„SIBIRISCHE MÖGLICHKEITEN": ZUR DEUTSCHEN DOSTOEVSKIJ-REZEPTION
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© 2018. N. Kopcha
Russische Staatliche Universitätfür Geisteswissenschaften, Moskau, Russland Eingangsdatum: 23.01.2018 Veröffentlichungsdatum: 25.09.2018
DOI: 10.22455/2500-4247-2018-3-3-82-93
Inhaltsangabe: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden Fedor Dostoevskij und seine Sicht auf das russische Volk, das Westlertum und die Revolution große Aufmerksamkeit in Deutschland. Mit erster deutschen Gesamtausgabe (1906-1919) wurde unter der Herausgeberschaft von Arthur Moeller van den Bruck ein neuer politisch orientierter Rezeptionsmodus etabliert. In der Forschung ist Moeller mit seinem Hauptwerk „Das Dritte Reich" als Verkünder der Konservativen Revolution bekannt, aber bereits seine Einleitungen zu Dostoevskij können als erster Programmentwurf dieser Bewegung gelten. In den Einleitungen Moellers wird Dostoevskij zu einem Gewährsmann der neuen deutschen Rechten, deren Denkweise später als „Konservative Revolution" definiert wurde. Im vorliegenden Artikel geht es darum, wie Sibirien von Moeller im neukonservativen Kontext wahrgenommen wurde. Die Autorin kommt zum Ergebnis, dass Sibirien in diesen Vorworten in verschiedenen Kategorien dargestellt wird: erstens als Ort, wo Dostoevskij seine Weltanschauung geändert und das „wahre" russische Volk begriff; zweitens als Territorium, wo eine besondere Formation des russischen Volkes entstand, die durch die revolutionären nicht „aus Doktrin", sondern „aus Instinkt" kommenden Stimmungen bezeichnet wird, drittens als Raum, in dem es die Möglichkeiten für die gemeinsame deutsch-russische, dem westeuropäischen Rationalismus gegenüberstehende Zukunft gebe. So setzt Moeller van den Bruck den mehrseitigen politischen Mythos, der nicht nur das Wesen Sibiriens betrifft, sondern auch das Schicksal Deutschlands.
Schlüsselwörter: Sibirien, Dostoevskij, Konservative Revolution, Arthur Moeller van den Bruck, Volk, Nihilismus.
Information zum Autorin: Nataliya Kopcha ist Promovierende im Internationalen
Graduiertenkolleg 1956 „Kulturtransfer und ,kulturelle Identität' — Deutsch-russische Kontakte im europäischen Kontext" (RGGU Moskau, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg), Sprachassistentin am Thomas Mann Lehrstuhl (RGGU Moskau), Miusskaja pl., 6, 125993 Moskau, Russische Föderation.
E-mail: [email protected]
Zum Zitieren: Kopcha N. „Sibirische Möglichkeiten": zur deutschen Dostoevskij-Rezeption. In: Studia Litterarum. 2018. Bd. 3, № 3. C. 82-93. DOI: 10.22455/2500-4247-2018-3-3-82-93
RECEPTION OF DOSTOEVSKY
SIBERIAN POSSIBILITIES": GERMAN
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© 2018. N.A. Kopcha
Russian State University for the Humanities,
Moscow, Russia
Received: January 23, 2018
Date of publication: September 25, 2018
Abstract: At the beginning of the 20th century, in Germany that was going through a period of cultural pessimism and crisis of conservative values, a new political dimension eloped in the German reception of Dostoyevsky. Arthur Moeller van den Bruck, essayist and future ideologist of Conservative revolution, the author of the book Third Reich developed such approach. From 1906 through 1919, he published the first complete works of the Russian writer in German that influenced further adaptation of Dostoyevsky. The aim of this article is to analyze the perception of Siberia in the prefaces written by Moeller with no other purpose but to declare new conservative views. The analyzed sources are devoted to a subject of Siberia which is considered by Moeller in different political and socio-philosophical categories. The author comes to a conclusion that Moeller sees Siberia (1) as a place where Dostoyevsky had changed his views and had discovered the "true" Russian people; (2) as a territory whose population had revolutionary moods coming not "from the doctrine" but "from the instinct"; (3) as a place with opportunities for German-Russian future union capable to overcome Western rationalism. Thus Moeller enters the multilateral political myth concerning not only the essence Siberia of but also the future of Germany.
