HORIZON 10 (2) 2021 : I. Research : A. Jani : 425-440
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ÉTUDES PHÉNOMÉNOLOGIQUES
https://doi.org/10.21638/2226-5260-2021-10-2-425-440
DIE SEELISCHEN AKTE IN DER ANTHROPOLOGIE. EDITH STEINS PHÄNOMENOLOGISCHE EINSICHT
ANNA JANI
Research Assistant.
Pazmany Péter Catholic University, Faculty of Humanities.
1088 Budapest, Hungary.
E-mail: varga-j ani.anna@btk.ppke.hu
SPIRITUAL ACTS IN ANTHROPOLOGY.
EDITH STEIN'S PHENOMENOLOGICAL PERSPECTIVE
The aim of the present contribution is to prove that spiritual acts not only play a significant role in the phenomenological description of the person and in individual and social experiences, but likewise they play a decisive role in the methodological constitution of phenomenology and have a core function in the theoretical structuring of the phenomenological description of the person, regarding, for example, metaphysical and anthropological characteristics. Firstly, in the paper, the implications for anthropology that arise from Edith Stein's phenomenology are examined. In the second part—from the insight that Stein does not structure anthropology without its metaphysical background—the paper underlines the metaphysical presuppositions of anthropology in Stein's thinking. In both stages, the investigation engages with Husserlian insights that Stein took on board and creatively introduced from Husserl's thought into her own work. The inference from this engagement of Stein with Husserl emerges in the way Stein structures anthropology in general, and the origin of this can be seen in the description of the person as a psychophysical individual. At this point, the question arises regarding how the description of the spiritual acts can contribute to the structure of the person and, in this sense, to the foundation of anthropology as a philosophical-theological science.
Keywords: anthropology, metaphysics, theology, person, Leib-Körper, soul, core of personality.
© ANNA JANI, 2021 HORIZON 10 (2) 2021
АКТЫ ДУШИ В АНТРОПОЛОГИИ.
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКАЯ ПЕРСПЕКТИВА ЭДИТ ШТАЙН
АННАЯНИ
Научный сотрудник.
Католический университет Петера Пазманя, факультет гуманитарных наук.
1088 Будапешт, Венгрия.
E-mail: varga-jani.anna@btk.ppke.hu
Цель этой работы — обосновать, что акты души не только играют существенную роль в феноменологическом описании личности, индивидуального и социального опыта, но также играют решающую роль в методологическом устройстве феноменологии и несут ключевую функцию в теоретическом структурировании феноменологического описания личности, в том, что касается, например, метафизических и антропологических характеристик. В первой части статьи исследуются перспективы антропологии, которая может быть построена на основании феноменологии Эдит Штайн. Во второй части статьи — с учётом того, что Штайн структурирует антропологию исключительно на фоне метафизики — подчёркиваются метафизические предпосылки антропологии в философии Штайн. Оба этапа требуют раскрыть гуссерлианские интуиции, которые Штайн перенимает и подключает к своей работе. Период сотрудничества Штайн и Гуссерля влияет на то, как Штайн в целом структурирует антропологию, а истоки этого можно увидеть в описании личности как психофизического индивидуума. На этом этапе встаёт вопрос, касающийся того, какой вклад описание актов души может внести в исследование структуры души и, в этом смысле, помочь обоснованию антропологии как философско-те-ологической науки.
Ключевые слова: антропология, метафизика, теология, личность, Leib-Körper, душа, ядро личности.
1. EINLEITUNG
Gewöhnlicherweise leitet man Edith Steins religiöse Einsichten und ihre späteren Argumentationen in Bezug auf eine „christliche Philosophie", und deren untrennbaren Zusammenhang mit der Theologie, von ihren Untersuchungen hinsichtlich der seelischen Akte in der Realitätserfahrung her1. Dieser Zusammenhang zwischen den seelischen Akten und der Realitätserfahrung als religiöser Erfahrung ist mehrfach begründet, ausgehend von der Dissertation Edith Steins, die in den Abschlussbemerkungen auf eine eventuell dazu anzustellende religiöse Studie hinweist. Im Problem der Einfühlung untersucht sie den Erfahrungscharakter der geistigen Person und betont, dass die religiösen Erlebnisse als echte Erfahrungen in der Erfahrung der göttlichen Gnade vorliegen (vgl. Stein, 2005a, 136). Jedoch spielen die seelischen Akte nicht
1 Vgl. eine Auswahl im Thema (Beckmann, 2003; Betschart, 2013; Lembeck, 1990; Müller, 1993).
nur in den religiösen Erfahrungen eine bedeutende Rolle. Vielmehr zeigen die Vorlesungen zur Anthropologie von 1932/33, dass die seelischen Akte über ihre Beiträge zur Erlebniskonstitution und zu den von diesen ableitbaren religiösen Erfahrungen in der Beschreibung der Person eine noch strengere methodologische Voraussetzung bieten. Das heißt, um es noch präziser zu sagen, dass Edith Steins Untersuchungen im Allgemeinen in zwei Richtungen verlaufen. Einerseits stellt der seelische Bereich den Ort für die religiösen Erlebnisse dar, andererseits ist dieser seelische Bereich die Fundierungsbasis der inneren Erlebnisse und, in diesem Sinn, ist er der Konstitutionskern der individuellen Zeitlichkeit (vgl. auch Jani, 2021, 185-195).
In der Doktorarbeit Zum Problem der Einfühlung beschreibt Stein auf deutliche Weise die geistig-körperliche Bestimmtheit des psychophysischen Individuums: Die originären Erlebnisse konstituieren sich gerade in diesem Sinn an der seelischen Einheit, denn „in unseren Erlebnissen — so fanden wir schon bei der Betrachtung der inneren Wahrnehmung — gibt sich uns ein ihnen zugrunde Liegendes, das sich und seine beharrlichen Eigenschaften in ihnen bekundet, als ihr identischer Träger': das ist die substanzielle Seele" (Stein, 2005a, 55-56). Bezüglich der originären Erfahrung unterscheidet Stein Erinnerung, Erwartung, Phantasie und die Einfühlung, die sie als den bedeutendsten interpersonalen Akt betrachtet. In der Auseinandersetzung der originären und nicht-originären Erfahrungen in der Erinnerung, Erwartung und den Phantasie-Erlebnissen, wo das im Präsens gegebene Erlebnis sich mit einer ehemaligen Erfahrung auseinandersetzt, verwirklicht sich die Zeitdimension der Selbsterfahrung. In dieser ersten Hinsicht spielen die seelischen Akte in der Selbstkonstitution des eigenen Bewusstseins mit, die sich grundsätzlich in den Einfühlungsakten realisieren2.
