Fastenzeit' (Ki 231), paschen (Pl.) 'Ostern' (Ki 96), sunte Michelis dag 'Michaelistag, 29. September' (Ki 96) und sunte mertens dag 'Martinstag, 11. November' (Ki 220). 'Fastenzeit' und 'Advent' werden nebeneinander als Anlässe für die Aufschiebung der Eidesleistung erwähnt: So wanne men dat recht scal don also dat it is inder uasten oder inder auente dhat men den ed verstet wante to den ed daghen (Ki 231). 'Ostern' und 'Michaeli' erscheinen ebenfalls zusammen als Terminangaben für die Zahlung des Grundzinses: ne gift he sines tinses nicht verteyn nacht na pafchen. oder verteynacht na sunte Michelis dage (Ki 96), während 'Martini' das Ende der Sommertage und den Termin zur Rückgabe des gemieteten Schiffes markiert: to sunte mertens daghe 'zum Martinstag' (Ki 220).
Einige Angaben der Gedenktage der Heiligen sind im Bardewik-schen Codex des Lübischen Rechts außerhalb des Haupttextes belegt, und zwar in den zum Codex beigehefteten Aufzeichnungen
wobei auch die Deutung 'ein Jahr und ein Tag' mit Verweis auf Pauli behalten wird (Korlen 1951: 211).
eines Unbekannten über die Lübecker Ereignisse aus den Jahren 1316 bis 1320: Dar na jndeme jare. mo ccc.xx. in sunte Nicolaus daghe. was de trauene. sogrot van vp watere vander Se. dat de trauene stot vppe deme damme anderhalue [...] Darna jndes hilghen kerstes auende. wart de torne to trauene munde gheantwordit. den ratma(n)nen van lubeke. vnde wart netdene dorbroken. vnde ghestort. darna binnen xxii. daghen. (B, Fragment 2).
'Ewigkeit' und Datierungen
In Übereinstimmung mit der Pragmatik des Rechts erscheinen die Zeitbezeichnungen im Lübischen Recht in konkreten Verordnungen, um entsprechende Termine und Fristen anzugeben. So ist es kein Zufall, dass die Hinweise auf 'immerwährende', 'ewige' Bestimmungen selten vorkommen und sich auf folgende Beispiele beschränken: dat schal immer stede bliuen (Ki 9), vnde he ne fchal dar na nimmer mer iemende tugen helpen (Ki 50), vnde dhe ne fchal nimmer mer werden vnfe borgere (Ki 154), dat se ewich scole sin (Ratswahlordnung); zum komplexen Status dieses Textes siehe (Ebel 1971:226, 229f.; Am Ende 1975:213; Lutterbeck 2002:16). Eine breitere historische Zeitperspektive wird nur im lateinischen Proömium des Kieler Codex und des Elbinger Codex geboten (E; Danzig/Gdansk, Wojewodzkie Archiwum Panstwowe, 369, 1/1, früher Elbing/Elbl^g, Stadtarchiv, ohne Signatur [1], um 1275): presentibus et futuris innotescat (Ki, Bl. 1r; E, Bl. 2r). Ebenso werden genaue Datierungen außerhalb des Haupttexts des Lübischen Rechts gebracht, wie z. B. im Proömium des Kieler und des Elbinger Codex, im Kolophon des Bardewikschen Codex aus dem Jahre 1294 (B, Bl. 96vb); siehe (Ganina, Mokretsova 2016:51), in den Aufzeichnungen eines Unbekannten über die Lübecker Ereignisse aus den Jahren 1316-1320 (B, Fragment 2) und im Eintrag auf Bl. 12r des Tidemann-Güstrowschen Codex (T1; Kopenhagen, Danske Kongelige Bibliotek, Cod. Ledreborg 13, 2o, i. J. 1348, Schreiber Domvikar Helmich Timmo im Auftrag des Bürgermeisters Tidemann Güstrow).
Literatur
Am Ende, B. 1975: Studien zur Verfassungsgeschichte Lübecks im 12. und 13. Jahrhundert. Lübeck (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B, Bd. 2). Attenborough, F. L. (Ed.) 1922: The Laws of the Earliest English Kings. Cambridge.
Benecke, G. F., Müller, W., Zarncke, F. (Hrsg.) 1854-1866: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg
Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig.
Ebel, W. 1971: Lübisches Recht. Bd. I. Lübeck.
Fockema-Andreae, S. J. 1893: Die Frist von Jahr und Tag und ihre Wirkung in den Niederlanden. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. 14, 75-111.
Ganina, N., Mokretsova, I. 2016: Verschollener 'Bardewikscher Codex' aufgefunden. Zeitschrift für deutsches Altertum. 145, 49-69.
Hüpper, D. 1993: Die Bildersprache: Zur Funktion der Illustration. Eike von Repgow. Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift Cod. Guelf 3.1.Aug. 2o. Hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand. Berlin.
Klein-Bruckschwaiger, F. 1950: Jahr und Tag. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. 67, 441-446.
Klein-Bruckschwaiger, F. 1978: Jahr und Tag. Handwörterbuch der Deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2, Sp. 288-291.
Korlen, G. 1951: Norddeutsche Stadtrechte. Bd. II: Das mittelniederdeutsche Stadtrecht von Lübeck nach seinen ältesten Formen. Lund/Kopenhagen (Lunder Germanistische Forschungen 23).
Lasch, A., Borchling, C. 1956-2007: Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Hrsg. nach G. Cordes und A. Hübner ab 1993 von D. Möhn und I. Schröder. 3 Bde. Neumünster.
Lexer, M. 1872-1878: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig.
Lutterbeck, M. 2002: Der Rat der Stadt Lübeck im 13. und 14. Jahrhundert. Politische, personale und wirtschaftliche Zusammenhänge in einer städtischen Führungsgruppe. Lübeck (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B, 35).
Pauli, C. W., 1837-1865: Abhandlungen aus dem Lübischen Rechte. 4 Bde. Lübeck.
Richthofen, K. von. 1840: Altfriesisches Wörterbuch. Göttingen (Neudruck Aalen 1970).
Schiller, K., Lübben, A. 1875-1881: Mittelniederdeutsches Wörterbuch. 6 Bde. Bremen.