Keywords: Siberia, Dostoevsky, Conservative revolution, Arthur Moeller van den Bruck, the people, nihilism.
Information about the author: Nataliya A. Kopcha, PhD student, Russian State University for the Humanities, Miusskaya 6, 125993 Moscow, Russia.
E-mail: [email protected]
For citation: Kopcha N.A. "Siberian Possibilities": German Reception of Dostoevsky. Studia Litterarum, 2018, vol. 3, no 3, pp. 82-93. (In German) DOI: 10.22455/2500-4247-2018-3-3-82-93
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© 2018 г. Н.А. Копча
Российский государственный гуманитарный
университет,
Москва, Россия
Дата поступления статьи: 23 января 2018 г. Дата публикации: 25 сентября 2018 г. DOI: 10.22455/2500-4247-2018-3-3-82-93
Аннотация: В начале ХХ в. в Германии, переживающей период культурного пессимизма и кризиса консерватизма, в немецкой рецепции Ф.М. Достоевского развивается новый модус — политический. Такой подход осуществил публицист, будущий идеолог Консервативной революции и автор книги «Третий Рейх» Артур Меллер ван ден Брук. С 1906 по 1919 гг. он издает первое полное собрание сочинений русского писателя на немецком языке, повлиявшее на дальнейшую адаптацию Достоевского в Германии. В данной статье ставится проблема восприятия Сибири в предисловиях, написанных Меллером с целью заявить о неоконсервативных взглядах. Анализируемые источники посвящены теме Сибири, которая рассматривается Меллером в разных политических и социофилософских категориях. Автор приходит к выводу, что в этих предисловиях Сибирь, во-первых, представлена как место, где Достоевский поменял свои взгляды и познал «истинный» русский народ; во-вторых, как территория, где зародилась особая формация русского народа с революционными настроениями, идущими не «из доктрины», а «из инстинкта»; в-третьих, как пространство, где есть возможности для германо-русского будущего, способного преодолеть западный рационализм. Таким образом, Меллер вводит многосторонний политический миф, касающийся не только сущности Сибири, но и будущего Германии.
Ключевые слова: Сибирь, Достоевский, консервативная революция, Артур Меллер ван ден Брук, народ, нигилизм.
Информация об авторе: Наталия Александровна Копча — аспирант международной аспирантуры «Культурный трансфер и "культурная" идентичность -Немецко-русские контакты в европейском контексте» (РГГУ — Фрайбург), ассистент кафедры Германской филологии, Российский Государственный Гуманитарный Университет, Миусская пл., д. 6, 125993 г. Москва, Россия.
E-mail: [email protected]
Для цитирования: Копча Н.А. «Sibirische Möglichkeiten»: zur deutschen Dostoevskij-Rezeption (О непознанных возможностях Сибири: к вопросу о немецкой рецепции Достоевского) // Studia Litterarum. 2018. Т. 3, № 3. С. 82-93. DOI: 10.22455/2500-4247-2018-3-3-82-93
Was ist Sibirien für Deutschland? Man verbindet es vorerst mit dem Ausdruck „Sibiriendeutsche", die sich im Gesicht der Handwerker, Händler oder Soldaten im 18. und 19. Jahrhundert dort freiwillig ansiedelten. Oder Sibirien ist auch als russischer Verbannungsort bekannt, wohin die Verbrecher und politisch Missliebige verschickt wurden. In diesem Zusammenhang erinnert man sich an Fedor Dostoevskij, der nach der Umwandlung der Strafe zum Militärdienst nach Sibirien eingezogen wurde und der dort seine Weltanschauung geändert hatte. Seine Erlebnisse beschrieb er in seinen wichtigsten Werken. Diese Themen werden in der geisteswissenschaftlichen Forschung gut untersucht, aber es gibt noch Fragen und Problemen, die wenig behandelt werden. Es geht zum Beispiel darum, wie Sibirien von deutschen Neukonservativen vor dem Ersten Weltkrieg und danach wahrgenommen wurde. Es war für sie ein Ort, der sich vom pragmatischen Westen stark unterschied und das bestimmte Potenzial hatte. Im Folgenden wird gezeigt, wie der deutsche Publizist Arthur Moeller van den Bruck Sibirien in Bezug auf Dostoevskij, das russische Volk und die deutsche Zukunft betrachtete.
