Ein russischer Schatten
auf dem Attentat von Sarajevo
Русская тень над Сараевским убийством
Werner Lehfeldt
Georg-August-Universität Göttingen, Deutschland
Вернер Лефельдт
Гёттингенский университет им. Георга-Августа, Гёттинген, Германия
Zusammenfassung
In dem Artikel wird die Aufmerksamkeit auf ein Dokument gelenkt, in dem Hinweise auf einen möglichen russischen Hintergrund der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Ehefrau am 28. Juni 1914 in Sarajevo enthalten sind. Das fragliche Dokument stammt aus der Feder des Hauptorganisators dieses verhängnisvollen Mordanschlags, des Chefs des serbischen militärischen Geheimdiensts, Oberst Dragutin Dimitrijevic-Apis. Geschrieben wurde es im Frühjahr 1917, als Dimitrijevic-Apis angeklagt war, einen weiteren Mordanschlag organisiert zu haben, diesmal auf den serbischen Regenten Aleksandar. Dimitrijevic-Apis legt dar, er habe die endgültige Entscheidung zur Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand erst gefasst, als ihm der russische Militärattache in Belgrad, Oberst Viktor Artamanov (in anderen Quellen Artamonov), versichert hatte, Russland werde Serbien im Falle eines österreichischen Angriffs nicht im Stich, d.h. nicht ohne militärische Unterstützung lassen.
Schlüsselwörter
Beginn des 1. Weltkriegs, Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sa-
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rajevo 1914, Dragutin Dimitrijevic-Apis als Hauptorganisator der Attentatsverschwörung, mögliche russische Komplizenschaft an der Verschwörung
Резюме
Основная цель настоящей заметки — обратить внимание исследователей на документ, в котором содержится намёк на возможное тайное участие России в убийстве наследника австрийского престола эрцгерцога Франца Фердинанда и его супруги 28 июня 1914 г. в Сараеве. Этот документ был написан в 1917 г. основным организатором фатального убийства — главой сербской военной тайной разведывательной службы полковником Драгу-тином Димитриевичем (Аписом) в то время, когда он был обвинен в организации очередного подобного покушения на сербского принца-регента Александра. Димитриевич-Апис пишет, что он принял окончательное решение об убийстве эрцгерцога Франца Фердинанда только после того, как был заверен российским военным атташе в Белграде полковником Виктором Артамановым (известным также как Артамонов) в том, что Россия не оставит Сербию без военной поддержки в случае австрийского нападения.
Ключевые слова
начало Первой Мировой войны, убийство эрцгерцога Франца Фердинанда в Сараеве в 1914 г., Драгутин Димитриевич (Апис) как основной организатор покушения, возможное участие России в покушении
Das Attentat von Sarajevo, dem am späten Vormittag des 28. Juni 1914 der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este und dessen Gemahlin Herzogin Sophie von Hohenberg zum Opfer fielen, gilt in der historiographischen Literatur zur Vorgeschichte des 1. Weltkriegs unbestritten als dasjenige Ereignis, durch das eine Kette von politischen, diplomatischen und schließlich auch militärischen Aktionen in Gang gesetzt wurde, die schließlich Ende Juli/Anfang August in den Ausbruch des Krieges münden sollten.
Selbstverständlich nahmen die österreichischen Behörden sogleich nach der Verhaftung des erfolglosen Bombenwerfers Nedeljko Cabrinovic, des Todesschützen Gavrilo Princip und deren vier Mitverschwörer, die entlang der geplanten Fahrstrecke des erzherzoglichen Autokonvois postiert gewesen waren, Ermittlungen auf, um Aufschluss über mögliche Hintermänner und (Mit) Organisatoren des Attentats zu gewinnen. Die Ergebnisse, zu denen sie in den nicht ganz vier Wochen zwischen dem Anschlag und der Übergabe der auf 48 Stunden befristeten diplomatischen Begehrnote des Wiener Außenministeriums an die serbische Regierung am 23. Juli gelangt waren, fanden ihren Niederschlag in den in dem „Ultimatum" vorgebrachten Forderungen. Insbesondere wurde dort unter Punkt 7 verlangt, „mit aller Be-
schleunigung die Verhaftung des Majors Voija Tankosic und eines gewissen Milan Ciganovic, serbischen Staatsbeamten, vorzunehmen, welche durch die Ergebnisse der Untersuchung kompromittiert sind" [Gooß 1930: 230 f.]. Milan Ciganovic war ein Kontaktmann zwischen Nedeljko Cabrinovic und Gav-rilo Princip einerseits und dem Major Vojislav Tankosic gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass Cabrinovic und Princip in Belgrad im Bombenwerfen und Pistolenschießen geübt worden waren. Durch die Hände von Tankosic waren auch die Waffen - vier Pistolen belgischer Provenienz und sechs Bomben aus dem serbischen Armeearsenal in Kragujevac [Albertini 1952: 58] - gegangen, die mit Hilfe serbischer Grenzbeamter nach Bosnien geschmuggelt worden waren.