Die zweite Richtung von Edith Steins Untersuchung bezüglich der seelischen Akte verwirklicht sich durch ihre religionsphänomenologischen Einsichten, die letzten Endes in die Konzeption einer christlichen Philosophie einmünden. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es nicht, den Ursprung der christlichen Philosophie in den seelischen Akten zu enthüllen, die es ermöglichen, die historisch-theologischen Fakten persönlich zu erleben und durch die Seinserfahrung des christlichen Lebens die Kluft zwischen Phänomenologie und Theologie zu überbrücken, was sich Edith Stein in Endliches und ewiges Sein zum Ziel gesetzt hat. Hier geht es vielmehr darum, zu erweisen, dass über die Unterscheidung zwischen den inneren und äußeren
„[...] die Einfühlung, die wir betrachteten und zu beschreiben suchten, ist Erfahrung von fremdem Bewusstsein überhaupt, ganz gleich, welcher Art das erfahrende Subjekt ist, welcher Art das Subjekt dessen Bewusstsein erfahren wird. [...] So erfasst der Mensch das Seelenleben seines Mitmenschen, so erfasst er aber auch als Gläubiger die Liebe, den Zorn, das Gebot seines Gottes, und nicht anders vermag Gott sein Leben zu erfassen" (Stein, 2005a, 20).
2
Erfahrungen den seelischen Akten eine grundsätzliche Rolle in der intersubjektiven Weltkonstitution zukommt. Obwohl Edith Stein über den seelischen Akt als Verbindungsakt zwischen den religiösen Erlebnissen und den selbstpersonalen Erfahrungen nie reflektiert hat, liegt jedoch der genannte Zusammenhang in ihren Betrachtungen der ontischen und ontologischen Struktur der Person vor (vgl. auch Jani, 2018, 45-60). Diese Betrachtungen gipfeln in der letzten philosophischen Arbeit (Endliches und ewiges Sein) in der theologisch-phänomenologischen Betrachtung der drei göttlichen Personen. Das phänomenologisch-theologische Ergebnis des Werkes als einer christlichen Philosophie, die auf interpersonalen Beziehungen gründet, ist durch eine Anthropologie, in deren Zentrum Christus, der Erlöser, steht, fundiert (vgl. auch Jani, 2014, 15-45; Jani, 2015). Der Grundzug dieser Anthropologie ist die ontisch-ontolo-gische Bestimmtheit der Person.
2. ANTHROPOLOGIE UND PHÄNOMENOLOGISCHE GRUNDLAGEN IN EDITH STEINS DENKEN
Schon in ihrer Dissertation unterscheidet Edith Stein, sich der Husserlschen phänomenologischen Erkenntnisse anschließend, die innere und die äußere Erfahrung bezüglich der Lokalisierung des Erfahrungsortes. Die innere, das Individuum konstituierende Wahrnehmung ermöglicht, laut Steins früher religionsphilosophischer Untersuchung Freiheit und Gnade, die ontologische Beschreibung der menschlichen Person. Hier zeigt sich insbesondere Edith Steins phänomenologische Einstellung in ihrer Beschreibung des Seelenlebens. In dieser frühen religionsphänomeno-logischen Schrift (1921) beschreibt Stein das natürlich-naive seelische Leben als ein ständiges Wechselspiel von Impressionen und Reaktionen.
Die Seele empfängt Eindrücke von außen, von der Welt, in der das Subjekt dieses Lebens steht und die es als Objekt mit dem Geist entgegennimmt. Sie wird durch diese Eindrücke in Bewegung gesetzt, und es werden dadurch Stellungnahmen zur Welt in ihr ausgelöst: Schreck oder Staunen, Bewunderung oder Verachtung, Liebe oder Hass, Furcht oder Hoffnung, Freude oder Trauer usf. (Stein, 2014, 10)
Die Untersuchung Freiheit und Gnade wurde zunächst auf die 1930er Jahre datiert, stammt jedoch von 1921 und wurde mit einem anderen Text verwechselt3. Der
Der Aufsatz Freiheit und Gnade (1921) wurde im Archiv fälschlicherweise in einen Umschlag mit
dem Titel Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik gelegt und so im Band VI der ersten Ausgabe der Werke Edith Steins (ESW) abgedruckt. Der Aufsatz Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik (1917) wurde in Psychische
3
andere Text Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik wurde von Stein selbst in Psychische Kausalität und Einführung in die Philosophie eingearbeitet. Hierin geht es um die Rolle des Seelenlebens in den äußeren Erfahrungen und um die Bedeutung der Seele in den werdenden personalen Schichten. Da Edith Stein als Assistentin von Edmund Husserl tätig war, ist der Zusammenhang zwischen Steins und Husserls Einsichten über das Seelenleben nicht zufällig. Unter „Die Konstitution der seelischen Realität durch den Leib" behandelt Husserl in Ideen II die fremdpersonalen Erfahrungen, wo das erfahrende Subjekt durch die leiblichen Ausdrücke auf die Abhängigkeit des sichtbaren Leibes vom zugehörigen unsichtbaren Seelenleben reflektiert4. Husserl setzt den persönlichen Charakter des menschlichen Subjekts wegen der konkreten Einheit von Leib und Seele voraus, die Auffassung vom Menschen als realer Persönlichkeit hänge von äußeren Abhängigkeiten sowie von sozialen Institutionen wie Staat, Sitte, Kirche ab, und der Persönlichkeitscharakter erweise sich durch die lebensweltlichen Beziehungen (vgl. Husserl, 1952, 140-142). Stein dagegen bindet die personalen Schichten an die Reflexionen über die Seele (vgl. Alles Bello, 2016, 11-25). Im zweiten Kapitel von Einführung in die Philosophie, „Die Probleme der Subjektivität", beschäftigt sich Edith Stein unter Punkt b) mit der on-tischen Struktur der psychophysischen Subjekte. Das ganze Kapitel führt Stein mit der Husserlschen Einsicht ein: „Wenn wir in der gewöhnlichen Rede von Subjekten oder besser von Personen sprechen, so meinen wir damit in der Regel Menschen in der Welt (uns selbst oder andere, die ,unseresgleichen sind)" (Stein, 2004a, 101). So weit ist Stein mit Husserls Erkenntnis einig, dass der Leib als Träger des Ausdrucks des Seelenlebens in der räumlichen Welt erscheint. Gemäß der leib-seelischen Bestimmtheit der Person entsteht eine Transfusion zwischen den leiblichen und den seelischen Erfahrungen. Dabei wird die innere Erfahrung durch den Leib in eine äußere fremdpersonale Erfahrung übersetzt, während die äußere fremdpersonale Erfahrung die innere individuell-persönliche Einstellung bildet. In all dem erschöpft sich jedoch nicht die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs der Person, denn sie ist „ausgestattet mit dauernden Eigenschaften: Beschaffenheiten des Leibes und der Seele" (Stein, 2004a, 102). Diese Eigenschaften oder Charakter-Ausprägungen des Menschen un-
Kausalität und Einführung in die Philosophie eingearbeitet. Vgl. Claudia Mariele Wulf, Hinführung der Herausgeberin (Stein, 2014, XXI).