Zwischen 1906 und 1919 erschien die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostoevskijs im Piper-Verlag, die bereits mit dem ersten Band eine große Wirkung auf den deutschen Intellektuellen wie Thomas Mann, Otto Julius Bierbaum, Hermann Bahr und Stefan Zweig ausgeübt hatte. Der Herausgeber wurde der junge deutsche Publizist Arthur Moeller van den Bruck, der die Idee dieses Großprojekts einem neuen Verlag vorgeschlagen hatte. Der angehende Verleger Reinhard Piper betrachtete Moeller als einen aussichtsreichen, bereits auf dem Buchmarkt etablierten Autor, der Dostoevskij mit seinen eigenen begleitenden Einleitungen herausgeben könnte. Zum Projekt war auch Dmitrij Merezkovskij herangezogen, deren damals bereits bekannter Name zum größeren Erfolg beitragen konnte.
Mit erster deutscher Gesamtausgabe unter Herausgeberschaft von Moeller wurde ein neuer politischer Rezeptionsmodus etabliert, der vorerst den Schriftsteller als politischen und kulturphilosophischen Denker in den Mittelpunkt des Dostoevskij-Bildes setzt. In von 1906 bis 1922 von Moeller verfassten Einleitungen wird Dostoevskij zu einem Gewährsmann der neuen deutschen Rechten, deren Denkweise später als Konservative Revolution [7] von Armin Mohler definiert wurde. Moeller transformiert in seinen Texten dostoevskisches Denken, um es für sein Eigenes nutzbar zu machen. In der Forschung ist Moeller für sein Hauptwerk „Das Dritte Reich" [5] als Proklamation der deutschen Konservativen Revolution bekannt, aber bereits seine Einleitungen zu Dostoevskij können als erster Programmentwurf dieser Bewegung gelten.
Es ist über den Forschungsstand zu berichten. Zunächst sollte das Buch Christoph Garstkas „Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906-1919. Eine Bestandsaufnahme sämtlicher Vorbemerkungen und Einführungen von Arthur Moeller van den Bruck und Dmitrij S. Mereschkowskij unter Nutzung unveröffentlichter Briefe der Übersetzerin E.K. Rahsin" (1998) [1] genannt werden. Der Autor konzentriert sich auf das Editionsprinzip Moellers im Piper-Verlag und gibt einen faktisch-deskriptiven Überblick über die erste Dostoevskij-Gesamtausgabe mit vielen Hinweisen auf die chronologischen Aspekte, ohne konkrete Quellenanalyse zu geben.
2010 hat Andre Schlüter das Buch unter dem Titel „Moeller van den Bruck: Leben und Werk" [8] veröffentlicht. Der Autor untersucht den Weg Moel-lers von dem Literaturkritiker bis zum geistigen Führer der Konservativen Revolution. Das Moeller-Thema in Bezug auf Dostoevskij wird in Kapiteln „Arbeit an Dostojewkij" und „Dostojewskij als Politiker" beleuchtet. Schlüter betrachtet die Frage nach Dostoevskij-Rezeption und gibt eine kurze Analyse zu allen von Moeller verfassten Einleitungen. In seinem Überblick ist das Thema des russischen „prinzipiell rückständigen" [8, S. 180] Volkes, das in Texten Moellers zu finden sei, markant dargestellt. Der Autor analysiert die Quellen nach den konkreten Aspekten, dabei spielt die Frage des russischen Volkes als Gegensatz zum deutschen Volk eine zentrale Rolle. Da Sibirien keine Hauptfrage für Schlüter ist, steht es nicht im Mittelpunkt in Bezug auf die Vorworte. So erwähnt der Forscher zum Beispiel das Thema des Sibiriens nicht, wenn er über die erste zu „Dämonen" aufgestellte Einleitung schreibt, weil Schlüter anderes Forschungsziel verfolgt.
Für den vorliegenden Artikel werden nicht alle, sondern nur die Einleitungen ausgewählt, in denen Sibirien implizit oder explizit, direkt oder indirekt bei Moeller repräsentiert wird. Am Beispiel der chronologischen Quellendarstellung sollte gezeigt werden, dass Moeller Sibirien als Thema nie aus den Augen verliert, sondern es im Laufe der Zeit nur vertieft. Für Moeller ist es der Ort, der für Dostoevskij ein Wendepunkt und eine Entdeckung war. Aber noch wichtiger ist, dass Sibirien noch Möglichkeiten hatte, aus denen Moeller seinen eigenen politischen Mythos konstruieren konnte. Es geht beispielsweise um den echten in Sibirien geborenen russischen Nihilismus, was in der Forschung noch wenig untersucht und zum Beispiel bei Schlüter nicht zu finden ist.
