Вестник Московского университета. Сер. 22. Теория перевода. 2014. № 3
РЕЦЕНЗИИ В.А. Татаринов,
доктор филологических наук, президент Российского терминологического
общества (РоссТерм); e-mail: [email protected]
ТЕРМИН "NICHTWISSEN" КАК ОБЪЕКТ МЕЖКУЛЬТУРНОГО И МЕЖДИСЦИПЛИНАРНОГО ИССЛЕДОВАНИЯ
Рецензируемый сборник содержит статьи, анализирующие эволюцию и современное употребление одного из центральных терминов гносеологии Nichtwissen «незнание», интерес к которому не уменьшается с момента опубликования труда Николая Кузанского (1401—1464) "De docta ignorantia" (1440) («Об учёном незнании»). Рецензент сосредоточил внимание на стремлении авторов статей дифференцировать употребление термина Nichtwissen в разных европейских культурах и научных парадигмах, а также на возможностях более полного анализа понятия с привлечением методик межкультурного исследования. В рецензии высказаны предложения о дальнейших путях актуализации анализа рассмотренного понятия.
Viktor A. Tatarinov,
Dr. Sc. (Philology), President of Russian Terminology Society, Russia; e-mail: [email protected]
The Term "Nichtwissen" as Object of Intercultural and Interdisciplinary Investigation
Das rezensierte Buch ist als erster Band in der Buchserie Wissen — Kompetenz — Text erschienen1. Beide Titel (des Sammelbandes und der Serie) sind offensichtlich zukunftsträchtig und gnoseologisch aktuell, weil unter diesen Namen ambivalente und wissenschaftsrelevante Begriffe untersucht werden, die mit "unzureichendem" Wissen verbunden sind.
Die Thematik des Bandes reicht von den grundsätzlichen Klärungen der Begriffe "Nichtwissen" und "Nichtwissenskommunikation" durch die Untersuchung des Nichtwissens in verschiedenen Zweigen der Wissenschaft und Technik bis zu den ethischen Problemen des Nichtwissens und Stratifi-kation der Fachsprachen vom Standpunkt des Nichtwissens aus.
Im Vorwort findet der Leser einen tüchtigen und feinen Überblick über die Auslegungen der Autoren der Beiträge zu genannten Problemen. Mit Peter Janich behaupten die Herausgeber, dass es ein mehrschichtiges System des Nichtwissens gäbe; im Beitrag von Ingo H. Warnke werden traditionelle Topoi der Sprachwissenschaft unterstrichen: Funktionen der Sprache in Verbindung mit Wissen und Macht; Peter Wehling bringt das Problem der Entstehung der Nichtwissenskulturen auf den Begriff; Jan C. Schmidt
1 Rec. ad op.: Nichtwissenskommunikation in den Wissenschaften. Interdisziplinäre Zugänge / Hrsg. Janich, Nina, Nordmann, Alfred, Schebek, Liselotte. Frankfurt am Main etc.: Peter Lang, 2012. 341 s.
schreibt über den technologischen Umgang mit dem Nichtwissen, dass die Technik selbst eine Quelle des technogenen Nichtwissens sei; Hans Poser verbindet die Existenz des Nichtwissens mit der Technikentwicklung; Andreas Lösch, Matthias Groß, Alena Bleicher und Stefan Böschen befassen sich mit der Frage des Nichtwissens im soziologischen und politischen Kontext; Gerhard Gamm und Kevin C. Elliott runden die Diskussion zu Aspekten des Nichtwissens mit Besprechung der Unbestimmtheit des Wissens selbst und mit dem Plädoyer für den "verantwortungsbewussteren wissenschaftlichen Sprachgebrauch" ab.
Dank den ausführlichen Auslegungen der Herausgeber im Vorwort zum Band haben wir Möglichkeit mehr Aufmerksamkeit den kritischen Bemerkungen zu schenken.
In der Einleitung versuchen die Herausgeber die Wege der Untersuchung des Grundbegriffs des Sammelbandes anzuvisieren und formulieren: "Nichtwissen ist das, was die Wissenschaft noch nicht weiß, aber gerne wissen will und wofür noch die nötigen Forschungsgelder ausgegeben werden müssen" (S. 7). Es soll eine Definition per genus proximum et differentia spe-cifica kreiert werden, sonst epistemologisch gesehen, wurden diese Wege nicht am richtigen Ort gesucht und darum selbstverständlich nicht gefunden. Die angeführte Definition konnte für die Autoren nicht zur regulativen Idee werden. Der Leser sieht, dass die Herausgeber die Schwerpunkte der Artikel begründen und nicht umgekehrt — die Autoren des Sammelbandes sollen die Hauptidee des Buches diskutieren und den Grundbegriff entwickeln.
