HORIZON 12 (2) 2023 : I. Research : J. M. Diaz Alvarez, J. G. Ferrer Ortega : 263-269
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ÉTUDES PHÉNOMÉNOLOGIQUES
I. ИССЛЕДОВАНИЯ
РЕЦЕПЦИЯ ФЕНОМЕНОЛОГИИ В ИСПАНИИ И ЛАТИНСКОЙ АМЕРИКЕ
THE RECEPTION OF PHENOMENOLOGY IN SPAIN UND LATIN AMERICA
https://doi.org/10.21638/2226-5260-2023-12-2-263-269
DIE REZEPTION DER PHÄNOMENOLOGIE IN SPANIEN UND LATEINAMERIKA. EIN ÜBERBLICK
JESÚS M. DÍAZ ÁLVAREZ
PhD, Professor of Ethics and Political Philosophy.
Faculty of Philosophy, National University of Distance Education (UNED-Madrid). 28040 Madrid, Spain. E-mail: jdiaz@fsof.uned.es
JESÚS GUILLERMO FERRER ORTEGA
PhD, Research Project Manager.
Philosophical Seminar/Cultural Philosophy, University of Wuppertal. 42119 Wuppertal, Germany. E-mail: ferrer@uni-wuppertal.de
THE RECEPTION OF PHENOMENOLOGY IN SPAIN AND LATIN AMERICA. OVERVIEW
© JESÚS M. DÍAZ ÁLVAREZ, JESÚS GUILLERMO FERRER ORTEGA, 2023
РЕЦЕПЦИЯ ФЕНОМЕНОЛОГИИ В ИСПАНИИ И ЛАТИНСКОЙ АМЕРИКЕ. ОБЗОР
ХЕСУС M. ДИАС АЛЬВАРЕС
PhD, профессор этики и политической философии.
Философский факультет, Национальный университет дистанционного образования, Мадрид. 28040 Мадрид, Испания. E-mail: jdiaz@fsof.uned.es
ХЕСУС ГИЛЬЕРМО ФЕРРЕР ОРТЕГА
PhD, научный сотрудник.
Философский семинар/Отделение философии культуры, Бергский университет Вупперталя. 42119 Вупперталь, Германия. E-mail: ferrer@uni-wuppertal.de
Die spanische und lateinamerikanische Kultur hatte das Glück, früh mit der Phänomenologie und der phänomenologischen Bewegung in Berührung zu kommen. Die Übersetzungen von Manuel García Morente, Xavier Zubiri, Juan David García Bacca und José Gaos, die von Ortega y Gasset angeregt wurden, gaben grundlegende Werke von Husserl, Scheler oder Heidegger in der spanischsprachigen Welt weithin bekannt. Sie waren dazu bestimmt, einen nachhaltigen Einfluss auf die besten Philosophen und Philosophinnen Spaniens und Lateinamerika auszuüben. In der Hinsicht ist es kein Zufall, dass Husserl in einem Brief an Roman Ingarden vom 26. November 1934 dem polnischen Philosophen gegenüber äußerte, Ortega sei „der Führer einer phänomenologischen Schule" — die später „Madrider Schule" genannt wurde, oder dass Manuel Granell und José Gaos in verschiedenen Schriften auf die besondere Bedeutung hinwiesen, die für ihre akademische Ausbildung und ihr Philosophieren hatte.