Moeller schreibt nicht als Kulturkritiker und nicht als Historiker, sondern als Vordenker einer Bestätigungsgemeinschaft, die wegen innen- und außenpolitischer Ereignisse in Deutschland vor dem Krieg vorbereitet und nach dem Krieg etabliert wurde. Es geht ihm nicht um die Reflexion an historische Stimmigkeit und Konsequenz, sondern um die Formulierung eingängiger Narrative, die der Selbstvergewisserung einer ideologischen Zustimmungsgemeinschaft dienen können. Für die Vermittlung solcher besonderen Orientierung wird das sinnstiftende Narrativ mit politisch-mythologischem Charakter erheischt. Dieses Ur-sprungsnarrativ ermöglicht, die Konstruktion eines Volkes und Volkscharakters zu klären, die vermeintliche historische Mission eines Volkes oder einer Nation zu erläutern. Sibirien als besonderer Ort wurde ein der wichtigen Themen in diesen Einleitungen.
Sibirien wird von Moeller regelmäßig erwähnt. Es sind zwei Schwerpunkte auszuzeichnen. Erstens geht es um die konventionelle Vorstellung über die Wirkung, die Sibirien auf Dostoevskij und seinen weiteren Werdegang ausgeübt hat. Zweitens spielt Sibirien für Moeller die Rolle des Raums, wo sich ein großes Potenzial im geschichtlichen Kontinuum verwirklicht. Im Folgenden werden die beiden Aspekte am Beispiel der Quellenanalyse betrachtet.
Bereits in der ersten Einleitung „Bemerkungen über Dostojewski" [2] (1906) zu „Dämonen" schreibt Moeller über Bedeutung Sibiriens für Dostoevskij. Er möchte den Roman nicht aus einer literarischen Perspektive beleuchten, sondern er versucht die russische Dichtung, bzw. das Werk Dostoevskijs als neues Phänomen in der Weltkultur und das russische Wesen zu begreifen. „Die russische Dichtung ist die Dichtung eines jungen Volkes" [2, S. VII], — so beginnt Moeller seine erste Einleitung zur Dostoevskij-Ausgabe. Diese These ist wichtig,
weil sie drei Aspekte enthält, die später zur Grundbasis der Ideologie Moellers werden. Diese sind Russlandbild, Dichtung (damit ist immer Dostoevskij gemeint) und das „junge" Volk. Der letzte Aspekt wird nach dem Ersten Weltkrieg zum wichtigsten Teil der von Moeller proklamierten Konservativen Revolution. In den nächsten Einleitungen verwendet er dieser Topos für die Betrachtung des sibirischen Potenzials, was weiterhin zu beobachten ist. Im ersten Text handelt es sich noch um Sibirien als geistigen Perspektivewechsel bei Dostoevskij, nachdem „sein Leben das russischste aller russischen Leben, ein politisches Leben, gewesen" war [2, S. XV]. Das Motiv des sibirischen Wendepunkts wiederholt sich in allen Einleitungen, in den Moeller über die Biographie Dostoevskijs schreibt. So ist das sibirische Thema hier ein Ausganspunkt, aus dem Moeller ein Dostoevs-kij-Bild und einen politischen Mythos über Zukunft konstruiert.
Der nächste Schwerpunkt ist Sibirien an sich. Das ist in den Einleitungen „Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten" [4] (1906) und „Bemerkungen über russische Mystik" [3] (1907) zu beobachten. An dieser Stelle spielt der oben erwähnte Topos „junges Volk" die zentrale Rolle.
Das Hauptthema der „Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten" ist die Zukunft Sibirien, wo sich ein neues Volk und seine geschichtliche Sendung herausbilden:
Und gar in die Zukunft können wir schauen, in das Wachstum eines Volkes, von dem heute kaum mehr vorhanden ist, als die anthropologischen Bestandteile, wenn wir Dostojewskis „Aufzeichnungen" aus seiner sibirischen Zeit unter dem Gesichtswinkel lesen, daß auch Sibirien einmal eine Kultur haben wird, und daß das Volk, das sie zu schaffen berufen ist, nicht nur die Russen sein werden, und erst recht nicht die Nachkommen der verschiedenen Turan-, Altai- und Mongoloid-völker, Sibiriens Urbevölkerung, von Tschuden, Tungusen und Jakuten, sondern auch hier wieder die sich entwicklungsgeschichtlich ergebende Rassenmischung, das dereinstige Volk der Sibiren [4, S. IX].