„Ist aber ein Anfang des Verständnisses fremden Seelenlebens gegeben, so wirken verschiedene an sich unbestimmte appräsentierte Eindeutungen zusammen; es wird seelisches Sein verstanden, das für den Zuschauer leibliche Bewegungen in Kompräsenz mitgegeben hat, und zwar regelmäßig, die nun ihrerseits häufig neue Anzeichen werden, nämlich für die früher angezeigten oder erratenen seelischen Erlebnisse, und zwar in Fällen, wo diese nicht anderweitig angezeigt sind" (vgl. Husserl, 1952, 166).
4
terliegen einer stetigen Entwicklung und bilden sich unter der Einwirkung der äußeren Umstände um. Dadurch verwirklicht sich das Verständnis der Person durch eine ständige innere und äußere Bewegung (vgl. Sepp, 2017, 49-65). Diese Bewegung beschreibt Stein in Freiheit und Gnade als eine entweder von Einflüssen der Natur oder von Einflüssen der göttlichen Sphäre gelenkte Aktivität der Seele. Durch göttlichen Einfluss gerät die Seele, von den äußeren weltlichen Eindrücken befreit, aus der passiven Aktivität an den „Ort der Freiheit", „die Ursprungsstelle der Aktivität", der „aktiven Aktivität" (Stein, 2014, 12). In der Einführung in die Philosophie schreibt Stein vom Kern der Person an der Stelle, wo sie einen Textteil der „ontische Struktur der Person" übernimmt. Der Kern der Person entfaltet sich in ihrem Charakter und „prägt sich zugleich in der äußeren Erscheinung der Person aus, und zeigt sich rein und unvermischt in der Seele. [...] Die Seele ist das Zentrum der Person, der ,Ort', wo sie bei sich selbst ist" (Stein, 2004a, 136-137). In diesem Sinn unterscheidet Stein das Ichleben als Persönlichkeitskern vom Seelenleben als Zentrum der Person und erklärt diese Unterscheidung mit ihrem eigenen Verständnis der Seelenstruktur. In diesem Sinn schließt sie sich an das religiös-theologische Verständnis an, wonach die Seele in Verbindung mit dem Leib die ungewordene und unvergängliche Realität sei (vgl. Sepp, 2017, 52), „die also keine Entwicklung durchmacht, in der sie ihre Eigenschaften erwirbt" (Stein, 2004a, 145). Die Seele ist in diesem Sinn ein in sich selbst Gegründetes und auf sich selbst Gestelltes, zugleich ein Urquell seelischen Lebens (Stein, 2004a, 146).
Obwohl die Kontribution der Seele zur Bearbeitung der äußeren Erfahrungen von Husserl nie bezweifelt wurde, traf er eine strengere Unterscheidung zwischen dem religiös-theologischen und dem phänomenologischen Verständnis der Seele.
Dabei ist das Merkwürdige, dass wir sagen, das seelische Ich und das persönliche sei in seinem Untergrund dasselbe; das ganze Bewusstsein des persönlichen Ich mit allen seinen Akten und seinem übrigen seelischen Untergrund sei eben kein anderes als das des seelischen Ich: wir sind sogar geneigt zu sagen, es sei dasselbe Ich. Und doch: derselbe Bewusstseinszustand steht unter einer total verschiedenen Apperzeption. Einmal bietet die „Umwelt" das System der realen Umstände, das andere Mal der bloße Leib und der abgelaufene Bewusstseinszusammenhang. (Husserl, 1952, 142)
Es scheint so, als wäre es nur eine Standpunktfrage, ob das seelische Ich eine exakte Funktion in der Erlebniskonstitution hat, oder ob es eine Rolle in der Aufarbeitung der seelischen Erlebnisse spielt. In phänomenologischer Hinsicht, wie Stein in Einführung in die Philosophie betont, erhalten innere und äußere Erfahrungen ihre Einheit durch „ein Mitauffassen von Seelischem mit einer sinnlich wahrgenommenen Beschaffenheit des Leibkörpers, aber das Seelische ist nicht bloß mit, sondern ,in der äußeren
Erscheinung gesehen oder durch sie hindurch" (vgl. Stein, 2004a, 159). Diese Stellungnahme Edith Steins findet sich auch in der religionsphänomenologischen Beschreibung der Seele in Freiheit und Gnade, wo Stein über die Passivität der Seele in der Beeinflussung durch Gottes Gnade und von der sich daraus ergebenden Freiheit schreibt. Und auch wenn Stein ihre parallele Beschreibung über die ontische Struktur der Person mit der phänomenologischen Erklärung abschließt, dass in der Selbstwahrnehmung immer Wahrnehmung der ganzen Person, d.h. ihres Leibes wie ihrer Seele gemeint ist, kann man trotzdem jeweils auch allein auf das Psychische oder allein auf das Leibliche speziell ausgerichtet sein (vgl. Stein, 2004a, 187). Sie bezeichnet das Zentrum der Seele in Freiheit und Gnade als den „Ort der Freiheit", wo die Seele mit eben diesem Zentrum nach oben horcht und „von oben" her Weisungen empfängt und sich von hier aus „gehorsam" durch sie bewegen lässt (Stein, 2014, 12). Stein schreibt hier über den allmählichen Übergang vom Reich der Natur zum Reich der Gnade, der sich durch die Freiheit verwirklicht, die an sich und als solche außerhalb beider Reiche steht. Deswegen ist das freie Subjekt — die Person — ins Leere ausgesetzt.
