DOI: 10.30842/ielcp2306901528070
Larissa Naiditsch
Еврейский Университет в Иерусалиме. Израиль.
ÜBER DIE DIALEKTLEXIK DER RUSSLANDDEUTSCHEN IN DEN 1920er JAHREN NACH DEM ARCHIV VON V. M. ZIRMUNSKIJ
О диалектной лексике русских немцев в 1920-х годах. По архиву В. М. Жирмунского
Статья продолжает изучение архива Виктора Максимовича Жирмунского в Санкт-Петербурге. Рассматриваются собранные Жирмунским и его учениками косвенным методом в 1920-х годах материалы. Это диалектологические анкеты, заполненные информантами из южных немецких колоний на территории СССР (Кривой Рог, Херсон, Мелитополь и др.). Изучается несколько слов из тестовых фраз Георга Венкера, переведенных на соответствующие немецкие диалекта, и диалектные слова из составленной Жирмунским анкеты для словаря крестьянского хозяйства. Слова из немецких диалектов на территории СССР сравниваются с материалом немецких региональных словарей.
Ключевые слова: немецкая диалектология, немецкие островные диалекты на территории СССР, диалектологичекий архив В. М. Жирмунского, диалектная лексика.
Larissa Naiditsch
The Hebrew University of Jerusalem, Israel [email protected]
On the dialect vocabulary of Russian Germans in the 1920s. According to the archives of V. M. Zhirmunsky
The article continues the study of Viktor Maksimovich Zhirmunsky's archive in St. Petersburg. The materials collected by Zhirmunsky and his students using the indirect method in the 1920s are considered. These are dialectological questionnaires filled out by informants from the southern German colonies on the territory of the USSR (Krivoy Rog, Kherson, Melitopol, etc.).
The article includes the study of several lexemes from dialect vocabulary of Germans living in the USSR in the 1920s: those from Georg Wenker's test phrases translated by informants into the corresponding German dialects, and those from the questionnaires of peasant farming compiled by Zhirmunsky. The vocabulary of German dialects on the
territory of the USSR is compared with that available in German regional dictionaries.
Keywords: German dialectology, German insular dialects in the USSR, dialectological archive of Viktor Maximovich Zirmunsky.
Einleitung
Das Anliegen dieses Aufsatzes ist weitere Erschließung des dialektologischen Archivs von Viktor Maximowitsch Zirmunskij (Schirmunski) in Sankt Petersburg, Russland. Somit ist er eine Fortsetzung der früheren Publikationen (Naiditsch, Svetozarova 2013, 2015; Svetozarova 2013, Puzeikina, Swetozarowa 2013, Naiditsch 2015, 2017, 2018, 2020)1, die einigen Aspekten des im Archiv vorhandenen Materials gewidmet sind.
Viktor Ziimiinskijs Forschungen zur Inseldialektologie in den 1920er Jahren
Die Geschichte der von Viktor Zirmunskij in den 1920er Jahren initiierten dialektologischen Projekte ist in einigen Publikationen erläutert (Svetozarova 2006, 2009, 2013, Zirmunskaja/ Naiditsch/ Starec/ Svetozarova 2016). Zirmunskij, der sich bereits als junger Forscher durch seine Studien als Literaturhistoriker und -theoretiker einen Namen gemacht hatte, wandte sich in den 1920er Jahren der deutschen Inseldialektologie zu. Es gab in der Sowjetunion, an der Wolga und im Schwarzmeergebiet, in der Ukraine, im Nordkaukasus, in Wolhynien, bei Leningrad / St. Petersburg und selbst in Sibirien und in Turkestan zahlreiche deutsche Siedlungen. Die ältesten von ihnen waren in den 1760er Jahren unter Katharina II. gegründet. Dazu gehören neben den Wolga Kolonien drei Dörfer und ihre Tochterkolonien im Gebiet Leningrad, die das erste
1 In den Jahren 2014-2016 wurde die Erforschung des Archives im Rahmen des Projekts „Germanistische Archive in St. Petersburg. Wissenschaftliche Aufarbeitung des Archivs V. M. Schirmunski (Zirmunskij) an der Akademie der Wissenschaften" (RGNF No. 13-04-00369) durchgeführt. An dieser Forschungsarbeit nahmen Natalija Swetozarowa, Larissa Pusejkina und Larissa Naiditsch teil.
