mummim
philologia classica
GRAECIA ANTIQUA limHUHHiil
vol. 11 • fasc. 1. 2016
UDC 821.14+82-13
DAS „INCOMPATIBILITÄTSGESETZ" TH. ZIELINSKIS: EINE KOLUMBISCHE ENTDECKUNG1
Michael M. Pozdnev
St. Petersburg State University, 7-9, Universitetskaya nab., St. Petersburg, 199034, Russian Federation; [email protected]
Univ. Trier, FB II Klassische Philologie
Universitätsring 15, 54286, Trier, Deutschland; [email protected]
Zielinski 's "law of inconsistency" has been lively discussed since the early seventies, as the Homeric scholarship following the way pioneered by Parry and Lord began to focus more and more on narrative technique. The criticism expressed by the German-speaking scholars (H. Patzer, A. Rengakos, and R. Nünlist) has reviewed all the aspects of Zielinski's theory, pointing out firstly that the sequence of events, as presented by Homer, is sufficiently reasoned (consequently, there is no difference between 'real time' and 'apparent time'), and secondly, that Homer actually describes simultaneous actions as simultaneous. It can be added, thirdly, that the Homeric narrator can, in fact, turn back, pick up a different strand, and set forth again through the same time period. However, Zielinski rightly maintained that the Homeric treatment of such actions differs significantly from what can be considered 'normal.' Indeed, even Vergil's narrative, modeled on Homeric example, is quite different in this respect. Vergil explicitly synchronizes concurrent actions using coordinate clauses, whereas Homer joins successive as well as parallel action by means of a short coordinate word, most frequently by just one stand-alone 5s. Thus, the reader of Vergil never loses the connection between concurrent events, while the audience of Homer is often not sure about the actual parallelism or succession of events; we have to conjecture on where and when the strands actually coincide. What Zielinski discovered, then, was not the law of succession (in fact, there is no such law), but a lack of explicitness in Homer's spatio-temporal coordination, resulting probably from the (intended?) deficiency in literalicity that is characteristic of the Homeric poems.
Keywords: Homer, Zielinski, narratology, Zielinski 's law, chronological inconsistency.
Als Thaddeus Zielinski2 die bekannte Theorie formulierte, dass in den homerischen Epen synchrone Handlungen nicht dargestellt sind und auch nicht dargestellt werden konnten, war ihm bewusst, dass diesen Weg ein anderer gebahnt hatte: In seinem ersten, auf russisch in der Festschrift für den Moskauer Universalphilologen Th. E. Korsch veröffentlichten Beitrag
1 Ich freue mich diese Studie meinem verehrten Lehrer Herrn Prof. A. K. Gavrilov, der ausschlaggebenden Autorität in allen Fragen der Zielinski-Forschung und dem großen Meister der Philologie, zu seinem 75. Geburtstag schenken zu dürfen.
2 Letzteres zum Thema „Zielinski": Gavrilov 2013; von Albrecht 2013.
© St. Petersburg State University, 2016
zum Thema3 greift Zielinski einleitend auf „Die Sagenpoesie der Griechen" von Gregor Nitsch zurück4 und wirft der Homerkritik vor, dass sie „die Lachmannsche Widerspruchstheorie auf jede Art und Weise ergänzt oder widerlegt", anstatt die Besonderheiten des alten Epos zu untersuchen, auf die Nitsch aufmerksam gemacht hatte5. Eine davon sei die Linearität der dargestellten Handlung. Zielinski behauptet, dieses Merkmal „noch nichts von Nitsch wissend" bemerkt zu haben. Im russischen, durch Entdeckungsgeist inspirierten Aufsatz schließt sich Zielinski dennoch am Ende methodisch der getadelten neuhumanistischen Homerkritik an. Die Schwierigkeit, auf die der homerische Sagenerzähler bei der erzählerischen Entfaltung von in der erzählten Realität gleichzeitig verlaufenden Handlungen stieß, wird nicht allzu harmonisch mit der „hundertjährigen homerischen Frage" in Verbindung gesetzt: „Der über sein Material störungsfrei verfügende Dichter" würde keine „fühlbare Lücke auf einem der Handlungstheater hinterlassen"; folglich ist die Ilias „das Werk eines Bearbeiters, welcher die sich auf Achilles' Zorn beziehenden Teile des Sagenepos zusammengefügt hat". Eine derartige Lösung entsprach nicht der anfänglich artikulierten Absicht, das neuentdeckte Gesetz gemäß des von Nitsch vertretenen innovativen Forschungsansatzes zu erklären. Zu diesem versucht Zielinski zurückzukommen, indem er schreibt: „Was für den Redakteur der Ilias unumgänglich war, war es auch für alle Dichter, deren Schöpfungen in sie einflossen". Dies bleibt allerdings ohne Beweis, die Erörterung schließt ex abrupto mit bloßem Verweis auf Steinthal6. In der bald darauf folgenden deutschen Kurzmonographie7 geht Zielinski hingegen konsequent von einem psychologisch-poetologischen Standpunkt aus: Der Formulierung des „Incompatibilitätsgesetzes" wird ein bildhafter Exkurs in die Wahrnehmungspsychologie vorausgeschickt; die Beschreibung der „Methoden", d. i. Verfahren, von denen der homerische Erzähler bei parallel ablaufenden Handlungssequenzen Gebrauch macht, sowie der von Zielinski postulierten Transformationen der „wirklichen" Handlung in die „scheinbare" wird durchgehend von kunstpsychologischen Erwägungen begleitet. Schließlich verspricht der Verfasser, die Bedeutung seiner Entdeckung für die homerische Frage im nächsten Teil zu erörtern. Sein Rezensent, Paul Cauer, freut sich über „den glücklichen Bund von Scharfsinn und Witz, der hier eine neue, fruchtbare Betrachtungsweise geschaffen hat", und wartet auf die versprochene Fortsetzung8. Allerdings setzte Zielinski seinen Plan nicht in die Tat um und der „Erste Teil" blieb auch der einzige. Der Forscher war jedoch, wie aus heutiger Perspektive ersichtlich, aus wissenschaftspragmatischen Gründen nicht imstande, das geäußerte Versprechen einzuhalten: Sein methodischer Ansatz kollidierte mit den Prinzipien der Scheidungskritik sowie des Unitarismus seiner Zeit. Wohl deswegen fand auch Zielinskis Theorie zu Lebzeiten fast keine Resonanz9. Die Epoche der Narrativistik kam später.
3 Zielinski 1896 [Зелинский Ф. Ф. Закон хронологической несовместимости и композиция Илиады]; hierzu: Kleiner, Pozdnev 2013 [Клейнер С. Д., Позднее М. М. Хронологическая несовместимость Ф. Ф. Зелинского. Послезаконие], 449-451.