Und ist doch mit eben dieser absoluten Freiheit absolut in sich selbst fixiert und zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Denn das Selbst, das es hat, ist ein völlig leeres und gewinnt alle Fülle von dem Reich, dem es sich — kraft seiner Freiheit — hingibt. Von einem „Reich" der Freiheit zu sprechen, ist darum eigentlich nicht möglich, denn dieses Reich hat keine Dimensionen, es ist auf einen Punkt zusammengezogen. (Stein, 2014, 13)
Damit die Person wirklich Person sein kann, muss sie sich — nach der Argumentation Edith Steins — für eine der zwei Richtungen entscheiden und ihre Freiheit an ein Reich binden, auch wenn sie leiblich mit dem Reich der Natur verbunden bleibt. Stein schreibt hier eindeutig über die seelisch-innere Freiheit, die entweder an die körperlichen und sensuellen Fähigkeiten angebunden bleibt oder sich durch ihre Freiheit in die Richtung der Ursprungsstelle ihrer Aktivität hinbewegt. Der Durchbruch zur personalen Struktur kennzeichnet sich durch die Gewinnung des Zentralpunktes, des Standortes, an dem sich das seelische Subjekt als Person frei aufrichten kann. Die Persönlichkeit zeichnet sich durch ihre freien Entscheidungen aus, und eben diese unterscheiden die seelisch-persönliche Freiheit von dem „tierischen Stadium, dass die Person die seelischen Eindrücke von jener Zentralstelle her entgegennehmen kann — kann, nicht muss — und die Reaktionen auf die empfangenen Eindrücke von daher vollziehen kann" (Stein, 2014, 14), d. h. die personale Entscheidung ist in jeder Hinsicht eine vernünftige Entscheidung.
[Die menschliche Person] kann gewisse seelische Regungen unterdrücken, gelegentlich oder „systematisch", und andere unterstreichen und „pflegen" und auf diesem Wege an
der Bildung ihres Charakters arbeiten. Das ist die Selbstbeherrschung und Selbsterziehung, deren sie fähig ist. Selbstüberwindung, d.i. radikale Umgestaltung des natürlichen Selbst und Erfüllung mit einem neuen seelischen Gehalt, ist für die selbstherrliche Person prinzipiell unmöglich. (Stein, 2014, 15)
Wir haben es mit zwei radikal unterschiedlichen Annäherungen an die Struktur der Person zu tun, von denen die eine die Probleme der Subjektivität in der ontisch-leiblichen Bestimmtheit der Person radikalisiert, die andere jedoch die Person als Person durch die seelische Entscheidung für die Freiheit charakterisiert, eine Entscheidung, die sich in dem freien geistigen Akt der Vernunft vollzieht. Von diesen Annäherungen aus geht Stein von der auf den leiblichen Erfahrungen basierenden Freiheit weiter hinaus zur seelischen Freiheit. Dieser Vollzug verwirklicht sich nach Stein in Freiheit und Gnade in der von Heidegger übernommenen ekstatischen Existenz des Daseins im Phänomen der Sorge (vgl. Jani, 2012, 81-109). Die „Sorge um" ist die Beschäftigung mit den Gegenständen, die die Seele bei sich festhält und die Seele auf die Angst vorbereitet. Diese treibt die Seele von sich selbst weg, denn sie heftet sich bald an dieses, bald an jenes, aber das, woran sie sich heftet, ist nicht das, was sie eigentlich meint (vgl. Stein, 2014, 29). Dieses ständige „Entfliehen" der Seele aus Angst kann nur aufhören durch die Entschlossenheit der Seele zur Abkehr von sich selbst und wenn sie sich und ihre Freiheit der Gnade, d. h. Gott, hingibt: „Die Angst kann den Sünder in die Arme der Gnade treiben. Die Angst, die von hinten treibt" (vgl. Stein, 2014, 30).
Heideggers „Existentialphilosophie" scheint im Hintergrund der Beschreibung des Wissenschaftsbereichs der Anthropologie und dessen phänomenologischer Begründung zu stehen, wenn Edith Stein mehr als ein Jahrzehnt später in ihren Vorlesungen über den Aufbau der menschlichen Person und in der nachfolgenden Vorlesungs-Konzeption Was ist der Mensch? von der phänomenologischen Bestimmung des Menschen als ekstatisch-existierendem Dasein ausging. Dieses Vorgehen Edith Steins beweist nicht nur ihre Verpflichtung gegenüber der phänomenologischen Einsicht der leib-seelischen Bestimmtheit des psychophysischen Individuums, sondern auch gegenüber dem methodologischen Aufbau der Anthropologie. Obwohl der Leib den äußeren Erfahrungen ausgesetzt ist und diese als Möglichkeiten sich dem Leben des Daseins aufdrängen, aus denen die äußerste Möglichkeit der eigene Tod sei, ist ihm „kein anderes Ziel gesteckt, als er selbst zu sein und in der Nichtigkeit seines Seins auszuharren" (vgl. Stein, 2004b, 8). Zu Recht stellt Stein die Frage, „wer wird sich zu diesem traurigen Geschäft entschließen, und wer könnte es verantworten? Denn wer wäre gewiss, dass ein anderer diesem Dasein Auge in Auge mit dem Nichts gewachsen wäre, dass er es nicht vorziehen würde, in die Welt zurück oder gar statt dessen lieber aus dem Dasein ins Nichts zu flüchten?" (Stein, 2004b, 8).
Nach Stein steckt hinter der anthropologischen Bestimmtheit des Menschen jeweils eine weltanschauliche oder metaphysische Einsicht, die bei Heidegger auf der „Geworfenheit" des Daseins in seinem eigenen Sein basiert, das es ertragen muss, „dem Nichts ins Auge zu sehen, ohne sich davor in Selbstvergessenheit und trügerische Formen der Sicherung zu flüchten" (Stein, 2004b, 8). Demgegenüber besteht das Menschenbild der christlichen Metaphysik darin, dass der Mensch eine kritische Haltung gegenüber der Welt hat, „in der er sich als geistig erwachender Mensch vorfindet" (Stein, 2004b, 12). Stein bezieht sich auf die Bekenntnisse von Augustin, um zu zeigen, dass die „Wahrheit" nicht die von außen erfahrene, leiblich vorausgesetzte Tatsache sei; sondern: „im Innern des Menschen wohnt die Wahrheit".