Bis zur Formulierung und Übergabe des „Ultimatums" an die Belgrader Regierung war es den österreichischen Ermittlungsbeamten allerdings nicht gelungen, die zentrale serbische Figur namhaft zu machen, in deren Auftrag Tankosic und Ciganovic gehandelt hatten, den Oberst (пуковник) Dragu-tin Dimitrijevic, genannt Apis, den Chef des militärischen Geheimdienstes (обавешта^о оделеае) des serbischen Generalstabs, dessen „right hand man" Tankosic gewesen war [Albertini 1952: 55]. Dimitrijevic-Apis war Mitgründer und Mitglied der Obersten Zentralleitung der Geheimorganisation ^едиаеае или смрт" („Vereinigung oder Tod"), der berüchtigten „Црна рука" („Schwarze Hand"). Er war schon 1903 führend an der Vorbereitung und Durchführung der Ermordung des serbischen Königs Aleksandar Obrenovic und dessen Gemahlin beteiligt gewesen, bereits damals zusammen mit Tankosic [ibid.]. Wäre die Rolle, die Dimitrijevic-Apis bei der Vorbereitung des Attentats von Sarajevo gespielt hatte, den österreichischen Ermittlern im Juli 1914 bekannt geworden, so hätte dieser Umstand mit Sicherheit in dem „Ultimatum" seinen Niederschlag gefunden, wären dessen Forderungen noch entschiedener und umfassender ausgefallen. Zumindest wäre die Verhaftung und Aburteilung des Obersten gefordert worden.
Noch wichtiger aber erscheint folgende Überlegung: Wäre das Wiener Außenministerium im Juli 1914 in der Lage gewesen, die europäischen Regierungen, insbesondere die der Großmächte, und die europäische Öffentlichkeit glaubhaft wissen zu lassen, dass eine zentrale Figur des serbischen Militärapparats führend an der Vorbereitung der Ermordung des Thronfolgers einer benachbarten Großmacht beteiligt gewesen war, dann erscheint es zumindest als zweifelhaft, ob es v.a. der russischen, aber auch der französischen Regierung in der Julikrise möglich gewesen wäre, die Auffassung zu vertreten, das offizielle Serbien habe mit dem Attentat nichts zu tun gehabt, und der serbischen Regierung bei ihrer Ablehnung der zentralen Forderungen des „Ultimatums" den Rücken zu stärken. „Tatsächlich hätte eine objektive Untersuchung die Zusammenhänge zwischen den Attentätern und königlich-serbischen Of-
fizieren ans Licht gebracht und den internationalen Kredit der Serben vollends zerstört" [Rose 2011: 109]. „Hinter dem Beharren auf der eigenen Souveränität stand vor allem die Befürchtung, dass die Hintergründe des Attentats in Serbien und das Ausmaß der Verwicklung staatlicher Akteure und Institutionen international bekannt werden könnten" [Leonhard 2014: 100].
Dass ein Bekanntwerden der Rolle Dimitrijevic-Apis' auch nach dem 1. Weltkrieg die Position Serbiens in der Diskussion um die Ursachen dieses weltumspannenden militärischen Konflikts außerordentlich geschwächt hätte, zeigt allein schon die Tatsache, dass die amtlichen Stellen Jugoslawiens nach Kräften bemüht waren, alle Hinweise auf diese Rolle nach Möglichkeit geheimzuhalten und zu unterdrücken. Insbesondere wurde das entscheidende Dokument, das diese Rolle in aller Deutlichkeit erkennen lässt, unter Verschluss gehalten.