4 Zielinski 1896, 104; vgl. Nitsch 1852, bes. 106. Rengakos 1995, 20, Anm. 60 glaubt zu Unrecht (anscheinend ohne über den russischen Beitrag Zielinskis Bescheid zu wissen), dass der Forscher das Buch von Nitsch etwa nicht berücksichtigt hat. Zielinski verweist weiter noch auf Bekker 1863, 130.
5 Zielinski 1896, 104; für die Debatte um die Theorien von Nitsch s. Curtius 1854, 14-22.
6 Zielinski 1896, 121: "Если мы теперь спросим себя, с которой из существующих уже теорий происхождения гомеровских поэм лучше всего вяжется предполагаемый процесс, то придется ответить: с теорией Штейнталя, развитой им в статье Das Epos." Vgl. Steinthal 1858; Kammer 1873, 3-14.
7 Zielinski 1901.
8 Cauer 1903, 50.
9 Eine der seltenen Ausnahmen bildet Belzner 1912, 24, Anm. 1. Zielinski beklagte sich darüber, dass das von ihm neuentdeckte Gesetz in den russischen Homerstudien „nur flüchtig zitiert wird": Zielinski
Die maßgeblichen Altphilologen der Jahrhundertmitte überprüfen die Regel Zielinskis nicht, sondern setzen sie als Gemeinplatz voraus10. Edouard Delebeсque hat sie in „la loi de succession" umbenannt11; der Begriff „Sukzessionsgesetz" ist in der jüngeren literaturgeschichtlichen Forschung gängig geworden12. Die psychologische Begründung Zielinskis, die „serapiontische Schau", welcher der Dichter sich hingebe13, wurde dabei allerdings durch die kulturgeschichtliche ersetzt: Nach Hermann Fränkel verfügte der homerische Mensch über keine Vorstellung von der absoluten Zeit (denn durch xpovoq wird bei Homer allein die Zeitdauer bezeichnet); daher hätte der Dichter die gleichzeitig stattfindenden Begebenheiten unmöglich als solche darstellen können14.
Die Poetik des mündlichen Sagenerzählens haben M. Parry und A. Lord zum Zentralthema der Homerforschung gemacht; eine Dekade nach dem Erscheinen von „The Singer of Tales"15 wurde Zielinskis Gesetz von Tilman Krischer das erste Mal problematisiert16. Das „serapiontische", oder, modern ausgedrückt, „kinematographische" Prinzip des Schauens weist Krischer als Erklärung der Handlungslinearität bei Homer zurück: Der Dichter erzählt im Präteritum und ist durchaus in der Lage, seine Beobachtungen zu synchronisieren. Gleichermaßen könne die Abwesenheit des absoluten Zeitbegriffs den Erzähler kaum an der chronologischen Koordination paralleler Begebenheiten hindern: Die Gleichzeitigkeitsvorstellung gehöre zu den Eigenschaften der Vernunft und hänge genauso wenig von den mathematischen Absoluten ab, wie die sprachliche Äußerung eines Gedankens der Existenz von explizit formulierten grammatischen Regeln bedarf17. Es gebe keine objektiven Hindernisse, die Handlungsgleichzeitigkeit darzustellen. Folglich habe Homer die gleichlaufenden Vorgänge mit Absicht als Nacheinander arrangiert.
Vier Beispiele werden von Krischer in Anlehnung an Zielinski besprochen: 1. Il. 15, 150234: Zeus hätte gleichzeitig (A) Iris zu Poseidon und (B) Apollon zu Hektor schicken müssen; in der homerischen Darstellung folgt aber B auf A: Die Botschaft an Poseidon ist überbracht,
1900, 169; gemeint ist dabei Shestakov 1899 [Шестаков C. O происхождении поэм Гомера. Выпуск II: О происхождении Илиады], 82. Seit der Nachkriegszeit gibt es in Russland allerdings kaum eine Darstellung der antiken Literatur, die das „Zielinskische Gesetz" ignorierte.
10 U. a. Page 1955, 64-65; Bowra 1952, 313-14; Lesky 1968, 722; vgl. Hellwig, 1964, 58-60; für weitere Hinweise s. Olson 1995, 93, Anm. 8.
11 Delebeсque 1958, 9; 16 u. passim.
12 S. z. B. Nünlist 1996, 3; Scodel, 2008, 108; Reichel 2011, 22.
13 Für das „Serapiontische Prinzip" bei E. T. A. Hoffmann sowie für die „Modellfigur des idealen Dichters, der wirklich innerlich schaut, was er erzählt", s. Kurbjuhn 2014, 655-60, hier 657, mit weiteren Literaturhinweisen. Die Romantheorie F. Spielhagens wird von Rengakos (1995, 9, mit Hinweis auf Steinhoff 1964, 9) als Quelle Zielinskis betrachtet. Dies bleibt dahingestellt, da zwischen beiden Theorien weder eine terminologische noch eine inhaltliche Interferenz besteht. Dass Homer hinter den handelnden Personen „völlig und ausnahmslos verschwindet" (so Spielhagen in seinem 1895 verfassten Weimarer Festvortrag „Die epische Poesie und Goethe"), würde einem Verfasser der „Homerischen Psychologie" (s. Zielinski 1922) absurd vorkommen. Beiläufig sei bemerkt, dass auch die Meinung von Patzer 1996, 16, laut welcher Zielinski sich um eine „mögliche dichterische Bedeutung" der Handlungspersonen bei Homer „gar nicht kümmerte", sondern lediglich die Darstellungsform der homerischen Gedichten schilderte, zu dem, was Zielinski in der „Homerischen Psychologie" aber auch in seinen anderen Schriften zur homerischen Poetik äußert, im offenbaren Widerspruch steht.
14 Fränkel 1931, 97-100; 1968, 1-4.
15 Die erste Ausgabe erschien bekanntlich in 1960; vgl. Mitchell, Nagy 2000, für die Handlungskoordination in der Odyssee s. 163-165.