В 2014-2016 гг. исследование архива проводилось в рамках проекта РГНФ («Германистические архивы в Санкт-Петербурге. Научная обработка архива В. М. Жирмунского в СПФ АРАН»), проект № 13-04-00369, 2014-2016 гг. В исследовании принимали участие Н. Д. Светозарова, Л. Н. Пузейкина и Л. Э. Найдич.
Forschungsziel von Zirmunskij bildeten. Der Gelehrte stellte sich die Aufgabe der komplexen Erforschung der deutschen Kolonien in der UdSSR: die Ansammlung und Analyse des mundartlichen, des volkskundlichen und des Folklore-Materials (Zirmunskij 1933/ 2018). Die Ergebnisse dieser Forschung demonstrierten sowohl archaische Züge, als auch Entwicklungsprozesse in Sprache und Volksdichtung in den erforschten Siedlungen. Das erlaubte einige theoretische Fragen zu stellen. Solche Probleme wie Gesetzmäßigkeiten von Sprach- und Dialektmischungen, wie auch Archaismus und Innovationen in der Entwicklung der Sprach- und Kulturinseln bildeten den Fokus der Forschungen des Gelehrten. Für Zirmunskij war die Sprachinselforschung ein unabdingbarer Teil der allgemeinen Sprachwissenschaft, der Germanistik und der Soziolinguistik.
Zirmunskij plante eine groß angelegte wissenschaftliche Beschreibung der sogenannten südlichen Kolonien, d.h. derjenigen, die im Laufe der 2. Emigrationswelle der deutschen Bauern 1830-1870 entstanden sind. Die ersten Forschungsreisen in diese Gebiete fanden im Sommer 1926 statt. Es handelte sich um die folgenden Regionen: die Krim, der Kaukasus, Saporoshje, Melitopol', Nikolaew, Odessa, Konotop, Kriwoj Rog, Wolhynien, Korostel', Cherson, Mariupol', Dnepropetrowsk. Zirmunskijs Mitarbeiter Alfred Ströhm und Ellinor Johannson, wie auch später die Studierenden der Leningrader Universität Lew Sinder, Tatjana Sokolskaja und Walentina Pogorelskaja nahmen an den Studienreisen teil (Zinder, Stroeva 1978; Zinder 1998). Gleichzeitig wurden Fragebögen in Bezug auf Dialektologie in die deutschen Siedlungen geschickt, mit der Bitte, sie auszufüllen und zurückzusenden. Die Arbeit der Forschungsgruppe hatte, neben rein wissenschaftlichen, auch praktische Zwecke: den Deutschlehrern bei ihrer Arbeit mit Dialektsprechern zu helfen. „Der Dorfschullehrer ist durch seine professionelle Stellung zum Mittler zwischen dem Bauernvolke und der Wissenschaft berufen", — schrieb Zirmunskij (1928: 3). Die Aufarbeitung der gewonnenen Materialien hat erst begonnen, als die Dialektforschungen zwangsläufig eingestellt werden sollten.
Die kulturelle und politische Autonomie der Minoritäten, die früher gefördert worden war, wurde in den 30er Jahren zunehmend eingeschränkt bis hin zur völligen Auflösung der Kolonien und der Deportation der Russlanddeutschen in den Jahren 1941/42 nach Sibirien und Kasachstan. Zwei letzte Studienreisen wurden zwischen Juni und September 1930 durchgeführt. Zirmunskij, seine
Schüler und Mitarbeiter wurden der Spionage beschuldigt. Alfred Ströhm, damals schon Professor der Pädagogischen Hochschule Odessa, wurde 1934 verhaftet. Später ist er in einem Stalinschen Lager umgekommen. Besonders tragisch war das Schicksal von Zirmunskijs Assistentin Ellinor Johannson, die hingerichtet wurde (Svetozarova 2010). Zirmunskij selbst wurde als angeblicher deutscher Spion in den Jahren 1933-1941 dreimal verhaftet und nur dank der großen Bemühungen seiner Verwandten und Kollegen freigelassen.