Sibirien wird hier als ein Ort „des Lebens und der Zukunft" [4, S. XII] mit seiner eigenen Landschaft betrachtet, wo sich das neue Volk mit der Dominanz des slawischen Rassenhaften verkörpert, die „unzerstörbar im Völkerleben" [4, S. X] seien.
Von den Gestalten „Aus einem Totenhaus" ausgehend, vertritt Moeller die These, dass nur die starken und tätigeren Persönlichkeiten aller sozialen Schichte
freiwillig nach Sibirien kommen, während die „gefügigeren" und „untätigeren" in Russland bleiben. Er richtet sich nach der Rassentheorie, wenn er über die „Gesetze der Auslese und die größere Erhaltung der stärkeren Rasse" [4, S. XII] spricht, und Sibirien sei die allerbeste Landschaft dafür. In der Hinsicht, dass es „ja doch das allerbegabteste, allerstärkste Volk" [4, S. XII] im russischen Volk sei, stimmt Moeller Dostoevskij zu, aber er möchte dostoevskische Verzweiflung, die im Titel des Werks gegeben wird, entgegenhalten, denn er sieht in Sibirien die Zukunft des „jungen", freien und schöpferischen Volks mit eigenen herausgearbeiteten Eigenschaften.
Der letzte Teil der Einleitung wird Dostevskij gewidmet. Moeller ist der Meinung, dass der russische Schriftsteller nicht richtig von der panslawischen Aussicht und in Bezug auf Sibirien über die Russen spricht, obwohl er bereits die „frischen seelischen Neuwerte" [4, S. XV] dort beobachtet. Für Moeller sei Dostoevskij ein Prophet, der „ein erstes anthropologisches und psychologisches Dokument für Sibirien" [Ebd.] geschaffen habe, aber noch „kein sibirisches Programmbuch" [Ebd.] — Moeller van den Bruck scheint sich selbst für diese Rolle vorzusehen.
Es lässt sich noch die neue sibirische Bevölkerung verdeutlichen. Unter dem „neuen" Volk versteht Moeller die Verknüpfung des „Besten" Russlands und Sibiriens: Aus Russland werden die von Dostoevskij deklarierten Psychologismus und Religion genommen, Sibirien gebe „Pionierhaftigkeit" [4, S. XIV], die aus Werk, Arbeit und Kultur summiert wird. Moeller ist hier kein Rezipient des Werks Dostoevskijs, sondern ein Schöpfer eines Mythos: Es wird ein neues, noch nicht existierendes Volksbild ausgearbeitet.
In diesem Zusammenhang wichtig die von Moeller untersuchten Typen des Russentums zu erwähnen, die in der Einleitung „Bemerkungen über russische Mystik" zum Roman „Der Idiot" dargestellt werden. Für ein „leidendens" Russentum seien das Christliche, die Geduld und Demut charakteristisch; ein „tätiges" Russentums schaffe „die eigentlich russischen Werte" und wird das „Germanisch-Sibirische" genannt [3, S. XVII]. Daraus ergibt sich, dass Moeller seine Aussicht entwickelt: Wenn früher hat er in Sibirien „eine große slawische Zukunft" [4, S. XV] gesehen hatte, dann orientiert er sich nun an den „sibirischen Möglichkeiten", an der germanisch-sibirischen Zukunft, die jedoch mit der russischen Religiosität verbunden wird. Das ist eine weitere Stufe in der Mythosbildung.
In dieser Zuwendung Moellers an Sibirien und in seinem Versuch diesen Ort den Germanen, bzw. Deutschen anzupassen ist das Interesse des frühen 20. Jahrhunderts zu erkennen, die an dem Osten orientiert wurde. Im Osten fand man in dieser Zeit eine Opposition zum westlichen Rationalismus. Für Moeller wird Russland auch stark vom Westen beeinflusst, aber in Sibirien entdeckt er etwas Neues und noch Unbekanntes, Naturhaftes und Ursprüngliches. Moeller hat dieses kulturphilosophische Interesse in das geopolitische gerichtet.