16 Krischer 1971; einleitend (4-8) setzt sich der Verfasser mit der Schule von Milman Parry pointiert auseinander.
17 Ebd. 97-102; noch ausführlicher und vielseitiger wird Fränkel von Rengakos 1995, 10-15 kritisiert.
sein Zurücktreten erreicht, Zeus spricht seine Zufriedenheit aus, erst dann folgt die Ermutigung Hektors durch Apollo. 2. Il. 24, 93-187, ein ähnlicher Fall: Thetis wird zu Achilles abgesandt, man wartet, bis der Held seine Reaktion äußert, erst dann fliegt Iris zu Priamos. 3. Il. 8, 489-565; 9, 9-172: Der Kriegsrat der Trojaner und die von Agamemnon heimlich veranstaltete Versammlung der achäischen Könige müssten in der Erzählrealität am selben Abend stattgefunden haben, aber der Dichter hat das Nebeneinander in ein Nacheinander umgestaltet. 4. Od. 1, 44-93; 5, 5-43, im Wesentlichen wie Beispiel 1 und 2: Athena begleitet den Sohn des Odysseus; erst nach dem Ende der Telemachie begibt sich Hermes zu Kalypso18. Zielinski konstatiert eine „anomale Verzögerung": Die „analysierend-desultorische Methode" ist nicht anzuwenden, da man die Aufmerksamkeit auf beide sich entfaltenden Vorgänge konzentriere; also kommt die Erzählung auf einem der zwei Handlungsstränge eine Zeitlang nicht vom Fleck, die Handlung wird „herunterdrückt". Krischer behauptet, hier sei nicht eine erzwungene Verzögerung vorhanden, sondern eine „koordinierte Verzweigung": Es werde eine bestimmte Situation modelliert, an welcher zu erkennen sei, dass die Stränge weiterhin gleichzeitig ablaufen, obwohl sie naturgemäß in Aufeinanderfolge beschrieben werden19.
Die Haupthandlung, zu welcher der Epiker, nachdem er mit der Beschreibung einer Nebenlinie fertig ist, zurückkehren muss, entwickelt sich nach der Auffassung Krischers streng linear. Mithin wird das Gesetz Zielinskis, „an Iron Law of Narrative Sequence" (so Olson nach Delebecque), nicht bestritten und behält fortan bei der Mehrheit der Homerforscher den Status eines Axioms bei20. Jedoch führt gerade die Überzeugung, dass die Linearität bei Homer niemals verletzt werde, paradoxerweise zu seiner Widerlegung. Harald Patzer stellt sich das homerische Epos als „Kosmos" vor, in dem jedes Detail die „Einheit einer für sich nur einlinig vorwärts schreitenden Ereigniskette" unterstützt21. Patzer stellt eine Frage, die schon bei Zielinski anklang. In seinem russischen Aufsatz fasste dieser die Erwiderung zusammen, welche die Homerkritik gegen Nitsch richtete, indem sie „durch den Mund von Curtius fragte, woher Nitsch gewusst hätte, dass die Handlungen, die Homer nacheinander erzählt, parallel dargestellt worden sein sollten"22. Das Problem, auf das hier verwiesen wird, hat Zielinski allerdings weder in seiner russischen noch in der deutschen Abhandlung beseitigt. Patzer ist damit völlig berechtigt, denselben Einwand zu äußern, auch ohne die Vorgänger zu erwähnen. Nach seiner Ansicht sind die hypothetisch parallelen Handlungen nicht nur nacheinander dargestellt, sondern sie hängen voneinander ab. 1. Zeus kann nicht von vornherein wissen, ob sein launiger Bruder seiner Forderung nachgibt; also müssen er und Apollon abwarten. 2. Iris darf unmöglich zu Priamos geschickt werden, bevor der unberechenbare Achilles zugestimmt hat, die Leiche von Hektor herauszugeben: Sonst wäre der Greis einer Lebensgefahr ausgesetzt. 3. Für den geheimen Rat der Achäerführer, auf dem sich Agamem-
18 Krischer 1971, 94-6; Zielinski 1901, 432-435.
19 Krischer 1971, 128-9; Zielinski 1901, 433.
20 S. bspw. Olson 1995, 93; Rujigh 1974, 419; Whitman, Scodel 1981, 3; de Jong 1997, 322; 2007, 30; Danek, Epos 1998, 177-178; vgl. Id. Darstellung 1998, 88, wo die folgende Universalisierung des Zielin-skischen Gesetzes anzutreffen ist: „Alle Beschränkungen, Gebote und Verbote, die Zielinski definiert hat, lassen sich als Folge einer einzigen Regel deuten, nämlich der ,Vermeidung' der Darstellung verdeckter Aktionen". Es wird also wiederholt betont, dass der Dichter von dem bereits verlassenen Zeitpunkt keine neue Erzähllinie beginnen kann.
21 Patzer 1990, 166; vgl. Id. 1996, 96: „Die Darstellung gleichzeitigen Ereignisgeschehens ist bei Homer prinzipiell nicht möglich und kommt nicht vor".
22 Zielinski 1896, 104: „...она [гомеровская критика] устами Курциуса спросила, откуда Нич знает, что действия, которые Гомер рассказывает одно за другим, должны быть представляемы как действия параллельные"; vgl. Curtius, 1854, 14.
non zunächst demütig zeigt, dann über die Presbeia entschieden wird, bestünde kein Bedarf, wären nicht die Troer am Abend vor dem Wall des feindlichen Lagers geblieben und hätten tausende Lagerfeuer angezündet. 4. Die Reise des Telemachos bereitet die des Odysseus vor: Dem Sohn droht der Tod, daher darf die Rückkehr des Vaters nicht weiter verhindert werden; somit wird der Plan von Athene, die durch ihren Vater handeln muss, zur Vollendung gebracht23. Die Handlungsfolge sei also immer hinreichend psychologisch motiviert24; bei den expliziten Korrelationen der Ereignisse handle es sich, anders als Zielinski meint, nicht um „falsche", sondern um durchaus korrekte, wahrnehmungserleichternde Synchronismen.
Die Kritik Patzers war für die weitere Diskussion insofern produktiv, dass sie die Sinnlosigkeit der Streitigkeiten, ob nun die von Zielinski und Krischer präsumierte (A || B) oder die aus der faktischen Darstellung herauszulesende (A ^ B) Handlungssequenz besser begründet ist, offengelegt hat25. Dessen ungeachtet hört ein Teil der Homerforscher, Zielinski folgend, nicht auf, „wirkliche" und „scheinbare" Handlung ("real time" vs. "apparent time") voneinander zu trennen26. Dennoch kritisiert die andere, der Diskussionsgeschichte bewusstere Schule Zielinski immer eifriger, indem sie nicht allein die dargestellte Sequenz für logisch und lückenfrei erklärt, sondern zu zeigen versucht, dass Homer nicht weniger fähig ist, parallele Vorgänge zu erzählen, als modernere Literaten. Die Simultaneität der Stränge wird, wie die eingehende Untersuchung von Antonios Rengakos anschaulich gemacht hat, von den Handlungspersonen deutlich angekündigt27. „Während ich mich ausrüste, betet Zeus an" (II. 7, 93); „ich gehe zu meinem Haus, und du, Helena, sporn Paris zum Kampf an" (6, 363): An diesen und ähnlichen Aussagen von Aias, Hektor und den anderen Helden lässt sich ersehen, dass sich Homer diejenigen Episoden, die er nacheinander zeigt, als gleichlaufend denkt. Dieselbe Struktur ist zu erkennen, wenn die Rede vom Autor selbst herrührt: Während die Achäer und die Troer frühstücken, sich rüsten und in den Kampf gehen (8, 53-59), mahnt Zeus die Götter (1-52); solange Patroklos die Wunden des Eurypylos versorgt, setzt sich der stürmische Kampf dauernd fort (Il. 15, 390-394, vgl. 11, 842-912, 2). Die „analysierend-desultorische Methode" Zielinskis scheint für Rengakos das Vorgehen des Epikers grundsätzlich richtig zu bestimmen. Die Haupthandlung wird detailliert ausgearbeitet („analysiert"), die Nebenhandlung(en) strichartig gezeichnet; dann „springt" der Erzähler zum Nebenstrang, der für einige Zeit zum Hauptstrang wird. Die Punkthandlungen werden jedoch nicht bloß in andauernde Zustände verwandelt (bspw. hört Menelaos nicht auf, Paris zu suchen: 3, 448), sondern der Nebenstrang kann mit gewisser Ausführlichkeit gezeigt werden (wie das von Hekabe und den Troj annerinnen dargebrachte Opfer an Athene: 6, 286-313). Diese Handlungen sind allerdings einförmiger als der Hauptstrang: Dargestellt wird fast immer ein und derselbe fortdauernde Vorgang. Dies zeigt sich insbesondere anhand der von René Nünlist in Ergänzung zu Rengakos ange-
23 Patzer 1990, 154-172; vgl. Rengakos 1998, 62-63. Nach seiner Reise ist Telemachos bereit, gegen die Freier mit seinem Vater anzutreten; „a trip abroad where he might converse with such Trojan heroes as Nestor and Menelaus was just the thing needed to bring out those strong and manly qualities which were by right of birth the possession of the son of Odysseus": Scott 1918, 428.