Man sollte eben mit dem Begriff "Nichtwissen" arbeiten und nicht mit den politischen, pragmatischen oder ökologischen Problemen der Menschheit, in dieser Serie auch vielleicht unter den Aspekten von Fachsprache, grob gesagt, wie wird der Begriff Nichtwissen versprachlicht und kommuniziert (unter diesen Aspekten werden auch die Sammelbände Kalverkämpers herausgegeben). Dazu ist der Begriff Nichtwissen zu einem allgemeinwissenschaftlichen Begriff geworden. Das heißt, dass er einen epistemologischen inhaltlichen Kern entwickelt hat, und damit sollte in der Untersuchung begonnen werden und nicht mit den peripheren Nebenbedeutungen pragmatischer Prägung. Der Untertitel "interdisziplinäre Zugänge" hilft leider nicht. Interdisziplinär bedeutet, wenn wir ein Objekt in einer Disziplin untersuchen, aber wir verwenden die Errungenschaften anderer Disziplinen. In diesem Fall wurde nicht die Grunddisziplin gewählt, sondern ein Begriff (Nichtwissen), wie er von verschiedenen Spezialisten ausgeführt wird. Das ist meines Erachtens kein interdisziplinäres Herangehen. Ich als Linguist lese zwar, was die Techniker über die Sprache meinen, diese Meinungen sind für meine Ziele aber meistens nicht zu gebrauchen. Um ein adäquates Fazit ziehen zu können, muss man den entsprechenden Begriffsapparat (in diesem Falle z.B. den Begriffsapparat der Fachsprachenforschung oder den der Epistemologie) beherrschen, sonst sollten wir über interdisziplinäre Studien nicht sprechen.
Dann ist das "Nichtwissen" kein "Nicht-Wissen" oder "non-knowledge". Das bedeutet, dass "Nichtwissen" ist nicht das, was wir noch nicht wissen,
sondern eine Art Wissen, beispielsweise ein transzendentales Wissen, d.h. Wissen, das wir beherrschen, aber nicht imstande sind, es sich zu vergegenwärtigen oder zu interpretieren. Wenn wir über die negativen Resultate unserer Tätigkeit sprechen, so ist das eine triviale Situation mit den unausgebildeten Leuten. Das ist Nichtwissen in alltäglicher Bedeutung und Gebrauch. Besonders gefährlich in dieser Relation sind die Sentenzen von großen Leuten: "Nichtwissen [ist] gleichsam die andere Seite des Wissens" (S. 94). Es liegt nahe, das es sich um eine irreführende Aussage handelt, weil sie wissenschaftlich nicht fundiert ist. Das betrifft auch den Gebrauch einzelner Wörter im wissenschaftlichen Diskurs. Wenn der Philosoph die Geschichte der Philosophie kennt, gebraucht er den Terminus Weisgerbers in der Form inhaltbezogen, und nicht ^inhaltsbezogen (S. 96).
Dazu ist das Wissen ein axiomatischer Begriff, das Nichtwissen ist seit Nicolaus Cusanus ("De docta ignoratia") ein philosophischer Begriff. Leider wird Cusanus im Sammelband überhaupt nicht erwähnt. Im englischsprachigen Raum wird gerade die Tradition gepflegt, die auf Cusanus zurückzuführen ist. Mehr noch, "Nichtwissen" gehört zu einer anderen Kategorienreihe. Es ist kein Antonym des Wortes "Wissen". Über die Transtendenz habe ich bereits Aussagen getroffen. Der gebildete Mensch "speichert" diese Begriffe in verschiedenen mentalen Sphären, weil dieser Prozess nur für die Laien den Fällen gut — nicht gut (Antonyme!) gleich ist; ein wissenschaftlicher Quasi-Weg ist es, "von der Morphologie des Wortes Nichtwissen auszugehen und von hier auf die Negation des Wissens im Nicht-Wissen hinzuweisen" (S. 52). Die Antonymie in der Wissenschaft ist ein stark verzweigtes und mehrschichtig hierarchisiertes System und hat manchmal nichts mit der allgemeinsprachlichen Antonymie zu tun.
Zweifelhaft sind die Ausführungen der Autoren zu negativer Modalität, negativen Charakteristika und Kategorien. Ständig werden z.B. die unglücklichen Metaphern in Wissenschaft und Technik erwähnt (seit langem aber ist es bewiesen, dass eine Metapher eine starke heuristische Funktion in der Wissenschaft erfüllt); die Ambivalenz der Sprache in der Wissenschaft wird kritisiert (aber nur dank der Ambivalenz erweitert sich der wissenschaftliche Begriff und wächst sein Inhalt).
Die Autoren versuchen den wissenschaftlichen Inhalt des "Nichtwissens" durch die allgemein gebräuchlichen Bedeutungen des Wortes zu deuten. Das ist jedoch eine verbotene Technik in der Logik. Durch die Synonyme (vgl. S. 52—53) ist es unmöglich, die wissenschaftlichen Inhalte aufzudecken. Im wissenschaftlichen Diskurs gibt es Synonyme, sie bilden aber nicht analoge, sondern eigenartige Synonymreihen, um spezifische Aspekte der Begriffe zu unterstreichen. Um die synonymischen Beziehungen des Terminus "Nichtwissen" festzustellen, sollten die philosophischen Texte untersucht werden und nicht die erklärenden Wörterbücher der deutschen Sprache.
Mit Ungeduld werden wir den nächsten Band in der Reihe erwarten. Hoffentlich verfolgt dieser eine klare regulative Idee und wieder eine diskutable Folie.