Von der Fortsetzung der Forschungsarbeit über die deutschen Inselmundarten in der UdSSR war viele Jahre keine Rede. Das gesammelte Material wurde dank der Witwe des Gelehrten Nina Alexandrovna Zirmunskaja erhalten geblieben. Es befindet sich heute in der Sankt-Petersburger Filiale des Archivs der Akademie der Wissenschaften Russlands Fonds 1001 (Smirnickaja 2000; Svetozarova 2006) und ist erst vor einigen Jahrzehnten ins Blickfeld der Germanistik gerückt. Es wird allmählich bearbeitet.
Zur Bearbeitung des dialektologischen Archivs in Sankt Peterburg
Zirmunskijs dialektologisches Archiv schließt zwei Typen der Fragebögen ein: A) Die Übersetzung der traditionellen Sätze von Georg Wenker und noch 200 Wörter, die der Gelehrte hinzugefügt hat, in die entsprechende Mundart und B) Lexeme für das geplante Wörterbuch der Bauernwirtschaft. Die Informanten waren Mundartträger aus den Kolonien, gewöhnlich Dorfschullehrer, die die Mundarten beherrschten. Im Weiteren werden in diesem Artikel einige Wörter aus diesen Fragebögen neben ihren Parallelen in deutschen Regionalwörterbüchern betrachtet.
Die erste Aufgabe der Bearbeitung von Zirmunskijs Archivmaterialien war ihre Einordnung nach zwei Dialekttypen: das Plattdeutsche der Mennoniten (Plautditsch) 2 und die rheinfränkischen (vorwiegend die pfälzisch-hessischen) Mundarten. Die Fragebögen sind ja im Archiv nach dem geografischen Prinzip geordnet, wobei das Nebeneinander der mennonitischen und lutherischen Dörfer oft vorkam. Im Weiteren wird immer darauf hingewiesen, von welchem
2 Über die Geschichte der Mennoniten siehe die Enzyklopädie GAMEO http://gameo.org/index.php?title=Welcome_to_GAMEO
Dialekttyp die Rede ist. Die rheinfränkischen Inselmundarten sind meistenteils Mischdialekte, wenn auch des gleichen Dialekttyps. Ursprünglich waren in den Kolonien auch einige schwäbische Mundarten vertreten — die Letzteren haben nach der Feststellung von Zirmunskij ihre charakteristischen Züge eingebüßt (Schirmunski 1928: 41-64, 1931, Zirmunskij 1976: 496-507, erste Publikation 1929). Die exakte Heimatbestimmung der Dialekte und ihrer Sprecher wäre deswegen unmöglich; sie wird in diesem Aufsatz nicht vorgenommen.
Aus den Sätzen Georg Wenkers
40 Sätze von Georg Wenker, die in der deutschen Dialektologie schon klassisch geworden sind, waren ursprünglich auf Probleme der Phonetik und Grammatik orientiert. Auch für Zirmunskij war das wichtig.
Hier wird aber das Augenmerk auf die lexikalischen Aspekte gelegt. Betrachten wir dafür Wenkers Satz 38 aus dem Archiv Zirmunskij.
Die Leu te sind heu te alle draußen auf dem Feld und mähen
Rheinfränkische Mundarten in den Kolonien bei Cherson,
Krivoj Rog und Lugansk:
Die Leit sin heit alle drauss uf de Schteb un haue
Die Leit sin heit alle drauss ufm Felt un haue
Die Leit sin heit al draus ufm Felt un mehn
D'Leit sin heit al draus uf de Step un haun
Stepp ist hier die häufigste Variante für 'Feld'
Die plattdeutsche Mundart der Mennoniten (Plautditsch):
De Lied sent vondoag aula butten opp i Stapp onn heiwen.
De Lüd sent vondoag aula buten oppe Stap on heiwen.
Dö Lied send vondog aulli buti op dö Stap on heiwi.
De Lit send von dög aula butte op de Staap on häiwe.