24 Somit darf man kaum behaupten (wie etwa Hoekstra 1989, 31; Seeck 1998, 138), dass die (genaue) Handlungskorrelation für Homer irrelevant und nur die Handlung schlechthin von Belang ist.
25 Vgl. Rengakos 1998, 46.
26 Stanley 1993, 154; 371; Richardson 1990, 225; Janko 1992, 150; de Jong 2007, 30; Scodel 2008, 116-117.
27 Rengakos 1995, 17-19; 23; 29-30.
führten Beispiele28. Er weist u. a. auf das charakteristische Verzweigungsmoment hin: Eine Figur entfernt sich vom Schauplatz, wobei die anderen, „sobald sie ihn weglaufen sahen", zu handeln beginnen. Il. 14, 428-439: Der verwundete Hektor wird vom Schlachtfeld weggetragen, und die Achäer, wq ouv i6ov"EKtopa vöa9i Kiövta, fangen an, die Troer heftiger anzugreifen. Das formelhafte voa9t Ktovta findet sich noch zweimal im gleichen Kontext: Il. 11, 284:"Ектшр 6' wq evör|a' Aya^e^vova vöa9i Ktovta und Od. 8, 286: ('Äpr|q) wq iSev "H9atatov KXutotexvriv vöa9t Kiövta. Die zweite Linie, obwohl zweifelsohne parallel gedacht, wird nicht ausgearbeitet: Wir sehen eine reglose Gestalt in ihrem Wegtreten — eine passende Gelegenheit, sie zu verlassen.
Aus den Beobachtungen von Rengakos und Nünlist folgt, dass in der homerischen Erzählung einige kurze Szenen vorkommen, die synchron zur Stammhandlung ablaufen29. Die „Verzahnung" wird durch kleine Hilfswörter, meistens durch ^¿v / 6e bzw. nur 6e, aber auch mittels aütdp, (au0') etepwGev, Ö9pa (^oq) / tö9pa markiert. Diese Koordinationswörter müssen, in Fällen, in denen sie der Erzähllogik nach das Rückwärtsschreiten kennzeichnen, in der ungefähren Bedeutung von 'inzwischen', 'unterdessen' und dergl. verstanden werden30. Laut Nünlist erweist sich der homerische Erzähler bei der Behandlung gleichzeitiger Ereignisse als „durchaus 'normal' ". Nicht anders als den übrigen Narratoren fällt ihm das Zurückgreifen auf bereits Geschehenes einfacher als die „peinlich genaue („analysier-end-desultorische") Berücksichtigung der Chronologie". Der Unterschied zwischen Homer und den Späteren bestehe darin, dass er nur selten und „äußerst zurückhaltend" rückwärts springe31. Ruth Scodel formuliert das Gesetz Zielinskis mit großer Vorsicht um: „The narrator tries to avoid placing, at least overtly, two foregrounded, dramatically developed actions at the same story time"32. Eine solche Vorsicht ist vernichtender als die schärfste Kritik. Denn somit könnten Emil Zola oder N. V. Gogol in die Kategorie „homeric narrator" geraten.
Gewiss kann man mit Nünlist behaupten, dass die von Zielinski geforderte Einhaltung der präzisen chronologischen Ponderation weder für Homer noch für die neuzeitlichen Dichter erfüllbar ist. Ein Beispiel: Evgenij, der Held von Puschkins „Ehernem Reiter", kommt am Abend nach Hause und macht Pläne für die Zukunft; danach wird die katastrophale Überschwemmung an der Neva geschildert; dann treffen wir plötzlich Evgenij auf einem „marmornen Tier". Zielinski würde wohl eine Lücke im zweiten Vorgang voraussetzen. Hätte aber der Dichter beschrieben, wie Evgenij von seiner Wohnung zum Neva-Kai läuft und auf den marmornen Löwen klettert, wäre die Wirkung der Überschwemmungsszene (einer der eindrucksvollsten Szenen in der russischen Literatur) geschwächt. Nicht anders bei Homer: Hektor trennt sich von Paris und geht fort, um Andromache zu sehen; er nimmt Abschied von seiner Familie; danach trifft er Paris beim Skäischen Tor wieder. Was machte Paris während der Abschieds-Szene? Freilich können wir diese Kluft leicht ausfüllen, meint Zielinski: Der Dichter habe hierfür einige Anspielungen proleptischen Charakters (6, 321; 363) gemacht. Immerhin sei hier eine Lücke in der Handlung vorhanden, welche der „unserem Gesetz" unterworfene Dichter nicht vermeiden könne33. Aber nach einer der hervor-
28 Nünlist 1998, 5.
29 Für die Fernverweise, die „die Sukzessivität der Handlung für einen Augenblick außer Kraft setzen" s. Reichel 1994, 57-8.
30 Trotz der Meinung von Nünlist 1998, 8 und Steinrück 1992, 13-14; vgl. Rengakos 1995, 30.
31 Nünlist 1998, 3; 7-8.
32 Scodel 2008, 111.
33 Zielinski 1896, 109: «Пока Гектор беседует с Андромахой, Парис надевает оружие и отправляется встречать своего брата у Скейских ворот. Здесь мы имеем, таким образом, два
ragendsten Szenen der Ilias (und der ganzen antiken Literatur) ist kaum zu erwarten, dass uns gezeigt wird, wie Paris sich ankleidet. 'Geschichtliche' Genauigkeit darf man also von der Dichtung gerade nicht verlangen.