Diese Wahrheit ist nicht die nackte Tatsache des eigenen Daseins in seiner Endlichkeit. So unumstößlich gewiss für Augustin die Tatsache des eigenen Seins ist: Noch gewisser ist die Tatsache des ewigen Seins, das hinter diesem gebrechlichen eigenen Sein steht. Das ist die Wahrheit, auf die man stößt, wenn man im eigenen Innern bis auf den Grund geht. Erkennt die Seele sich selbst, so erkennt sie Gott in sich. [...] Da aber nach Augustin die Selbsterkenntnis die ursprünglichste ist und gewisser als alle Erkenntnis äußerer Dinge, so muss es von hier aus als ein ganz vermessenes Unterfangen erscheinen, mit bloß natürlichen Mitteln die verborgenen Tiefen fremder Seelen aufdecken zu wollen. (Stein, 2004b, 12)
In den 1920er Jahren vollzieht sich eine perspektivische Wende im Denken Edith Steins, die ihr Denken von äußeren, das phänomenologische Denken begründenden Erfahrungen zu den inneren, seelischen Erfahrungen lenkt und diese mit den Selbst-Erfahrungen verbindet. Soweit bleibt sie noch auf der phänomenologischen Ebene. Auch Husserl weist in den Ideen II bezüglich der seelischen Erfahrungen und deren Rolle in der Selbsterfahrung darauf hin, dass sich der Einfühlungsakt als der Akt der fremdpersonalen Erfahrungen sowohl auf die äußerliche Erfahrung bezieht als auch auf die Identifikation mit dem gegebenen Erlebnisstrom der Person. Dadurch führt die Einfühlung „zur Konstitution der intersubjektiven Objektivität des Dinges und damit auch des Menschen, indem nun der physische Leib naturwissenschaftliches Objekt ist" (vgl. Husserl, 1952, 169). Edith Stein geht aber noch einen Schritt weiter, wenn sie in ihrer Dissertation die Einfühlung als „fremdpersonalen selbstverlautenden Akt" beschreibt5, der neben der Erfahrung der fremden Person zur eigenen
„Aus dem Gesagten geht auch hervor, welche Bedeutung die Erkenntnis der fremden Persönlichkeit für unsre Selbsterkenntnis' hat. Sie lehrt uns nicht nur, wie wir früher sahen, uns selbst zum Objekt zu machen, sondern bringt als Einfühlung in ,verwandte Naturen', d. h. Personen unsres Typs, zur Entfaltung, was in uns ,schlummert', und klärt uns als Einfühlung in anders geartete Personalstrukturen über das auf, was wir nicht, was wir mehr oder weniger sind als andre" (vgl. Stein, 2005a, 134).
5
Selbsterkenntnis und Wertkonstitution beiträgt. Dadurch konstituiert sich eine Brük-ke zwischen der fremdpersonalen Beschreibung des Anderen und der Beschreibung der individuellen Erlebnisse dieser Fremderfahrung, und darüber hinaus die Selbsterkenntnis in der Erfahrung, die in den seelischen Akten fundiert. Diese frühe Bestimmung der seelischen Akte, die einerseits wertkonstituierende Akte sind und dadurch die Weltanschauung der Person begründen, und die andererseits die Selbsterkenntnis und Selbstheit der Person konstituieren, führt zur fundamentalen Verortung der Seele als Zentralposition der Persönlichkeit (vgl. auch Betschart, 2013, 206-220). Eben die ursprünglichste Selbsterfahrung führt Stein zur Augustinischen Lokalisation der „Wahrheit" in den inneren Erfahrungen, die sich zugleich durch äußere, fremdpersonale Erfahrungen bildet. Wenn Stein es auch in Der Aufbau der menschlichen Person noch nicht ausdrücklich erklärt, sieht sie die Priorität der Seele doch darin, dass sie durch die Wertkonstitution den Wesenscharakter der Person vorzeichnet. Die „Wahrheit", die im Inneren der Person „wohnt", bestimmt die Weltanschauung, und dadurch auch die phänomenologische Einstellung der Person. Obwohl Husserl in der Philosophie als strenge Wissenschaft die weltanschauliche Einstellung von der phäno-menologischen Erfahrung deutlich abgrenzt und die Phänomenologie letzten Endes als eine Metaphysik beschreibt, bezieht sich Stein ab den 1930er Jahren auf beide als Synonymformen der Welterfahrung. Deswegen beginnt sie ihre Vorlesungen mit der Erläuterung, dass die Anthropologie auf einer bestimmten weltanschaulichen Einstellung basiert, so dass eine Anthropologie unvollständig wäre, die das Verhältnis des Menschen zu Gott nicht in Betracht zöge, sei es zustimmend, ablehnend oder in agnostischer Haltung verbleibend (Stein, 2004b, 26). Diese Einsicht belegt Stein am Anfang der Vorlesung mit der Erkenntnis, dass der seelischen Erfahrung in der Konstitution der Wahrheit eine eindeutige Priorität zukommt.
Dadurch ist es nicht erstaunlich, dass Edith Stein diese Konzeption auch in der im nächsten Semester folgenden Vorlesung Was ist der Mensch? weiterführt und die Einsicht der leib-seelischen Einheit mit der Priorität der Seele in der leiblichen Gestaltung ergänzt und den seelischen Ausdruck als substantielle Ausdruckform betrachtet.