In Etiología y existencia schreibt Granell im Rückblick auf seine Studienjahre in Madrid:
Der Name des ersten Husserls fasste „die" Philosophie in Madrid zusammen. Man vermutete damals nicht einmal seine spätere Reue. Neben Husserl stand der erste Scheler, ein wenig der erste Heidegger, die so verschieden von dem zweiten Scheler und dem zweiten Heidegger waren -beide so gegensätzlich zueinander. Im Hintergrund, manchmal auf der Hauptbühne, tauchten zwei weitere Figuren auf: Brentano und Hartmann. Alles wurde in diesem Licht beleuchtet: die Phänomenologie. (Granell, 1977, 16)
Gaos seinerseits schilderte in seinen Confesiones profesionales (Bekenntnisse aus dem Berufsleben) die starke Präsenz der Phänomenologie in der Madrider Schule wie folgt — wobei er auf seine eigene Erfahrung während seines Studiums einging:
Zu Beginn der Kurse in Madrid merkte ich jedoch, dass Morente sich bereits daranmachte, einen Tag pro Woche der Erklärung der Husserl'schen Phänomenologie zu widmen. Alsbald wurde diese zum „letzten Schrei" in der Philosophie. Man sah sich dazu gezwungen, auf die Phänomenologie zu schwören. Aber kaum, dass ich anfing, mich wahrhaftig auf Husserl einzulassen, dessen Kritik des Psychologismus mir meine Lehrer [García] Morente und [Xavier] Zubiri, unter Genehmigung von Ortega, einvernehmlich als Dissertationsthema vorgeschlagen hatten, da behandelte man bereits die Phänomenologie in der realistischen Variante Schelers. Diese wurde durch die neukantianische Erkenntnistheorie Nicolai Hartmanns, jedoch in ihrer realistischen Wendung, untermauert, und schließlich durch die Wertephilosophie dieser beiden Philosophen, Scheler und Hartmann, vervollständigt. (Gaos, 1982, 59; Ferrer, Schmich & Pérez-Gatica, 2022, 389-390)
Dies war das philosophisch-phänomenologische Panorama der Mitglieder der später sogenannten „Schule von Madrid" zu Beginn der 1930er Jahre. Die Universidad Central von Madrid war jedoch nicht der einzige Ort einer originellen Rezeption der Phänomenologie vor dem Spanischen Bürgerkrieg. An der Universidad von Barcelona sammelte sich eine Gruppe junger Intellektueller um die katalanischen Philosophen Eugenio D'Ors und Jaume Serra Hunter. An erster Stelle ist die philosophiegeschichtliche Produktion von Juan David García Bacca (in Navarra geboren), Eduardo Nicol und vor allem Joaquín Xirau hervorzuheben, der vor dem Bürgerkrieg seine ersten Aufsätze zur Husserl'schen Phänomenologie schreibt. 1928 und 1938 verfasst er auf Katalanisch und Spanisch zudem eine Reihe von Artikeln und Essays, die den Einfluss von Max Schelers Werttheorie bezeugen.
Was danach kam, ist Teil der bekannten Geschichte. Der Spanische Bürgerkrieg unterbrach diese vielversprechende philosophische Entwicklung und zerstreute die Mitglieder der Schulen von Madrid und Barcelona (Díaz Álvarez & Expósito Ropero, 2023, 17-26; Ferrer, Schmich & Pérez-Gatica, 2022, 98-102). Die meisten von ihnen, José Gaos, María Zambrano, Manuel Granell, Joaquín Xirau, Juan David García u.a., gingen ins Exil in verschiedene lateinamerikanische Länder, überwiegend nach Argentinien, Mexiko und Venezuela.
Diejenigen, die in Spanien blieben — zum Beispiel Julián Marías oder Antonio Rodríguez Huéscar — gehörten zu dem, was man heute als „inneres Exil" bezeichnet. Es handelt sich dabei um ein umstrittenes Konzept, das sich jedoch auf eine wirkliche Tatsache bezieht. Ortegas Exil ist ein besonderer Fall und ist aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht worden. Als Befürworter des Triumphs der Militärrebellen
als „das kleinere Übel" wurde er nach dem Krieg ständig von den philosophisch-akademischen Autoritäten und vom national-katholischen diktatorischen Regime angegriffen. Sie sahen in ihm einen der Hauptverantwortlichen für die Entstehung der Republik, deren Überreste sie um jeden Preis zu beseitigen wünschten. Die tragische Situation, mit der er von seiner Rückkehr nach Spanien im Jahre 1945 bis zu seinem Tod im Jahre 1955 umging, ist von seinen Biographen ausführlich beschrieben worden (Gracia, 2014; Zamora, 2002; Villacanas, 2023).