Kürzere und für die Zwecke des Künstlers belanglosere Szenen können, wie gezeigt wurde, bei Homer die Haupthandlungslinie problemlos begleiten. Aber auch längere und gewichtigere Ereignisketten werden parallelisiert. Beispiele: 1. II. 10, 131-298 || 299-337. Wie von den alexandrinischen Kommentatoren bemerkt34, werden zur gleichen Zeit Odysseus und Diomedes aus dem Lager der Achäer und Dolon von der trojanischen Seite losgeschickt. Ansonsten würden sie nicht aufeinander stoßen. Freilich ist die in die Nacht nach der Presbeia hineingepresste, für das Sujet unwichtige Doloneia hinsichtlich der Autorschaft verdächtig. Aber die Frage nach der Behandlung der gleichzeitigen Ereignisse hat, wie oben bemerkt, mit der 'homerischen Frage' keine Berührungspunkte: Ob es nun „Homer" oder ein anderer Epiker war, der Il. 10 gedichtet hat, ist nicht von Belang: Sie dichteten nach denselben Prinzipien. 2. Od. 15, 217-300 || 301-494. Ein ähnlicher Fall: Der Erzähllogik zufolge müssen die Telemachos-Theoklimenes-Szene am messenischen Ufer und die Gespräche, die Odysseus bei Eumaios führt, am selben Abend stattfinden. Nur so ist es möglich, dass sich Vater und Sohn am nächsten Morgen begegnen. Etwa seit der Ankunft des Sohnes in Pylos verlaufen der Telemachos-Strang und der Odysseus-Strang synchron. 3. Od. 24, 1-204 || 22, 381-423, 501. Die zweite Nekyia liegt parallel zu den Ereignissen im Haus des Odysseus. Gewöhnlich begibt sich bei Homer die Seele in den Hades, wenn der Leib verbrannt ist. Aber die Freier sagen Agamemnon explizit, dass ihre Körper noch nicht begraben sind; sie bleiben im Megaron des Odysseus liegen (24, 186-187); das Begräbnis findet erst viel später (417) statt. Das bedeutet, dass die Hinrichtung der untreuen Diener, die Reinigung des Hauses und die Penelope-Szene in der faktischen Darstellung simultan zur Hades-Reise der Freier und den Gesprächen in der Unterwelt geschehen. Ob die zweite Nekyia ursprünglich eine isolierte Rhapsodie war, ist erneut nicht von Belang, da jeder Epiker, welcher dieses Lied gedichtet haben könnte, von der Gleichzeitigkeit der dargestellten Szenen mit den Szenen im Haus des Odysseus ausgehen musste. 4. Od. 13, 125-187 || 13, 187-214, 522. Die Phäaker setzen den schlafenden Odysseus aus und begeben sich zurück nach Scheria. Ihr Schiff, obwohl unwahrscheinlich schnell, hat den Weg nach Ithaka größtenteils in der Nacht zurückgelegt: Sie landeten, als der Morgenstern erschienen war (13, 93-95). Folglich musste auch der Rückweg etwa genauso viel Zeit in Anspruch nehmen35. Das Gespräch am Olymp, die Verwandlung des Schiffes in einen Fels durch Poseidon, die Opfer von Alkinoos und den phäakischen Ältesten folgen kettenweise aufeinander. Dann liest man, (185-187):
w; o'i |i£v p' suxovro noasiSdwvi avaKTi
5r||iou ®air|K«v ^Y^Tops; f|5s ^sSovrec,
Earaors; nspi ßw|ov. o 5' EYpsTo Sio; 'OSuaasüc;...
In der Mitte von Vers 187 springt der Dichter nach Ithaka und offensichtlich auch in der Zeit zurück. Die Ereignisse auf Scheria und Ithaka (und auf dem Peloponnes, wo sich zu
действия; рассказать оба поэт в силу нашего закона не может; поэтому он рассказывает лишь первое обстоятельство, а второе подготавливает настолько, что мы получаем возможность о нем догадаться».
34 Hierzu: Rengakos 1995, 6-7; 18; 1998, 56; 62-65; zum 2. Beispiel: Id. 2004, 281.
35 Die Vorstellung, dass Odysseus während der Ereignisse auf Scheria die ganze Zeit schläft (Tsagara-kis 2001, 364), ist demnach irrtümlich.
dieser Zeit Telemachos befindet) entfalten sich also in der tatsächlichen Darstellung räumlich und zeitlich nebeneinander.
Mithin steht fest, dass Zielinskis Gesetz der Kritik nicht standhalten kann: Die Handlungslücken können weginterpretiert und die gewählte Darstellungsordnung gerechtfertigt werden; Parallelszenen kommen dann vor, wenn es dem Epiker künstlerisch opportun erscheint36; die Handlung kann zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren und den gleichen zeitlichen Abschnitt erneut durchlaufen. Wenn Homer einfach nur ungern Gleichzeitiges zeigt, unterscheidet er sich mit dieser Präferenz nicht grundsätzlich von der Literatur der Neuzeit. Hat also Zielinski nichts entdeckt? Basiert die Überzeugung des Schülers von Wilhelm Wundt37, dass die Kunstpsychologie gesetzlich geordnet werden kann, auf trivialer Unaufmerksamkeit? Ist schließlich der homerische Umgang mit den zeitlich-räumlichen Parallelvorgängen „durchaus normal"? Das sollte man nicht ohne weiteres bejahen. Denn es lässt sich an der homerischen Erzählung in der Tat gelegentlich ein gewisser Mangel spüren, welcher bei den Modernen nicht zu bemerken ist. Auf dieses Defizit wird in der Sekundärliteratur hingewiesen, wo über die dürftige Gestaltung der Übergänge gesprochen wird38. Nur muss man sie genauer bestimmen. Zwar stellt Homer unproblematisch sowohl das Nach- als auch das Nebeneinander dar, verzichtet aber, selbst wo er dadurch das Verständnis wesentlich erleichtern oder gar ein Missverständnis vermeiden könnte, auf die explizitere Koordinierung der Vorgänge.