Wenn die Einleitungen Moellers vor dem Ersten Weltkrieg mehr kulturphilosophisch waren, werden sie nach stark 1918 politisiert, was den historischen Ereignissen entsprach. Moeller interessiert sich immer noch für Sibirien, aber aus einer neuen Perspektive. Er proklamiert keine germanisch-sibirische Zukunft mehr, sondern versucht er die Ursache der Russischen Revolution zu finden. Er untersucht in diesem Zusammenhang die Geschichte des russischen Nihilismus.
In der Einleitung „Der Nihilismus und die Revolution" [6] (1922) unterscheidet Moeller zwei Typen des russischen Nihilismus. Der erste Typ ist der politische Nihilismus, der durch den westeuropäischen Frühsozialismus beeinflusst war. Die Vertreter solcher Denkweise waren laut Moeller die Petraschewzen und später Narodmiki, die die Revolutionäre „aus Doktrin" [6, S. XV] waren.
Der zweite Typ des Nihilismus sei der „volksreligiöse" Nihilismus. Moeller verknüpft diesen Nihilismus immer mit dem russischen Volk und „religiös" versteht er als „rechtgläubig". Es ist darauf hinzuweisen, dass das Volk für Moeller mit den sibirischen Bewohnern assoziiert wird, die Dostoevskij während seiner Verbannung erfassen hat. Einerseits spricht er darüber durch Dostoevskij-Re-zeption, andererseits hat er seine eigene Meinung, als er über den Nihilismus spricht. Mit dem Thema des Raskols beginnt er seine Einleitung „Der Nihilismus und die Revolution". Raskolniki werden als die ersten Nihilisten bezeichnet, weil sie die neuen Reformen der russischen Kirche verneint haben, um „rechtgläubig [zu] bleiben" [6, S. VII]. Auf diesem religiös geprägten Eindruck aufbauend wartete das russische Volk seit dieser Zeit auf den Antichrist und die kommende Apokalypse. Laut Moeller war das die erste nihilistische Welle, die die ersten Nihilisten nach Sibirien gebracht hat, wo im Zuge der Zeit unterschiedliche religiöse sektiererische Gruppierungen, wie die Stundisten, die Molokanen und die Duchoborzen entstanden, die den „pietistisch-tugendhaften" [6, S. X] Nihilismus entwickelt haben und womit „die nihilistische Zersetzung des russischen Volkes" begonnen hat. Hierbei hebt Moeller hervor, dass die Grundlage des russischen
Volksnihlismus immer religiös sei und dass der Name Raskolnikov nicht die Herkunft bedeute, sondern die Einstellung.
Die zweite nihilistische Welle, die das sibirische Volk herausgebildet hat, verbreitete sich, so Moeller, nach den Reformen Peters des Großen, in dem man den Antichrist sah. Das waren alle, die mit den auf dem Westen orientierten Reformen unzufrieden waren und dafür verbannt wurden. Gemeinsam mit den Altgläubigen, Barfüßern, Verbrechern, Mördern, Räubern und Dieben wurden sie in Sibirien „Brüder von Gesindel, doch Brüder in Freiheit" [6, S. VII].
Moeller ist noch der Meinung, dass das russische Volk eine „schwere Ursprünglichkeit einer besonderen russischen Natur" [6, S. IX], eine Doppelnatur hat, die zweite Seite von derer Dostoevskij in Sibirien gesehen hat. An dieser Stelle wendet sich Moeller in Bezug auf das Wesen des russischen Volkes zu Dostoevskij wieder und zur Widersprüchlichkeit der Russen („Unberechenbarkeit in seinen Trieben", „Widersprüche seiner Leidenschaften", „Heftigkeit von Zuneigung oder Abneigung") an. Auf einer Seite sind das die Menschen „voll von der eigenen Echtheit" und „der autochthoner Kraft", auf anderer Seite haben sie die Eigenschaften, sowie „Gier", „Fleischlichkeit", „Selbstbeschwörung", „Maßlosigkeit" [5, S. IX-X]. Das ist das von Moeller interpretierte Volksbild, das er angeblich bei Dostoevskij findet, aber das ist eine Neudeutung, denn man beobachtet bei Dostoevskij solches Bild nicht. Es handelt sich um die Umdeutung und Transformation, weil Moeller auf diese Weise den Widerspruch in Dostoevskij selbst und sein Verhältnis zum Volk darstellen will, um seinen „revolutionären Konservatismus" zu bestimmen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Sibirien im ersten Viertel des 20. Jahrhundert für die deutsche neukonservative Bewegung eine bedeutsame Rolle spielte. Für Arthur Moeller van den Bruck, den Ideologen der Konservativen Revolution war Sibirien ein besonderer Ort mit dem vielsagenden Potenzial, das er vor allem im Werk Dostoevskijs gefunden hat. Auf einer Seite wurde in Sibirien laut Moeller eine kräftige besondere Volkbildung mit den revolutionären Trieben geboren und entwickelt, das dem westlichen Rationalismus wiederstehen konnte. Auf anderer Seite hat Sibirien wegen seiner Echtheit die Möglichkeit, um die germanisch-sibirische Zukunft zu schaffen. Es geht nur um einen gewissen der politischen Mythen über die Zukunft Deutschlands, die Moeller in seinen zahlreichen neukonservativen Aufsätzen konstruierte.