Die Auflösung der vielversprechende Schulen von Madrid wegen des Krieges ging zugleich mit dem Bruch persönlicher Beziehungen zwischen verschiedenen Mitgliedern von ihr einher. Durch eine Laute des Schicksals verbreitete sich jedoch der „orteguianisch-phänomenologischen" Logos in Lateinamerika dank seiner kreativen Wiederaufnahme bei den Exilphilosophen und -philosophinnen. Dies war einer der Wege, auf denen die Phänomenologie in Lateinamerika ankam. Wie Danilo Cruz Velez hervorhebt:
Die Phänomenologie war die philosophische Strömung, die während Ortegas intellektueller Führung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Spanien und Lateinamerika vorherrschte und die bei uns die ersten Versuche eines rigorosen Philosophierens anregte. (Cruz, 2014, 73)
Doch das war nicht der einzige Weg. Die Reaktion gegen den Positivismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war in den lateinamerikanischen Ländern heftig. Der Positivismus von Auguste Comte war nicht nur eine mehr unter den aus Europa importierten Lehren. Er stellte die Grundlage eines Bildungs- und Kulturprogramms dar, das ungehindert umgesetzt wurde, bis die ersten Gegner auftauchten. Für Denker wie der argentinische Alejandro Korn und die mexikanischen Antonio Caso und Salvador Vasconcelos bildete die Philosophie Henri Bergsons einen ersten Ansatzpunkt für die ersehnte Befreiung von der positivistischen Weltanschauung dar. Husserls Phänomenologie wurde bald zu einem Wendepunkt im Kampf gegen den Positivismus. Dank der Herausgebertätigkeit von Ortega y Gasset bei der Revista de Occidente waren die ersten Übersetzungen phänomenologischer Werke in Lateinamerika bekannt. Die Namen Brentano, Husserl, Scheler und Pfänder tauchten oft in den Schriften argentinischer Philosophen wie Carlos Astrada, Francisco Romero, Risieri Frondizi und Eugenio Pucciarelli auf. In Mexiko wurde die deutsche Phänomenologie zunächst dank der Kurse und Werke von Adalberto Garcia de Mendoza und Antonio Caso bekannt (Bravo, 2023, 72-74; Ferrer, Schmich & Perez-Gatica, 2022, 117-127; Zirion, 2009, 30-50; 2023, 45). Allmählich verbreiteten sich phänomenologische Ideen in anderen lateinamerikanischen Ländern dank Denkern wie Alberto Wagner de
Reyna in Peru, Ernesto Mayz Vallenilla in Venezuela und Constantino Láscaris in Costa Rica, um manche namenhafte Autoren zu nennen. Mexikanische Schüler von José Gaos wie Luis Villoro, Ernesto Uranga und Fernando Salmerón interessierten sich früh für die Phänomenologie, bevor sie sich der analytischen Philosophie zuwandten (eine Wendung, die unabhängig von philosophischen Sachfragen, von einer weltweiten akademischen und institutionellen Situation zeugte).
Die Phänomenologie in Spanien und Lateinamerika bleibt noch heute lebendig und entfaltet sich als die einheitliche Bewegung einer sachgerechten Arbeitsphilosophie. Wenn man von außen her oder einem orthodoxen Standpunkt aus die zahlreichen Werke auf Spanisch (sowie auf andere Sprachen) betrachtet, die sich phänomenologisch nennen, ist man zunächst versucht, ihre philosophische und wissenschaftliche Einheit in Frage stellen. Aber abgesehen vom Missbrauch des Adjektiv, vermeidlichen oder unvermeidlichen Qualitätsunterschieden, zeugt die Vielfalt phänomenologischer Arbeiten von dem jeder Wissenschaft eigenen Bedarf der ständigen Präzisierung und Weiterentwicklung ihrer Methoden, Grundbegriffe und Problemkonstellationen.
Der vorliegende Sammelband bietet den Lesern eine Perspektive über wichtige Episoden der frühen Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Lateinamerika. In seinem Aufsatz "Ortega y Gasset and the Question of the Body" zeigt Agustín Serrano de Haro, dass der berühmte spanische Philosoph in Texten aus den 1920er Jahren das Thema des Körpers aus einer „proto-phänomenologischen" Perspektive betrachtet hatte. Sorgfältig beschreibt Serrano de Haro Ortegas Unterscheidung zwischen einer äußeren und einer inneren Wahrnehmung des eigenen Körpers. Zugleich setzt er kritisch mit einigen Aspekten der frühen Ortega'schen Phänomenologie des Leibes auseinander.
Der Aufsatz von Jesús Díaz und Jorge Brioso "The Philosopher and His Philosophies. Ortega, Husserlian Phenomenology and Beyond" stellt die Frage nach dem Einfluss der Husserl'schen Phänomenologie auf den frühen Philosophiebegriff Ortegas. In einer ersten Phase entfaltete Ortega y Gasset sein Konzept der Philosophie einem traditionellen, universalistischen und transzendentalen Rahmen. Der Einfluss der Phänomenologie auf diesen frühen Philosophiebegriff war entscheidend. In einer zweiten Phase bewegte sich Ortega y Gasset in Richtung einer eher hermeneutischen und historisierenden Auffassung von Philosophie. Díaz und Brioso legen die philosophischen Folgen dieser Wende Ortegas im Detail dar.