Das erste Beispiel, das Zielinski in seinem Sinne deutete, worauf Nünlist aufmerksam machte, bietet Il. 13, 185-205 u. 206-209. Im chaotischen Scharmützel um die Leiche des Imbrios, eines Verbündeten der Trojaner, wurde Amphimachos, der Enkel von Poseidon, durch einen Lanzenwurf Hektors getötet. Hektor will ihm nun den Helm vom Kopf reißen, wird aber von Aias zurückgedrängt. Die Leiche des Amphimachos tragen die Achäer weg vom Kampf; die beiden Aiantes bemächtigen sich auch des Körpers von Imbrios, wonach Oiliades ke^oXw^evo; 'A^i^áxoio dem toten Feind den Kopf abschlägt, ihn wie ein Ball wirft und er schließlich vor Hektors Füßen in den Staub fällt (205). Danach folgt:
Kai tote ropi Krjpi noasiSáwv ÉxoX«9r| uiwvoío TCaóvToc; ev aivfj 5r|ioTrjTi, ßrj 5' ÍÉvai napá te KXiaía; Kai vrja; 'Axaiwv ÓTpuvÉwv Aavaoú;, TpÚEaai 5e Kr|5Ea teuxev.
Laut Zielinski muss Kai tote 5^ (206) Poseidon in die Nähe der Zelte versetzten. Daran hat Nünlist zu beanstanden, dass der Dichter erst mit ß^ 5' ÍÉvai (208) darüber berichtet, dass Poseidon den Kampfplatz verlassen hat. Sollte der Gott bereits im Vers 206 zu den Zelten abziehen, dann „müsste Vers 208 vorzeitig aufgefasst werden und bliebe ein 'Verstoß' gegen das Sukzessionsgesetz"39. Doch dass Kai tote 5^ ... ¿xoXw0r| den Abgang Poseidons signalisiert, ist unwahrscheinlich. Besonders schwierig wird der Fall dadurch, dass hier in der Parallelhandlung (Poseidon-Strang) gleich zwei durch eine Kampfszene getrennte aufeinanderfolgende Vorgänge beschrieben sind: Offenbar wurde Poseidon zornig,
36 Das betrifft bspw. die Einzelkampfschilderungen, welchen das Gesamtbild des Kampfes vorausgeschickt wird: Latacz 1977, 78-82; Rengakos 1993, 32-33. Für die weiteren Beispiele der Synchronisierung s. Schadewaldt 1966, 97-98; Apthorp 1980, 2.
37 Biographisches hierzu: Gavrilov 2012, 29; Zielinski 2012, 69; 128.
38 S. bes. Seeck 1998, 143; vgl. Scodel 2008, 112 u. o. Anm. 30.
39 Nünlist 1998, 7 mit Anm. 12; vgl. Zielinski 1901, 424.
als sein Enkel fiel; er würde den Kampf aber nicht verlassen, bevor nicht geklärt wäre, ob die Rüstung und der Leichnam des Amphimachos gesichert und die Leiche des Imbrios als unmittelbare Rache für den Tod des Achäers geschändet wurde. Der Logik nach müsste also der Zorn des Gottes (206) parallel zum Tod des Amphimachos (187) liegen und der Abgang (208) auf die Enthauptung des toten Imbrios (205) folgen. Allerdings will Homer die Handlungsordnung mit einem expliziteren Koordinationshinweis nicht präzisieren, sondern sagt Kai tote 5^, um die beiden Stränge zu verknoten, und beschränkt sich auf sein übliches bloßes 5'(s), um die Handlung mit Poseidon auf das andere Theater hinüberzutragen, ungeachtet der Wahrnehmungsschwierigkeit, die er damit für seinen Rezipienten schafft und die Zielinski aufspürte: Es entsteht nämlich der falsche Eindruck, dass Poseidon die Kampfszene bis zum Ende beobachtet und erst danach über den Tod des Amphimachos in Wut gerät.
Die zweite derartige Episode aus demselben Gesang hat Nünlist bemerkt40: In 13, 650659 stirbt Harpalion infolge einer schrecklichen, durch den Pfeil des Meriones zugefügten Wunde; seine (nicht gewöhnliche) Wunde, sein Tod sowie die Abfahrt des Wagens mit seiner Leiche nach Troja, begleitet von den Mitkämpfern und dem Vater des Verstorbenen, werden geschildert. In den Versen 660-662 springt der Dichter zu Paris über, der nun mit seinem Schuss den Tod seines ehemaligen Gastgebers rächt:
Tou 5s ndpi; |d\a 9u|öv dnoKTa|£voio xoA.«9rp ^sivo; y®p o'i £r|v noXeaiv |£Ta nacpXaYÖvsaai-Tou ö ye xu0|£vo; npotsi xa^K^ps' oiaTÖv.
Paris hat, entgegen der Auffassung von Nünlist, nicht sofort nach der Verwundung Harpalions zum Bogen gegriffen. Zunächst musste er wohl nachsehen, was mit dem Verwundeten und mit seiner Leiche getan wird. Homer hat die erste (passive) Reaktion des Paris, seinen Schmerz und Zorn, mittels Tou 5s. dnoKTa^svoio xo\w0r| zusammengepresst und die zweite, auf das Abfahren des Wagens folgende (aktive) Reaktion durch Tou ö ye Xwö|£vo; unmittelbar daran angeknüpft, abermals ohne zu berücksichtigen, dass mithin das Ganze so aussieht, als ob der Zorn des Paris erst hervorbreche, nachdem er das Abfahren des traurigen Zuges bezeugt hat.
Der mangelhafte Koordinationsausdruck, m. a. W. das „äußerste Zurückhalten", welches Homer von den „normalen" Erzählern unterscheidet und seinen modernen Lesern die Lektüre manchmal erschwert41, fällt auch bei der Verzahnung längerer Parallelvorgänge auf. Das lässt sich u. a. anhand der oben bereits angeführten drei Beispiele von Od. 15, 24 und 13 veranschaulichen: 1. Zweifelsohne verlaufen die Telemachie und die eigentliche Odyssee synchron zueinander42. Aber ab wann? Der Dichter hat uns wenig geholfen, dieses 'Verzahnungsmoment zu erblicken. Mit 14, 439-440: ^ |Sv enma / e; AaKs5ai|ova 5tav eßr| |£Ta nai5' '05ua^o; wird die Schwierigkeit nicht aufgehoben. Wir müssen logischerweise annehmen, dass Athene ihren Liebling am ersten Tag, den Odysseus bei Eumaios verbrachte, beschützte, ihn, erst als er sich schlafen legte, verließ und sich zu seinem Sohn begab. Aber der falsche Eindruck, dass sie sich nach dem Gespräch mit Odysseus gleich nach Sparta