Um was für ein Dokument handelt es sich hierbei? - Nach dem Rückzug der serbischen Armee nach Griechenland im Jahr 1915 wurde Dimitrijevic-Apis Ende 1916 zusammen mit einer Anzahl weiterer Offiziere und mit Rade Malobabic, einem seiner Mitarbeiter seit 1913, verhaftet und 1917 in Saloniki vor ein Militärgericht gestellt, wo gegen sie vom 20. März bis zum 23. Mai a.St. verhandelt wurde. Angeblich hatte er sich im Rahmen der Geheimorganisation ^едиаеае или смрт" an „umstürzlerischen Tätigkeiten" beteiligt sowie Rade Malobabic und Muhamed Mehmedbasic, den einzigen der sechs Verschwörer von Sarajevo, dem die Flucht gelungen war, gedeckt, die beide beschuldigt wurden, im August 1916 ein Attentat auf den Prinzregenten Aleksandar versucht zu haben. Dimitrijevic-Apis, acht weitere angeklagte Offiziere und Rade Malobabic wurden am 23. Mai 1917 a.St. wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Die meisten Verurteilten wurden allerdings begnadigt und nach Verbüßung kurzer Haftstrafen in Freiheit gesetzt. Nicht begnadigt wurden Dimitrijevic-Apis, der Major Velimir Vuletic und Rade Malobabic. Am 12. Juni 1917 a.St. wurden diese drei Verurteilten auf einem Feld in der Nähe von Saloniki durch Erschießen hingerichtet.
1953 wurde in Belgrad in einer Monographie zur „Wahrheit über den Prozess von Saloniki" („Истина о Солунском процесу") von Borivoje Neskovic ein vier Seiten langer Text veröffentlicht, den Dimitrijevic-Apis am 28. März 1917 a.St. dem gegen ihn und andere Angeklagte verhandelnden Offiziersgericht vorgelegt hatte und in dem er sich ohne Umschweife dazu bekennt, das Attentat gegen Erzherzog Franz-Ferdinand geplant zu haben (vgl. ein vollständiges Facsimile dieses Textes samt Transliteration bei Neskovic [1953: 276-281]). Bereits während des 2. Weltkriegs war nach der Besetzung Belgrads durch deutsche Truppen im serbischen Außenministerium ein Konzept dieses Bekenntnisses gefunden und in Deutschland veröffentlicht worden [Uebersberger 1943; Neskovic 1953: 276].1
1 Zur Rolle von Dimitrijevic-Apis bei der Planung und Organisation des Attentats
In seinem Bekenntnis schreibt Dimitrijevic-Apis:
. . . ja сам ocehajyta да се Аустрща спрема за рат са нама мислио, да he жстанком престолонаследника аустриског воjничкa странка и стру|а, Kojoj je он на челу био, изгубити своjу jaчину и да he на тaj начин ратна опасност од Србще бити отклонена или he бар за нешто бити одложена, те сам због тога ангажовао МалобабиЬа, да приликом заказаног доласка Фердинандовог у Сaрajeво организу|е атентат на аега. [. . .] МалобабиЬ je извршио моj налог, организовао je и извршио атентат [Neskovic 1953: 277 f.].
In deutscher Übersetzung:
. . . habe ich, weil ich spürte, dass sich Österreich auf einen Krieg mit uns vorbereitete, geglaubt, dass durch das Verschwinden des österreichischen Thronfolgers die Kriegspartei und die Strömung, an deren Spitze er stand, ihre Stärke einbüßen und dass auf diese Weise die Kriegsgefahr von Serbien abgewendet oder wenigstens etwas hinausgeschoben würde, Malobabic damit beauftragt, bei der Gelegenheit des angekündigten Besuchs Ferdinands in Sarajevo ein Attentat auf ihn zu organisieren. [. . .] Malobabic führte meinen Auftrag aus, organisierte das Attentat und führte es aus.
Wichtig ist nun noch folgendes Détail aus dem Apisschen Bekenntnistext. An der im vorangehenden Zitat durch Punkte markierten Stelle heißt es unmittelbar weiter:
На ово сам се решио дефинитивно, тек онда кад ми je Артаманов дао увере^е, да нас Русща неЬе оставити без заштите ако нас Аустрща нападне [Neskovic 1953: 277].
In deutscher Übersetzung:
Dazu habe ich mich definitiv erst dann entschlossen, als mir Artamanov versicherte, Russland würde uns nicht im Stich [wörtlich: ohne Verteidigung] lassen, sollte uns Österreich angreifen.
Von seinen Attentatsabsichten, so Dimitrijevic-Apis weiter, habe er allerdings seinem Gesprächspartner bei dieser Gelegenheit nichts mitgeteilt.