Dass die vernünftige Seele die eine substanzielle Form des Körpers ist, ihm wesenhaft und nicht akzidentell verbunden ist, das bedeutet einerseits, dass der Menschenleib das, was er als lebendiger Organismus und als Menschenleib ist, dieser ihm innewohnenden Seele verdankt; dass sie für den Menschen nicht nur Prinzip seines Denkens und seines geistigen Tuns überhaupt, sondern seines gesamten Seins und Lebens ist; es bedeutet andererseits, dass es für die Seele nichts Äußeres und Zufälliges ist, mit dem Leib verbunden zu sein, sondern dass es zu ihrem eigenen Wesen gehört, dass sie nicht mehr Seele wäre, wenn ihr nicht diese Einheit mit dem Leibe zukäme. (Stein, 2005b, 11)
Es besteht eine gegenseitige Abhängigkeit in der Bestimmung der Person, die Edith Stein in ihren anthropologischen Texten nicht einfach auf die psychophysische Einheit des Individuums zurückführt, wie sie es in ihrer Habilitationsschrift Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften getan hat, wo sie die drei menschlichen Aspekte — Leib-Seele-Geist — streng differenziert und zwischen den inneren, individuellen und den äußeren, gemeinsamen Erfahrungen unterschieden hat und insofern die individuellen Erfahrungen von den gemeinschaftlichen Erfahrungen abgrenzt. Trotz der anschaulich unterschiedlichen Verfahrensmethode, wonach es in den Beiträgen um den Übergang von der individuellen Einfühlung zu den sozialen Erfahrungen, und in den Anthropologie-Texten um die Begründung der Anthropologie als Wissenschaft geht: der gemeinsame Punkt der zwei Untersuchungsmethoden besteht in der Hervorhebung der Rolle der Seele in der Fremderfahrung. Dieser Zusammenhang ist im vorliegenden Beitrag wichtig für die Erkenntnis, dass Stein die seelische Priorität in der Fremderfahrung als „Wahrheit" begründende Priorität betrachtet, worauf sie das Menschenbild der christlichen Metaphysik baut. Obwohl Stein zwischen der Methode der Theologie und Philosophie unterscheidet, die ihre Gegenstände auf unterschiedlichen Wegen untersuchen, d. h. die Theologie handelt nur von der Welt, sofern Gottes Eigenschaft als Schöpfer und Erlöser es notwendig macht, und die Philosophie handelt nur von Gott, sofern sie in den Geschöpfen Hinweise auf Gott vorfindet (vgl. Stein, 2004b, 27), erhebt sich doch in beiden wissenschaftlichen Richtungen die metaphysische Frage nach dem Sein, die sich zum Einen auf das eigene, und zum Anderen auf das göttliche Sein bezieht. Aber trotz der empirischen Bestimmtheit der Anthropologie, in der das menschliche Sein als Gottsuchender charakterisiert wird, sei es die Aufgabe der Philosophie „zu erforschen, wie weit er mit seinen natürlichen Mitteln in diesem Suchen gelangen kann" (Stein, 2004b, 30).
3. DIE GRUNDBESTIMMTHEIT DER METAPHYSIK IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN ANTHROPOLOGIE
Aus den Vorlesungstexten zur Anthropologie kristallisiert sich eindeutig heraus, was Edith Stein über eine christliche Anthropologie denkt, die ihre erkenntnistheoretischen Aspekte sowohl aus der theologischen Dogmenlehre als auch aus der Philosophie schöpft, wobei beide auf dem Bestand der christlichen Metaphysik basieren. Weil eine Anthropologie, die das Verhältnis des Menschen zu Gott nicht in Betracht zöge, unvollständig bliebe, „bedarf die philosophische Anthropologie der Ergänzung durch eine theologische. Aus Philosophie und Theologie ist das Gebäude der christlichen Metaphysik errichtet, die ein Gesamtbild der realen Welt entwirft" (Stein, 2004b, 26).
Die Verbindung von Theologie, Philosophie und Metaphysik ist nicht neu im Denken Steins, das in Bezug auf das Projekt der christlichen Philosophie entwickelt worden war. Vielmehr entstand schon ganz früh, während der Assistentenzeit von Stein bei Husserl, der Zusammenhang zwischen Theologie, Philosophie und Metaphysik bezüglich der Person-Lehre, wo Stein die metaphysischen Fragen mit der Gottesfrage verbindet. In einem Brief an Roman Ingarden aus dem Jahr 1917 schreibt sie zum ersten Mal über diesen Zusammenhang:
Ich finde, man rennt an allen Ecken und Enden daran [an Metaphysik] (vom religiösen Erleben einmal ganz abgesehen); es ist unmöglich, eine Lehre von der Person abzuschließen, ohne auf Gottesfragen einzugehen, und es ist unmöglich zu verstehen, was Geschichte ist. Klar sehe ich natürlich da noch gar nicht. Aber sobald die Ideen fertig sind, möchte ich an diese Sachen herangehen. (Stein, 2001, 47, Br. 9 an Roman Ingarden vom 20.2.1917)
Auf den ersten Blick sieht man den Zusammenhang zwischen Husserls und Steins Einsicht bezüglich der Bedeutung der Metaphysik für das phänomenologische Denken nicht, besonders nicht, wenn man in Betracht zieht, dass Stein in den Vorlesungstexten zur Anthropologie in der Weltanschauung einen synonymen Begriff für Metaphysik findet, und die Metaphysik als die höchste Form der Philosophie bestimmt. Demgegenüber forciert Husserl in Die Philosophie als strenge Wissenschaft die Auseinandersetzung zwischen Phänomenologie und Weltanschauung; die Phänomenologie sei die einzige Möglichkeit, das Wesen zu erfassen. Im zweiten Teil der Abhandlung setzt sich Husserl mit der Weltanschauung und der Idealität der Philosophie auseinander und argumentiert für die streng phänomenologische Wesenswissenschaft, die die Philosophie des Geistes begründe. In dieser Hinsicht unterscheidet Husserl streng zwischen der Weltanschauung, die seines Erachtens eine zeitlich begrenzte geistige Einstellung sei, die zum Skeptizismus führe, gegenüber der letztbegründenden philosophischen Einstellung der Phänomenologie, die auf Grund ihrer grundsätzlichen Methode die Weltanschauung — als die historische Sicht der Zeit — fundiert. Trotzdem ist Husserls Beziehung hinsichtlich des Verhältnisses von Weltanschauung versus Metaphysik nicht so eindeutig, wenn er ein Jahrzehnt später in den Vorlesungen zur Ersten Philosophie über die Phänomenologie sagt, sie müsse eine Wissenschaft sein, die erkenntnistheoretisch eine transzendentale Klarheit herstellt und als eine solche absolute Wissenschaft fungiert, die allen möglichen Wissenschaften die metaphysische Ausrichtung gibt6. Ei-
„In Anwendung auf die natürlich und faktisch gegebene Welt und die auf sie bezogenen natürlichen Wissenschaften ergibt sie die konkrete Metaphysik, nicht nur eine allgemeine Metaphysik mit allgemeinen Bestimmungen für das im absoluten Sinn Seiende, sondern eine konkrete, d. i. sie gibt die metaphysische Auswertung aller natürlichen Wissenschaften und zugleich die Stellung und
6
gentlich kommt Husserl ganz früh auf die Einsicht der Letztbegründung der Metaphysik durch die Phänomenologie, die eine schwache Parallelität mit der von Stein aufgezeigten weltanschaulichen Begründung des philosophischen Denkens aufweist. In dem Text Grenzprobleme der Phänomenologie bezeichnet Husserl seine eigene Philosophie als „eine autonome Philosophie, wie es die aristotelische war und wie sie eine ewige Forderung bleibt", die „notwendig zu einer philosophischen Teleologie oder Theologie — als inkonfessioneller Weg zu Gott" komme, die auf transzendental-konstitutivem Wege zu den letztbegründenden Fragen führe (vgl. Husserl, 2013, 259). Anhand der Einleitung zu den Texten der Grenzprobleme der Phänomenologie sprach Husserl schon im Jahr 1917 in einem Brief an Gustav Albrecht von seiner Sehnsucht nach einem „letzten religionsphilosophischen Abschluss", ein Gedanke, der in Vorträge und Aufsätze wieder auftaucht, wo Husserl die „Religionsmetaphysik als letzten Abschluss universal verstehender Wissenschaft, als Norm für alle intuitiv mystische Symbolik" bezeichnet (Husserl, 2013, LXXII).