40 Ibid.; vgl. Scodel 2008, 122.
41 Mit vollem Recht spricht in diesem Zusammenhang Seeck 1998, 143 von einer „zeitlichen Doppeldeutigkeit".
42 Dadurch wird der lange Aufenthalt von Telemachos in Sparta verursacht: Apthorp 1980, 10.
aufmachte, wird durch nichts (auch nicht durch ensita) ausgeräumt. 2. Die zweite Nekyia liegt parallel zu den sonstigen Ereignissen des 22. und 23. Gesangs der Odyssee. Aber wann genau findet sie statt? Nach dem Abschluss des 23. Gesang sagt der Dichter rücksichtslos: ös tyuxaq KuXX|vioq e^EKaXdto / avöpwv |rvr|ffTr|pwv- (24, 1-2). Also spielt sich die Hades-Szene simultan zu der vorherigen langen Penelope-Szene ab? Und was geschah mit den Seelen der Freier gleich nach dem Tod? Hatte Hermes keine Zeit für sie? Oder ist der Dichter mit diesem ös etwas weiter in die Vergangenheit, zu den Ereignissen des 22. Gesangs zurückgekehrt? 3. Odysseus erwachte an der Küste von Ithaka etwa zur gleichen Zeit, als das Schiff der Phäaken zurück nach Scheria fuhr. Doch wenn nach der Massenszene der Opferung auf Scheria o ö' £"yp£to ötoq 'Oöuaasuq steht, so wird der Leser in Verlegenheit gebracht. Schlief vielleicht Odysseus länger oder fuhr das phäakische Schiff schneller, als zu vermuten ist? Die oppositive Partikel genügt abermals nicht, man braucht einen präziseren Hinweis.
Vielleicht ist das Epos bei der erzählerischen Gestaltung der Handlungsnähte per se wenig flexibel. Apollonios von Rhodos jedoch versteht es, obwohl er nach homerischem Muster schafft (und ihm in vielem nachsteht), die Zeitabfolge begreiflicher zu machen. Die Handlung der Argonautika ist wesentlich einheitlicher als die der homerischen Epen; Parallelvorgänge gibt es selten; sie sind nicht handlungsprägend43. Wenn der Dichter verschiedene Handlungsstränge darstellt und den Leser in Raum und Zeit zurückversetzt, findet er dafür bessere Hilfsmittel. Zwei Beispiele: 1. Nach dem Gespräch im Palast des Aietes kehren Jason und seine Begleiter zu ihrem Schiff zurück und besprechen, wie der Held den Auftrag des Königs erfüllen könnte; sie rudern dann das Schiff aus der sumpfigen Flussmündung heraus und vertäuen es an dem offenen Ufer. Anknüpfend steht aütiKa ö' Aqtr|i Oyop^v noqaato KoX^wv (3, 576); im Weiteren wird die Rede des Königs wiedergegeben. Hier bedeutet autiKa nichts anderes, als dass Aietes sofort nach dem Abgang Jasons den Rat der Kolcher einberufen hat44. 2. Medea begibt sich zu den Argonauten, sie und Jason stehlen das Vlies, tragen es auf das Schiff; das Schiff wird flussabwärts fortgerudert. Dann wechselt die Kulisse: ^ör| ö' Aqt| ünsp^vopi naai ts KoXxoiq / Mr|ödr|i nepinuatoq epwq Kai epy exETUKto (4, 212-213); die Kolcher machen sich bereit, die Flüchtigen zu verfolgen. Mit ^ör| wird ungefähr auf den Zeitpunkt zurückgegriffen, als das Vlies gestohlen wurde. Festzustellen ist, dass sich Apollonios mehr um den Synchronisierungsausdruck kümmert als Homer. Er wiederholt bspw. dreimal, dass das Schiff der Söhne von Phrixos kurz nach der Abfahrt unterging: Somit ist klar, dass die Argonauten sie unmittelbar vor der Ankunft nach Kolchis gerettet haben (2, 1189-1191; 3, 319-320; 340-343).
Bei Vergil wechseln die Stränge oft; dabei bringt er die Handlungskoordination präziser zum Ausdruck. Er macht es auch viel natürlicher als Apollonios, geschweige denn Homer. Die Koordinierung der Ereignisse wird am häufigsten durch einen Korrelativsatz verwirklicht, der die Vorgänge zeitlich und räumlich genau situiert. Z. B. geht der Dichter nach der Schilderung der Leichenspiele zu Ehren von Anchises zum Schiffsbrand über, den die tro-
43 Wie es bei Homer der Fall ist: Rengakos 2004, 296.
44 Vgl. Hunter 2002, 159 (mit Verweis auf Fusillo 1985, 2): „Aietes' assembly follows straight on from his dismissal of the embassy in 438. Three simultaneous actions are described: Medea's emotions (443-471), planning by the Argonauts (472-575) and Aietes' plans (576-608). Such complexity is quite un-Homeric". Rengakos 2004, 297 sieht hier sogar vier gleichzeitige Handlungen (inkl. die der Chalkiope: 3, 449-50; 609-615), die „sehr kunstvoll ineinander verstachelt werden". Homer ist (Hunter entgegen) durchaus fähig mehrere simultane Handlungen zu schildern. Was aber tatsächlich bei Apollonios „nicht Homerisch" anmutet, ist die Unzweideutigkeit der Parallelität: Die gleichzeitigen Vorgänge werden derart in die Erzählung eingesetzt, dass dem Leser ihre Gleichzeitigkeit offensichtlich ist.
janischen Frauen gestiftet haben, als die Wettbewerbe noch im vollen Gang waren. Homer würde sich hier wahrscheinlich mit einem ös-Satz begnügen. Bei Vergil aber heißt es Aen. 5, 605-606: dum variis tumulo referunt sollemnia ludis, / Irim de caelo misit Saturnia Iuno. Solche Stellen sind bei Vergil recht zahlreich: 1, 697-698: cum venit [sc. Cupido], aulaeis iam se regina superbis / aurea composuit sponda mediamque locavit; 4, 90-92: quam simul ac tali persensit peste teneri / cara Iovis coniunx nec famam obstare furori, / talibus adgreditur Venerem Saturnia dictis; 4, 553-555: tantos illa suo rumpebat pectore questus: / Aeneas celsa in puppi iam certus eundi / carpebat somnos; 7, 104-106: sed circum late volitans iam Fama per urbes / Ausonias tulerat, cum Laomedontia pubes / gramineo ripae religauit ab aggere classem; 7, 475-476: dum Turnus Rutulos animis audacibus implet, / Allecto in Teucros Stygiis se concitat alis; etc. etc. Dank der auf diese einfache Art und Weise explizierten Handlungsabstimmung verliert der Leser nie den Zusammenhang. Vergil gebraucht derartige Koordinationssätze selbst dann, wenn die Zeitabfolge ohnehin klar ist.