Wie aus den obigen Beispielen ersichtlich ist, ist die lexikalische Variierung innerhalb von zwei genannten Gruppen minimal. Bei der
Übersetzung des Wortes Feld in die entsprechende Mundart greifen die meisten Sprecher zu einer Entlehnung aus dem Russischen oder aus dem Ukrainischen степь. Dabei finden entsprechende phonetische Veränderungen statt. Das ist die gesetzmäßige Senkung e > a: in geschlossener Silbe im Plautditsch und der Lautwandel 5 > s vorp, der nur selten grafisch bezeichnet wurde.
Es fragt sich, warum die Entsprechung des hochdeutschen Wortes Feld eindeutig auf die Realien der neuen Heimat der Kolonisten hinweist. Es ist anzunehmen, dass das Wort noch vor der Bildung der Kolonien im Laufe der Einwanderung, vielleicht noch unterwegs, bekannt geworden ist. Die Einwanderer landeten in der Gegend, die ihren Erwartungen nicht entsprach. „Die ersten Jahre nach der Einwanderung waren auch im Süden [so, wie an der Wolga] durch schwere wirtschaftliche Kämpfe begleitet. Klima und Bodenverhältnisse waren den Kolonisten unbekannt. Viele starben dahin, ehe die Ursteppen durch menschlichen Fleiß beackert und besäet werden konnten" (Schirmunski 1928: 32). Die Steppe in der neuen Heimat war dem deutschen Feld nicht ähnlich. Steppe wurde zum wichtigen Konzept der Russladdeutschen. Das Wort wurde sowohl in den südlichen Kolonien, wie auch in denjenigen an der Wolga gebraucht (Zorn: 1924), nicht aber in den deutschen Kolonien in der Nähe von Petersburg.
Das Wort mähen fehlt in vielen deutschen Mundarten. Die entsprechende Bedeutung wird mit hauen in einigen phonetischen Varianten wiedergegeben. Siehe Karte 9702 von dem Deutschen Sprachatlas. Im Pfälzischen Wörterbuch sehen wir die entsprechende Bedeutung von hauen unter 2a: „Mit einer scharfen Waffe, einem scharfen Werkzeug schlagen, stechen
[...]; mit der Sichel hauen". Hauen (heiwe, haue) als Entsprechung von mähen finden wir in Zirmunskijs Archivmaterialien sowohl in den Sätzen von Georg Wenker, wie auch im lexikalischen Fragebogen (Punkt 45).
Aus den Fragebögen der Lexik zur Bauernwirtschaft
Die Fragebögen, die für das geplante Wörterbuch des landwirtschaftlichen Wortschatzes bestimmt waren, wurden unabhängig von denjenigen mit Wenkers Sätzen zusammengestellt und in die deutschen Kolonien geschickt. Sie enthalten 50 Wörter und Wendungen und zwei Fragen, die Folklore betreffen (Naiditsch 2017, 2018, 2020).
Wenden wir uns einigen Lexemen im Fragebogen zur Bauernwirtschaft zu. Punkt 48: das Verb pflügen. In den plattdeutschen Mundarten der Mennoniten sind nur phonetische Varianten dieses Verbs zu finden: pleji, pliji, pleaji, plige, pleeje plüge. In rheinfränkischen Mundarten dagegen finden wir sowohl phonetische Variierung, wie auch wortgeografische Synonyme. Zu den Ersteren gehören die folgenden: pflige, pfleje, pflige, pleje, plüge, fliegen, flügen. Die Affrikate pf am Wortanlaut zeugt entweder von dem oberdeutschen Ursprung der Mundart oder von der Wirkung der Literatursprache; die Wörter mit f kann man als Kompromissformen zwischen pf und p betrachten. Was die lexikalischen Varianten betrifft, so sind im Fragebogen neben oben erwähnten Formen wie pleje u.ä. auch die folgenden zu finden: ackern, ackre, ackra und zackere, zackre. Zum Verb ackern s. das PfWb Bd. 1, Sp. 130, RhWb Bd. 1, Sp. 53.
Zackere(n) wird im Pfälzischen Wörterbuch als ein seltenes, historisch bezeugtes oder im Auslandspfälzischen erhaltenes Wort aufgeführt (PfWb 6, Sp. 1516)3. Die Form zacker-fahren 'zum Acker fahren', die als Ausgangsform zu zackern betrachtet wird (acker gen / gän), ist auch in Regionalwörterbüchern belegt. In Grimms Wörterbuch (Bd. 31, Sp. 16) sind zahlreiche historische Belege des Verbs zackern angegeben.