Oberst Viktor Artamanov (in anderen Quellen Artamonov), der russische Militârattaché in Belgrad, hatte schon vorher die Propagandatätigkeit der „Schwarzen Hand" aktiv unterstützt [Albertini 1952: 83 f.]. Nach dem 1. Weltkrieg hat Artamanov offen seine einstigen engen Beziehungen zu Dimitrijevic-Apis zugegeben. Ebenfalls nach dem Krieg hat Hauptmann Alek-sandr Veckovskij, 1914 ein Mitarbeiter Artamanovs, seinem ehemaligen Chef und dessen serbischem Partner widersprechend, ausgesagt, Dimitrijevic-Apis
von Sarajevo vgl. in dem grundlegenden Werk von Albertini [1952: 68-82]. Albertini konnte allerdings noch nicht das ja erst 1953 veröffentlichte Bekenntnis des Geheimdienstmajors kennen, wusste nur etwas von Gerüchten über die Existenz dieses Dokuments.
Slovene 2016 №1
habe Artamanov durchaus von dem geplanten Anschlag unterrichtet und dieser habe in St. Petersburg bei ungenannten offiziellen Stellen Erkundigungen nach den möglichen Folgen einer solchen Tat eingeholt [ibid.: 86, Fußnote 1; King, Woolmans 2013: 181 f.].2
Von Artamanov stammten nach dem Geständnis von Dimitrijevic-Apis auch die finanziellen Mittel für ein „Mann xoHopap", das die „raaBHH ynecH^H fteroBH", d.h. die Hauptbeteiligten des Attentats, durch Vermittlung von Rade Malobabic erhalten hätten [Neskovic 1953: 278].
Es ist bemerkenswert, dass die Veröffentlichung von Dimitrijevic-Apis' Geständnis durch Borivoje Neskovic aus dem Jahre 1953 zwar nicht vollständig unbemerkt geblieben ist (vgl. etwa [Gavrilovic 1955]), bis heute aber nicht die ihr gebührende Beachtung gefunden hat. In zahllosen Darstellungen der Vorgeschichte des 1. Weltkriegs aus jüngerer Zeit fehlt jeglicher Hinweis auf diesen Text. Als besonders bemerkenswertes Beispiel für diese Lücke sei das vieldiskutierte Buch „The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914" von Christopher Clark genannt, in dem es sogar ausdrücklich heißt, dass Dimitrijevic-Apis „left no straightforward account of his motives" [Clark 2012: 48] - eine Aussage, die eindeutig nicht zutrifft. Der vorliegende Beitrag dient daher in erster Linie der Absicht, darauf hinzuwirken, dass das von dem Hauptorganisator des verhängnisvollen Anschlags vom 28. Juni 1914 im Jahre 1917 aufgesetzte Bekenntnisschreiben bei Untersuchungen und Darstellungen des Weges, der in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts führen sollte, gebührend beachtet und berücksichtigt wird.
Bibliographie
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2 Zur Frage nach der Mitwisserschaft Artamanovs hinsichtlich der Planung des Attentats vgl. bei Albertini [1952: 82-86] - den Abschnitt „The Artamanov Question" und: [SosnosKY 1929: 188; Uebersberger 1943: 432 f.; Kiszling 1953: 286; Uebersber-ger 1958: 289 f., 297-300; Bühler 1960: 370; Dedijer 1978: 211-233; Lieven 1983: 139 f.; Mackenzie 1989: 129-131; Williamson 1991: 196 f.; Williamson, May 2007: 351; McMeekin 2011: 47]; besonders ausführlich: [Cafferky 2013: 181-211; Do-cherty, Macgregor 2013: 242 ff.; Friedrich 2014: 27, 450 f.].
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Werner Lehfeldt
Georg-August University of Gottingen A Russian Shadow over the Assassination in Sarajevo
Abstract
The main purpose of the present note is to draw attention to a document that contains hints of a possible Russian background to the assassination of the successor to the Austrian throne, Archduke Franz Ferdinand, and his wife on 28 June 1914 in Sarajevo. This document was written by the main organizer of this disastrous murder, the chief of the Serbian military secret service, Colonel Dragutin Dimitrijevic-Apis, in 1917, when Dimitrijevic-Apis was accused of having organized another such attempt on the Serbian regent Aleksandar. Dimitrijevic-Apis writes that he made the final decision to organize the murder of Archduke Franz Ferdinand only after he had been assured by the Russian military attaché in Belgrade, Colonel Viktor Artamanov, that Russia would not leave Serbia without military support in case of an Austrian attack.
Keywords
beginning of World War I, assassination of Archduke Franz Ferdinand in Sarajevo 1914, Dragutin Dimitrijevic-Apis as the main organizer of the assassination plot, possible Russian complicity in the plot
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Werner Lehfeldt
Seminar für Slavische Philologie Georg-August-Universität Göttingen Humboldtallee 19 37073 Göttingen Deutschland/Germany [email protected]
Received March 27, 2016