Homer hingegen bringt uns auch dann in Verlegenheit, wenn ein Hinweis vonnöten wäre, damit die Wahrnehmung des Textes nicht konfus bleibt. Warum wird der Erzähler seinem Publikum nicht helfen? Die sprachlichen Mittel fehlen ihm keineswegs45. Also muss nach der Antwort im Bereich der Poetik bzw. der Literaturgeschichte gesucht werden. M. E. setzen die präzisen Koordinierungen der Handlungsabfolge eine höhere Stufe der Literarizität bzw. Fiktionalität voraus, als für die homerische Erzählung denkbar ist. In einer Darstellung, die sich für dokumentalistisch erklärt (vgl. die Berichte von Demodokos über die trojanischen Ereignisse: Er erzählt sie als Zeuge, w; t£ nou ^ auto; napswv ^ aXXou aKouaa;: Od. 8, 491), darf keine Andeutung von Fiktion spürbar sein46. Mit einer expliziteren bspw. durch den Protasis-Apodosis-Satz geäußerten Handlungskoordination würde Homer die Aufmerksamkeit auf sich als Schöpfer lenken, der die Ereignisse willkürlich zusammennäht. Die kärgliche Gestaltung der Übergänge beweist, dass er sich seine Kompositionskunst nicht anmerken lassen will. Denn gerade an den Nähten werden die Literarizität des Erzählten, die Persönlichkeit des Erzählers, der Abstand zwischen ihm und seinem Publikum besonders sichtbar (man vergleiche Hes. OD 106: ei ö' ¿GeXeiq, stspöv toi e^w Xo^ov ¿KKopu^waw, oder 202: vvv ö' aivov ßaaiXsöaiv ep£w 9povsouai Kai autoT;)47.
45 Anders Belzner 1912, 24; Seeck 1998, 143 meint, Homer könne Gleichzeitiges nicht ausdrücken; „dies Lob gebührt schon dem Erfinder von Wörtern wie ,inzwischen' und ,während' ''. Was hinderte aber Homer, die Synchronisation der Stränge durch die Umstandswörter wie iqör|, npiv, autiKa, die er nicht zu erfinden braucht, oder mithilfe der korrelativen Verbindungssätzen eingeleitet bspw. durch w; („als" wie in wc; i'öov) oder r|oc;, ö^pa zu prägen? Seeck glaubt, ein solches Verfahren würde „einen ständig sichtbaren Konflikt mit dem Kontinuum des Erzählens mit sich bringen" (139). In Wirklichkeit ist bei Homer jedoch ein solches Kontinuum nicht vorhanden, sondern, wie schon Krischer, vor allem aber Rengakos richtig gezeigt hat, der Erzähler schaltet fortwährend zwischen den parallelen Vorgängen um, dessen Parallelität auch handlungsimmanent ist (vgl. Rengakos 2004, 296-297).
46 Hierzu: Hölscher 1988, 218. Gerade deswegen würde Homer, obwohl er sich die erzählten Ereignisse selbstverständlich als Vergangenheit denkt und es auch dem Publikum einige Male zu spüren gibt (s. bspw. de Jong 2001, 197), das bei den Märchenerzählern übliche „es war ein mal", wie Vivante 1985, 40 bemerkt, niemals aussprechen können. Vgl. auch die von Krischer 1971, 102, Anm. 5 zitierte Aussage des Germanisten Axel Olriks: „Wenn in den isländischen Geschichtswerken Sätze wie dieser vorkommen: ,jetzt gehen zwei Geschichten nebeneinander', dann ist die Stufe der Volkspoesie verlassen, es ist Literatur". Der beobachtete Mangel an der expliziten Handlungskoordination würde demnach bedeuten, dass sich die Ilias und die Odyssee ihrer Erzählweise nach etwa an der Schwelle zur Literatur befinden.
47 Vgl. West 1978, 178. Die npiv-Analepse in Theog. 711 kann als „Verstoß" gegen das Gesetz Zielinskis (West 1966, 349; dagegen Frazer 1981, 7-8; Rengakos 1995, 28) nicht aufgefasst werden, sondern stellt ein
Zielinski hat also tatsächlich ein bestimmtes Merkmal des homerischen Erzählstils entdeckt. Jedoch nicht das, welches er entdeckt zu haben glaubte. Denn eine solche Regel wie das „Incompatibilitäts" — bzw. Sukzessionsgesetz lässt sich aus den homerischen Gedichten nicht deduzieren. Der mangelhafte Ausdruck der Handlungskoordination deutet allerdings auf andere und wesentlichere Charakteristika der homerischen Erzählart hin. Vor allem scheint er einen Spezialfall jenes (absichtlichen?) Vertuschens des rhetorisch-literarischen Elements darzustellen, auf das Aristoteles lobend hinweist: Im Gegensatz zu den anderen redet der Musterdichter Homer „möglichst wenig in der eigenen Person" (s. Poet. 1460a5-11)48.
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Beispiel dar, wie problemlos die rhetorisch stark ausgeprägte Weisheitsdichtung mit der chronologischen Koordinierung umgeht.
48 De Jong 1987, 7: „Aristotle means the poet speaking personally, referring to himself in the first person". Scharfsinniger bei Schmitt 2008, 694: „Anders als wenn eine Figur der Erzählung (wie etwa Odysseus, der den Phäaken seine Leidensgeschichte erzählt) in Ich-Form redet, könne der in Ich-Form sprechende Autor den fiktionalen Charakter der von ihm erdichteten Erzählung verdecken".
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«ЗАКОН ХРОНОЛОГИЧЕСКОЙ НЕСОВМЕСТИМОСТИ» Ф. Ф. ЗЕЛИНСКОГО: КОЛУМБОВО ОТКРЫТИЕ
Михаил Михайлович Позднее
Закон хронологической несовместимости Ф. Ф. Зелинского в последние десятилетия подвергся пересмотру: германоязычные филологи (Г. Патцер, А. Ренгакос, Р. Нюнлист) доказали, что последовательность событий в гомеровском повествовании убедительно мотивирована, что одновременные события показываются рассказчиком как одновременные, наконец, что абсурдно требовать от поэта скрупулезной синхронизации действий. Вопреки Зелинскому, древний сочинитель способен вернуться назад и пройти заново тот же временной отрезок. Однако критики Зелинского напрасно объявляют Гомера в части изложения одновременных событий «совершенно обычным». Пусть «закона» не существует. Это не означает, что Зелинский ничего не открыл. Отмечалось (например, Г. А. Зееком), что Гомер не способен или не желает синхронизировать события с достаточной наглядностью, отчего возникает «временная двусмысленность». Если бы Гомер координировал действия при помощи соотносительных фраз (как делает Вергилий), или временных наречий (так у Аполлония Родосского и уже у Гесиода), не возникло бы и самого вопроса о хронологической (не) совместимости. Поэт располагает полным арсеналом языковых средств для точной пространственно-временной координации параллельных, равно как и последовательных действий. Применить его мешает (отмеченный Аристотелем) дефицит риторического элемента и в целом «литературности»: древний эпик подает свой рассказ как документальный и не хочет обращать внимание публики на сочинителя, обходящегося со временем так, как ему угодно.
Ключевые слова: Гомер, Зелинский, нарратология, закон хронологической несовместимости.
Received: 03.03.2016 Final version received: 08. 05. 2016