Das Wort zackern finden wir in einem bekannten Zauberspruch Drei-Wurm-Segen: "Es fahrt ein Bauer Zackern, / Er zackert drey
3 Das Verb zackern wird in Dialekten manchmal auch für die Bezeichnung einer speziellen Ackertechnik gebraucht. Es kann auch 'sich (mühsam, langwierig, umständlich) mit etwas herumplagen' bedeuten. In dieser letzteren Bedeutung wurde dieses Verb, dessen Gebrauch mit der Zeit immer seltener wurde, durch ein bekanntes Gedicht von Paul Celan (1969) wieder ins Leben gerufen: „Ich trink Wein aus zwei Gläsern / und zackere an der Königszäsur / wie Jener am Pindar [...]". Celan meinte dabei schwere Arbeit und spielte auf Hölderlin an, der den griechischen Dichter Pindar übersetzte, was eine große geistige Spannung erforderte. Das Wort entnahm Celan einem in Hölderlins Werken publizierten Brief des Hofrats Gerning an Knebel: „Hölderlin, der immer halbverrückt ist, zackert auch am Pindar" (1805). Bekanntlich schloss Celan in seine Gedichte manchmal seltene, ungewöhnliche Wörter ein. B. Böschenstein (1983: 148) schrieb: „'Zackern' ist zweifellos eines jener alten, in der Schriftsprache (seit dem 17. Jahrhundert) abgestorbenen Wörter, deren Entdeckung Celan in einem Gedicht zu verwerten für wichtig hielt. Eine Reise, sagte er, dem Sinne nach, im Gespräch, sei oft eine Gelegenheit, ungekannte Wörter nach Hause zu bringen".
förg [Furchen] / er Zackert drey Wörm, / der eine ist schwarz, der andere ist blau, / der dritt ist roth, / das ist alle Wörme ihr Tod. +++" (Heeger, 1936: 108).
Punkt 50: gleiten (auf dem Eise ohne Schlittschuhe gleiten). Diese Art „Wintervergnügen der Jugend" war in Deutschland verbreitet (Post 2000: 131), in Russland ist es auch üblich4. In manchen Mundarten wird diese Bedeutung durch glitsche(n) wiedergegeben, was bekanntlich Intensivbildung zu gleiten ist. Auch hier sind in den plattdeutschen Mundarten der Mennoniten nur phonetische Varianten zu beobachten: glitschi, jletsche, jlitsche. Entsprechende rheinfränkische Formen in Zirmunskijs Fragebögen sind: glitsche, glitscha, glutsche, glutschre, die besonders in der Nordwestpfalz verbreitet sind (PfWb Bd. 3, Sp. 348, Post 2000: 68, Karte 332 in PfWb. Bd. 5, Sp.1063). Im RhWb (Bd. 2, Sp. 1275) wird die hohe Verbreitung des Verbs auch nach Norden hin erwähnt. Andere recht häufige lexikalische Synonyme mit phonetischen Varianten sind: schlidern, schliddern, schlittern, schlittre, schledere, schlettre. Schlittern wird in Grimms Wörterbuch (Bd. 15, Sp. 760) folgenderweise definiert: „auf dem eise sich gleitend fortbewegen, besonders als vergnügen für kinder; iterativbildungen zu [dem Verb] schlitten". Seltener kommen die Formen schleife, schleimern und schleimara vor, zwei Letztere weisen auf die Region der Süd-West Pfalz hin (PfWb Bd. 5, Sp. 1073, Post 2000: 131).
Die unter Punkt 50 angeführten Lexeme sind oft Iterativ- oder Intensivbildungen. Das demonstriert z.B. das Suffix -er(n), -ere. Hermann Paul schrieb von dieser Wortgruppe: „namentlich gehören hierher Verba, die eine wiederholte Bewegung oder ein wiederholtes Geräusch bezeichnen." (Bd. 5: 119). Auch Konsonantenwechsel ist ein Mittel, dem Verb die Intensivbedeutung zu verleihen: vgl. gleiten — glitschen. Der Anlaut der angeführten Verben ist schl oder gl, was auch von Standpunkt der historischen Germanistik bemerkenswert ist. So geht nach der Hypothese von Th. Krisch (1990: 120) g auf das Präfix ga-, ge- wie in gleich, Glück u.a. zurück, während die Wurzel selbst Variante mit oder ohne s-mobile aufweisen kann. Somit können gleiten und schlittern auf ein und dieselbe Etymologie zurückgeführt werden.