Demnach ist es nicht erstaunlich, dass Edith Stein in den 1910er Jahren die religiösen Einsichten ihren metaphysischen Einsichten anschließt und die Theorie der Person von religiösen Erlebnisse ableitet. Eine engere Verbindung zwischen Metaphysik und Phänomenologie formte sich im Denken Steins während der 1930er Jahre aus, als sie die Metaphysik als eine auf Philosophie und Theologie begründete Wissenschaft betrachtete (vgl. Speer, 2021, 87-105). Es gibt keinen eindeutigen Hinweis darauf, dass Stein den Zusammenhang von Metaphysik — Phänomenologie — Theologie von Husserl übernommen hat, doch liegt die Vermutung nahe, dass sie in der Verbindung der drei Wissenschaften vom Husserlschen Denken her inspiriert wurde. Das ließe sich aus einem Brief an Roman Ingarden schlussfolgern, in dem sie über die auf Philosophie und Theologie basierende Metaphysik schreibt, die jeweils von beiden kritisch abgegrenzt ist: „Meine Stellung zur Metaphysik ist anders als Sie vermuten. D. h. ich glaube, dass sie sich nur aufbauen kann auf eine Philosophie, die so kritisch wie nur möglich sein soll — kritisch freilich auch gegen ihre eigenen Möglichkeiten —, und auf eine positive (d. h. auf Offenbarung gestützte) Glaubenslehre" (Stein, 2001, 175, Br. 102 vom 28.11.1926).
Ihre Argumentation für die Betrachtung der Metaphysik ist zweiseitig in der Hinsicht, dass die Metaphysik sich einerseits mit Philosophie und Theologie kritisch
eventuelle Lösung der Probleme, die sich nach ihrer Auswertung und unter ihrer Voraussetzung noch ergeben. Die eidetische Phänomenologie und die phänomenologische Philosophie der Fak-tizität schließt sich ab zum Universum aller möglichen absoluten Wissenschaft von der gegebenen absoluten Wirklichkeit und von jeder möglichen absoluten Wirklichkeit und von beiden in ihren notwendigen Verhältnissen zueinander" (Husserl, 1996, 429).
auseinandersetzt, andererseits aber auf den Voraussetzungen der zwei Wissenschaften basiert. Deswegen ergänzt Stein ihre Bemerkung damit, dass die Erkenntnistheorie eine auf die Metaphysik und Glaubenslehre begründete Wissenschaft sein soll.
Einer solchen Metaphysik, wie ich sie auffasse, hätte vorauszugehen eine kritische Abgrenzung dessen, was Philosophie (d. h. im wesentlichen Erkenntnistheorie + Ontologie) u. Theologie jede für sich allein zu leisten hat: eine kritische Abgrenzung von beiden Seiten her. Und hinter die „endgültige Begründung" der Erkenntnistheorie durch sich selbst setze ich ein großes Fragezeichen. Wer keinen Glaubensboden unter den Füßen hat, der ist freilich — vom Standpunkt des wissenschaftlichen Gewissens aus — konsequent, wenn er auf Metaphysik und damit auf eine geschlossene Weltanschauung verzichtet. Aber das hält nur ein fanatischer Rationalist u. Intellektualist bis an sein Lebensende aus. Und die sind heute im Aussterben. (Stein, 2001, 175-176, Br. 102 vom 28.11.1926)
Eindeutig ordnet Edith Stein die Anthropologie der Erkenntnistheorie unter, wenn sie deren Begründung von der metaphysisch-weltanschaulichen Einstellung her voraussetzt. In der Vorlesung Der Aufbau der menschlichen Person legt sie großes Gewicht darauf, zu beweisen, dass das Philosophieren unvermeidlich zu den Gottesfragen führt, und um diese Fragen beantworten zu können, muss der Philosoph sich mit Anthropologie und Erkenntnistheorie auseinandersetzen (Stein, 2004b, 30). Das bedeutet für Stein, dass man während des Philosophierens bezüglich der metaphysischen Einstellung eine Entscheidung pro oder contra hinsichtlich der Gottesfragen treffen muss.
Einige Jahre später präzisierte sie ihre vorherige Einstellung gegenüber Metaphysik und schreibt in einem Brief an Hedwig Conrad-Martius, dass ihre Idee von Metaphysik die „Erfassung der ganzen Realität unter Einbeziehung der offenbarten Wahrheit, also auf Philosophie und Theologie begründet" sei (vgl. Stein, 2015, 246, Br. 126 an Hedwig Conrad-Martius vom 13.11.1932). Daraus folgt, dass Metaphysik in Steins Verständnis sich auf eine geschlossene Weltanschauung stützt, diese aber von der seelischen Einstellung zu Gott abhängig wäre. Diese anthropologische Einstellung lässt sich in Steins letzter philosophischer Arbeit (Endliches und ewiges Sein) weiterfolgen, deren letztes Kapitel ein Versuch dazu darstellt, christliche Philosophie insgesamt anthropologisch zu begründen.