Список литературы
1 Garstka Ch. Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906-1919: Eine Bestandsaufnahme sämtlicher Vorbemerkungen und Einführungen von Arthur Moeller van den Bruck und Dmitrij S. Mereschkowskij unter Nutzung unveröffentlichter Briefe der Übersetzerin E.K. Rahsin. Frankfurt am Main, Berlin, Bern 1998. XIII, 168 S.
2 Moeller van den Bruck A. Bemerkungen über Dostojewski // F.M. Dostojewski: Die Dämonen. Sämtliche Werke, Erste Abteilung : Fünfter Band. München und Leipzig: Piper, 1906. S. VII-XV.
3 Moeller van den Bruck A. Bemerkungen über russische Mystik // F.M. Dostojewski: Der Idiot. Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Dritter Band. München und Leipzig: Piper, 1907. S. V-XVII.
4 Moeller van den Bruck A. Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten // F.M. Dostojewski: Aus einem Totenhaus. Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Achtzehnter Band. München und Leipzig: Piper, 1906. S. VII-XV.
5 Moeller van den Bruck A. Das Dritte Reich. 1. Auflage. Berlin: Der Ring Verlag, 1923. 261 S.
6 Moeller van den Bruck A. Der Nihilismus und die Revolution // F.M. Dostojewski:
Die Dämonen. Sämtliche Werke, Erste Abteilung : Fünfter Band. München und Leipzig: Piper, 1922. S. VII-XXIV.
7 Mohler A. Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1994. 131 S.
8 Schlüter A. Moeller van den Bruck: Leben und Werk. Köln: Böhlau Verlag, 2010. IX, 448 S.
Мировая литература / Н.А. Копча References
1 Garstka Ch. Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe
der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906-1919: Eine Bestandsaufnahme sämtlicher Vorbemerkungen und Einführungen von Arthur Moeller van den Bruck und Dmitrij S. Mereschkowskij unter Nutzung unveröffentlichter Briefe der Übersetzerin E.K. Rahsin. Frankfurt am Main, Berlin, Bern 1998. XIII, 168 S. (In German)
2 Moeller van den Bruck A. Bemerkungen über Dostojewski. F.M. Dostojewski: Die Dämonen. Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Fünfter Band. München und Leipzig, Piper, 1906. S. VII-XV. (In German)
3 Moeller van den Bruck A. Bemerkungen über russische Mystik. F.M. Dostojewski: Der Idiot. Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Dritter Band. München und Leipzig, Piper, 1907. S. V-XVII. (In German)
4 Moeller van den Bruck A. Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten. F.M. Dostojewski: Aus einem Totenhaus. Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Achtzehnter Band. München und Leipzig, Piper, 1906. S. VII-XV. (In German)
5 Moeller van den Bruck A. Das Dritte Reich. 1. Auflage. Ring Verlag, 1923. 261 S. (In German)
6 Moeller van den Bruck A. Der Nihilismus und die Revolution. F.M. Dostojewski: Die Dämonen. Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Fünfter Band. München und Leipzig, Piper, 1922. S. VII-XXIV. (In German)
7 Mohler A. Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1994. 131 S. (In German)
8 Schlüter A. Moeller van den Bruck: Leben und Werk. Köln, Böhlau Verlag, 2010. IX, 448 S. (In German)