4 Im Russischen gibt es kein besonderes Wort für diese Handlung. Manchmal sagt man: «кататься на ногах», was auch 'bergab ohne Schlitten gleiten' bedeuten kann.
Schlusswort
Oben wurde das lexikalische Material einiger Fragebögen aus dem Archiv Viktor Zirmunskij behandelt. Die analysierten Wörter wurden mit denjenigen in den deutschen Dialektwörterbüchern verglichen. Alle betrachteten Formen, bis auf das Lehnwort Steppe, haben in den deutschen Mundarten ihre Entsprechungen und sind in den Dialektwörterbüchern registriert. Obwohl diese Lexeme an und für sich in der deutschen Dialektologie mehr oder weniger bekannt sind, bereichern die oben betrachteten Fragebögen die deutsche Regionallexikologie. Sie zeigen den Wortschatz der Auslandsdeutschen in seiner archaischen Form und spiegeln die Lexik einzelner Gebiete wider, und zwar derjenigen, aus denen die meisten Einwohner dieser oder jener Kolonie stammten. Diese Wörter sind Zeugen der Geschichte einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Das Gesagte schließt nicht aus, dass auch Dialektmischungen innerhalb ein und derselben Siedlung möglich waren. Bei solch einer Mischung hat eine bestimmte Form die Oberhand gewonnen, gewöhnlich wegen der höheren Anzahl der Sprecher oder wegen der höheren Autorität einer Sprechergruppe.
Auch ein Andenken an die Forscher und die Mundartsprecher, deren Schicksal oft tragisch war, lässt uns dieses Material nicht ohne Bearbeitung liegen lassen. Hier sei nur ein Beispiel genannt, das möglicherweise Historiker und Sprachwissenschaftler zur weiteren Arbeit anregt. Am Ende jedes Fragebogens stehen Name, Geburtsort und -jahr desjenigen, der ihn ausgefüllt hat, manchmal schwer lesbar, manchmal recht klar. Das waren meistenteils Deutschlehrer in den Kolonien. Heute wissen wir nicht, wie ihr Schicksal war: waren sie verschickt, verschollen oder konnten sie doch als Lehrer oder anderswie in Sibirien oder in Mittelasien tätig sein? Das wäre ein Material für künftige Historiker.
Wörterbücher, Nachschlagewerke
Deutscher Sprachatlas. Sprachatlas des deutschen Reichs von Georg
Wenker. https://regionalsprache.de/wa.aspx GAMEO — Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online http:
//gameo.org/index.php?title=Welcome_to_GAMEO Grimm — Das deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm
https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB&lemid=A00001 (Letzter Zugriff 17.04. 2024).
PfWb: Pfälzisches Wörterbuch, Begründet von Ernst Christmann. Bearb. von Julius Krämer, Rudolf Post. Wiesbaden/Stuttgart, Bd. I-VI, 1965-1997. Heute auch im Internet: https://woerterbuchnetz.de/?sigle=PfWB
https://regionalsprache.de/pfwb.aspx (Letzter Zugriff 17.04. 2024)
Post 2000 — Post Rudolf. Kleines Pfälzisches Wörterbuch. Verlag K. F. Geißler.
RhWb. Rheinisches Wörterbuch. Josef Müller, Heinrich Dittmaier, Karl Meisen, Matthias Zender. Publikationszeitraum: 1928-1971 https://woerterbuchnetz.de/?sigle=RhWB&lemid=A00001 (Letzter Zugriff 17.04. 2024)
Literatur
Böschenstein, B. 1983: Hölderlin und Celan. Hölderlin-Jahrbuch 19821983. Bd. 23. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Tübingen, 147-155
Heeger, F. 1936: Pfälzer Volksheilkunde. Ein Beitrag zur Volkskunde der Westmark. Neustadt an der Weinstraße: Verlag Daniel Meininger.