4. SCHLUSSBETRACHTUNGEN
Aus den bisherigen Ergebnissen lässt sich entnehmen, dass eine eindeutige Parallelität zwischen Husserls und Steins Einsicht in der Bedeutung der Metaphysik für das phänomenologische Denken besteht, die in beiden Fällen aus der phänomenolo-
gischen Intuition stammt. Demnach weist die phänomenologische Konstitution eine letztbegründende, und allerletztlich religiöse Weltanschauung in der Metaphysik auf. Diese Erkenntnisse unterstreicht Husserl in den Schlussbetrachtungen seiner Londoner Vorträge mit der Formulierung, dass die Phänomenologie das „gemeinsame Mutterhaus sein" soll, „in dem alle geschwisterlichen Wissenschaften zusammen kommen; sie wird die Ursprungsstätte einer Metaphysik sein, die streng wissenschaftlich uns im Allgemeinen, und durch das Medium der Spezialwissenschaften im Besonderen, den Sinn der Welt erschließt" (Husserl, 2000, 253). Dem strukturellen Zusammenhang von Phänomenologie und Metaphysik geht Stein mit ihrer Theorie der Person durch den persönlichen Charakter der Seele nach, wodurch sie die letztbegründende personale Schicht im seelischen Kern der Person bestimmt, der in diesem Sinn auch in der Weltkonstitution grundsätzlich und in einer bestimmten weltanschaulich-metaphysischen Einsicht mitspielt.
ACKNOWLEDGMENTS
Ich danke Beate Beckmann-Zöller für ihre freundliche Hilfe bei der sprachlichen Überarbeitung dieses Aufsatzes.
REFERENCES
Alles Bello, A. (2016). From the "Natural" Human Being to Gender Difference: Phenomenological and Dual Anthropology in Edith Stein. In A. Calcagno (Ed.), Edith Stein: Women, Social-Political Philosophy, Theology, Metaphysics and Public-History (11-25). Switzerland: Springer. Beckmann, B. (2003). Phänomenologie des religiösen Erlebnisses. Religionsphilosophische Überlegungen
im Anschluss an Adolf Reinach und Edith Stein. Würzburg: Königshausen & Neumann. Betschart, Ch. (2013). Unwiederholbares Gottessiegel. Personale Individualität nach Edith Stein. Basel: Friedrich Reinhardt.
Husserl, E. (1952). Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (Hua IV). Den Haag: Martinus Nijhoff. Husserl, E. (1996). Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion
(Hua VIII). Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers. Husserl, E. (2000). Phänomenologische Methode und phänomenologische Philosophie. Londoner
Vorträge 1922. Husserl-Studies, 16, 183-254. Husserl, E. (2013). Grenzprobleme der Phänomenologie. Analysen des Unbewusstseins und der Instinkte. Metaphysik. Späte Ethik. Texte aus dem Nachlass (1908-1937) (Hua XLII). Dordrecht/Heidelberg/New York: Kluwer Academic Publishers. Jani, A. (2012). Edith Steins Heidegger-Exzerpte. Eine Kritik der Metaphysik des Daseins. Edith Stein Jahrbuch, 18, 81-109.
Jani, A. (2014). Der Übergang von der Husserlschen Fragestellung zur Seinsphilosophie. Von der Methodenfrage zur Ontologie des Seins. In P. Volek (Hrsg.), Husserl und Thomas von Aquin bei Edith Stein (15-45). Nordhausen: Bautz.
Jani, A. (2015) Edith Steins Denkweg von der Phänomenologie zur Seinsphilosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Jani, A. (2018). The Ontic-Ontological Aspects of Social Life. Edith Stein's Approach to the Problem. In R. Hagengruber & S. Luft (Eds.), Women Phenomenologists on Social Ontology (45-60). Switzerland: Springer.
Jani, A. (2021). Realität, Zeitlichekit und Ewigkeit in Edith Steins Denken. In H. Klueting & E. Klueting (Eds.), Edith Stein's Itinerary. Phenomenology, Christian Philosophy, and Carmelite Spirituality (185-195). Münster: Asschendorff.
Lembeck, K.-H. (1990). Zwischen Wissenschaft und Glauben. Die Philosophie Edith Steins. Zeitschrift für katholische Theologie, 112 (3), 271-287.
Müller, A. U. (1993). Erkennen wie ich erkannt bin. Grundzüge der Religionsphilosophie Edith Steins. Freiburg / München: Karl Alber.
Sepp, H. R. (2017). Edith Stein's Conception of the Person Within the Context of the Phenomenolog-ical Movement. In E. Magri & D. Moran (Eds.), Empathy, Sociality, Personhood. Essays on Edith Stein's Investigations (49-65). Switzerland: Springer.
Speer, A. (2021). Perfectum opus rationis — Edith Steins Thomaslektüren und die Möglichkeit einer christlichen Philosophie. In H. Klueting & E. Klueting (Eds.), Edith Stein's Itinerary. Phenomenology, Christian Philosophy, and Carmelite Spirituality (87-105). Münster: Asschendorff.
Stein, E. (2001). Selbstbildnis in Briefen III. Briefe an Roman Ingarden (GA 4). Freiburg im Breisgau: Herder.
Stein, E. (2004a). Einführung in die Philosophie (GA 8). Freiburg im Breisgau: Herder.
Stein, E. (2004b). Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesungen zur philosophischen Anthropologie (GA 14). Freiburg im Breisgau: Herder.
Stein, E. (2005a). Zum Problem der Einfühlung (GA 5). Freiburg im Breisgau: Herder.
Stein, E. (2005b). Was ist der Mensch. Theologische Anthropologie (GA 15). Freiburg im Breisgau: Herder.
Stein, E. (2014). Freiheit und Gnade und weitere Beiträge zur Phänomenologie und Ontologie (GA 9). Freiburg im Breisgau: Herder.
Stein, E. (2015). Selbstbildnis in Briefen I. Erster Teil (1917-1933) (GA 2). Freiburg im Breisgau: Herder.