In dem Aufsatz "The Emergence of Reality: Zubiri Before Meeting Heidegger" stellt Antonio González einen philosophiegeschichtlichen Ansatz in Frage, der in Spanien und Lateinamerika weit verbreitet ist. Das Denken Xavier Zubiris vor seiner Be-
gegnung mit Heidegger in Freiburg wird oft als objektivistisch bezeichnet. González zeigt, dass die Lektüre von Heideggers Habilitationsschrift über Duns Scotus Zubiris Philosophie, schon vor seinem Aufenthalt in Freiburg, eine realistische Ausrichtung gab. Nach González bedeutet diese Wendung Zubiris einen Bruch mit der Phänomenologie, aber zugleich Treue zu ihrem Bestreben, zu den Sachen selbst zu gehen.
In „Gibt es Spuren von Phänomenologie in Zubiris Naturaleza, Historia, Dios?" nähert sich Miguel García-Baro der Rezeption der Phänomenologie bei Zubiri aus einer originellen Perspektive. Zubiri vertritt die Phänomenologie als eine Philosophie der Sachen. Ebendeshalb weicht er zugleich von ihr ab, denn sein Interesse gilt der realen Struktur der Sachen, nicht ihrer Gegebenheit im Bewusstsein. García-Baró zeigt aber dennoch, dass Zubiri traditionelle metaphysische Begriffe und menschliche Grunderfahrungen phänomenologisch neu zu bewerten vermag.
In ihrem Aufsatz "A Spanisch Conception of the Phenomenology of Existence" unternimmt Carmen López den Versuch, Husserls Konzept der „persönlichen Existenz" im Lichte des Denkens von Maurice Merleau-Ponty und der spanischen Philosophin María Zambrano neu zu betrachten. López zeigt nicht nur, dass Zambrano mit der phänomenologischen Philosophie ihrer Zeit vertraut war, sondern auch, inwiefern sie phänomenologische Grundbegriffe wie Leiblichkeit, Empfinden und Leben aus einer originellen Perspektive revidierte. Zambrano steuert damit ein nicht-dualistisches Verständnis von Existenz bei, das für die zeitgenössische Phänomenologie von Interesse ist.
Der Aufsatz von César Gómez « Phénoménologie et anthropologie. À partir des contributions d'Eduardo Nicol » erforscht den Beitrag des katalanisch-mexikanischen Exilphilosophen Eduardo Nicol zur Stiftung einer phänomenologischen Anthropologie. Hierzu analysiert Gómez Nicols Interpretation der Phänomenologie von Husserl und Heidegger, die Wiederaneignung ihrer Methoden unter dem Begriff einer dialektischen Phänomenologie sowie die zentrale Rolle, die Nicols Konzept des Ausdrucks darin spielt.
Der Artikel von Guillermo Ferrer „Juan David García Baccas Lektüre der transzendentalen Phänomenologie. Vom intentionalen Bewusstsein zum todeskämpfenden Bewusstsein", befasst sich mit einer anderen Figur des spanischen Exils. Er setzt sich mit einem philosophischen Problem auseinander, das García Bacca in einem seiner wichtigsten philosophiegeschichtlichen Werke aufwirft. García Baccas Überlegungen über das Wesen des intentionalen Bewusstseins und das „todeskämpfende Bewusstsein" sind für eine von Husserl inspirierte Phänomenologie relevant, die neben der Selbstreflexion des transzendentalen Subjekts die sich in seiner paradoxen Sterblichkeits -und Unsterblichkeitserfahrung aufzeigende Faktizität berücksichtigt.
Schließlich bewahrt Irene Breuer in "The Reception of Phenomenology in Argentina by Eugenio Pucciarelli: His Ideal of a Militant and Humanist Philosophy Underpinned by a Pluralistic Conception of Reason and Time" eine Figur der frühen Rezeption der Phänomenologie in Argentinien vor dem Vergessen. Breuer zeigt, dass Pucciarelli die Mission der phänomenologischen Philosophie und Begriffe von Wissenschaft und Vernunft bei Husserl mit bemerkenswerter Klarheit darstellte. Gegenüber der Krise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bietet Pucciarelli seinerseits eine pluralistische Sicht von Vernunft und Zeit sowie einen humanistischen Ansatz, die für die Phänomenologie heute relevant ist.
REFERENCES
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