Krisch, Th. 1990: Zur Etymologie von nhd. gleiten (mit Bemerkungen zu weiteren Etymologien). In: HS (Historische Sprachforschung, ehemals KZ) 103,. S 116-131. https://www.plus.ac.at/wp-content/uploads/2021/02/2043301 .pdf
Naiditsch, L. 2015: Das Mennonitenplatt (Plautdietsch) nach den Fragebögen aus dem Archiv Schirmunski. Teil I. Probleme des Konsonantismus. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. 2015. Bd. LXXXII, H. 3, S. 331-349.
Naiditsch, L. 2017: Zur Lexik im Mennonitenplatt nach dem Archiv von V. M. Schirmunski. Indoevropeiskoe yazykoznanie i klassicheskaya filologiya [Indo-European linguistics and classical philology] 21, 1012-1036.
Naiditsch, L. 2018: Zum Wortschatz in den deutschen Inselmundarten der Ukraine in den 1920er Jahren. Nach dem Archiv von Viktor Schirmunski Indo-European linguistics and classical philology. 22, 919944 https ://tronsky.iling. spb.ru/static/tronsky2018_02 .pdf
Naiditsch, L.: 2020. ,Haus' und ,Hof in den deutschen Inselmundarten der Ukraine in den 1920er Jahren nach dem Archiv von Viktor Schirmunski. Indo-European Linguistics and Classical Philology / Индоевропейское языкознание и классическая филология. 24 (1), 383- 394.
Naiditsch, L., Svetozarova, N. 2013: Die Erforschung des Wortschatzes der deutschen Sprachinseln in Russland von Viktor Maksimovic Schirmunski und seinen Mitarbeitern. Magister dixit 4.
Naiditsch, L., Svetozarova, N. 2015: Dialektologische Projekte von V. M. Schirmunski und die Wortkartei von L. R. Sinder. Indoevropeiskoe yazykoznanie i klassicheskaya filologiya [Indo-European linguistics and classical philology] 19, 683-698.
Paul H. 1955: Deutsche Grammatik. Wortbildungslehre. Bd. 5. 2. Auflage. VEB Max Neimeyer Verlag. Halle (Saale).
Post, R. 1990: Pfälzisch. Einführung in eine Sprachlandschaft. Pfälzische Verlagsanstalt. Landau / Pfalz. Pott.
Puzeikina, L. N., Svetozarowa, N. D. 2013: Wenkers Sätze in St. Petersburg. Aus dem dialektologischen Nachlass von V. M. Schirmunski. Magister dixit 4.
Schirmunski V. 1928: Die deutschen Kolonien in der Ukraine. Moskau : Zentral-Völkerverlag der Sowjet-Union.
Smirnitskaya, S. V. 2000: [V. M. Schirmunski und das Leningrader Zentrum der Erforschung der deutschen Siedlungen]. In: Nemtsy v Rossii. Russko-nemetskie nauchnye i kul'turnye svyazi [Germans in Russia. Russian-German scientific and cultural relations]. St. Petersburg, 61-70.
Смирницкая, С. В. 2000: В. М. Жирмунский и Ленинградский центр по изучению немецких поселений в России. В сб.: Немцы в России. Русско-немецкие научные и культурные связи. СПб., 61-70.
Svetozarova, N. D. 1999: [Archiv des deutschen Volksliedes in Leningrad von V. M. Schirmunski: Geschichte und der heutige Zustand]. Yazyk i Yazykovaya deyatel'nosf [Language and Speech] 2, 212-221. Светозарова, Н. Д. 1999: Архив немецкой народной песни в Ленинграде В. М. Жирмунского: история и современное состо яние. Язык и речевая деятельность 2, 212-221.
Svetozarova, N. D. 2006: [Folkloristisch-dialektologische Forschungsreisen von V. M. Schirmunski und sein Archiv des deutschen Volksliedes]. Russkaya germanistika. Ezhegodnik Rossiyskogo soyuza germanistov [German Studies in Russia. A Year-book of the Russian Union for German Studies ] 2, 137-147. Светозарова, Н. Д. 2006: Фольклорно-диалектологические экспедиции В. М. Жирмунского и его «Архив немецкой народной песни». Русская германистика. Ежегодник Российс кого союза германистов. Том 2. М., 2006. С. 137-147.
Svetozarova, N. D. 2010: [Ein vergessener Name — Folkloristin Ellinor Johannson]. In: Fol'klor i my. Traditsionnaya kul'tur a v zerkale ee vospriyatiya [Folklore and we. Traditional culture reflected in the mirrow of its perception. Collections of articles dedicated to 1.1. Zemtsovsky on the Occasion of his 70th Birthday]. Pt. 1. St. Petersburg, RIII, 223-231.
Светозарова, Н. Д. 2010: Забытое имя — фольклорист Эллинор Иогансон. Фольклор и мы: Традиционная культура в зеркале ее восприятий: сб. научных статей, посвященный 70-летию И. И. Земцовского. Ч. 1. СПб.: РИИИ, 2010. C. 223-231.
Svetozarova, N. D. 2013: [Berichte von V. M. Schirmunski über seine folkloristisch-dialektologische Forschungsreisen als wertvolle germanistische Informationsquelle]. Magister Dixit, 3 (09).
Светозарова, Н. Д. 2013: Отчеты об экспедициях как уникальный источник информации (на материалы фольклорно-диалек тологических экспедиций В. М. Жирмунского). Magister Dixit, №3 (09). Сентябрь 2013. Zinder, L. R. 1998: [V. M. Schirmunski und die Inseldialektologie]. Yazyk i Yazykovaya deyatel'nost' [Language and Speech] 1, 187-193. Зиндер, Л. Р. 1998: В М. Жирмунский и островная диалектоло гия. Язык и речевая деятельность 1, 187-193 Zinder, L. R., Stroeva, T. V. 1978: [V. M. Schirmunski als Felddialek tologe]. In: Problemy areal'nykh kontaktov i sotsiolingvistiki [Prob lems of areal contacts and sociolinguistics]. Leningrad, 157-162. Зиндер Л. Р., Строева Т. В. 1978: В. М. Жирмунский как поле вой диалектолог. В сб.: Проблемы ареальных контактов и социолингвистики. Л., 157-162. Zirmunskaja A., Starec M., Naiditsch L. Svetozarova N. 2016. Die Welt der deutschen Kolonie 1926-1930. Fotos aus den folkloristisch-dialektologischen Forschungsreisen von V. M. Schirmunski. St.-Petersburg: Nestor-Istoria.
Жирмунская, А. В., Старец, М. Л., Найдич, Л. Э., Светозарова, Н. Д. 2016: Мир немецкой колонии. Фотографии из фольк-лорно-диалектологических экспедиций В. М. Жирмунского. Санкт-Петербург. Нестор-История. Zirmunskij, V. 1933/ 2018: Ergebnisse und Aufgaben der mundart- und volkskundlichen Erforschung der deutschen Siedlungen in der UdSSR. In: Bertleff, I., Eckhard, J., Svetozarova, N. 2018: Russlanddeutsche Lieder: Geschichte, Sammlung, Lebenswelt. v Band 2: Analysen und Quellen. Essen: Klartext Verlag, 167-199. Zirmunskij, V. 1976: [Probleme der Siedlungsdialektologie. 1. Publikation 1929]. In: Zirmunskij, V. 1976: General and German Linguistics. Leningrad, 1976, 491-516.
Жирмунский, В. М. 1976: Проблемы переселенческой диалектологии. В сб.: Жирмунский В. М. Общее и германское языкознание. Л., 1976, 491-516. Zirmunskij, V. M. 1931: [Prozesse der Sprachmischung in fränkisch -schwäbischen Mundarten der Südukraine]. In: Yazyk i literatura [Language andLiterature] VII. Leningrad, 93-109. Жирмунский, В. М. 1931: Процессы языкового смешения в франко-швабских говорах южной Украины. Язык и литература VII. Л., 93-109. Zorn J. 1924. Draußen „uf die Steppe". Wolgadeutsche Monatshefte 1924. https ://wolgadeutsche.net/library/item/400.