HORIZON 4 (2) 2015 : I. Research : N. Artemenko : 186-202
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ETUDES PHENOMENOLOGIQUES
EINIGE BEMERKUNGEN ZU HEIDEGGERS KANT-INTERPRETATION
NATALIA ARTEMENKO
PhD in Philosophy, Senior Lecturer, Institute of Philosophy, St. Petersburg State University, 199034
St. Petersburg, Russia.
E-mail: [email protected]
SOME REMARKS ON HEIDEGGER'S INTERPRETATION OF KANT
Among Heidegger's works his Kant book, «Kant and the Problem of Metaphysics» (1929), takes a special place. Planned by Heidegger as one of the sections of the second part of «Being and Time», it was intended to show the importance of the problem of substantiation. In «Being and Time» Heidegger recognized the achievements of Kant, but at the same time he added that the penetration into the problem of temporality was beyond Kant's scope. Despite the fact that Kant has come very close to the problem of time, his investigations remained, according to Heidegger, within the framework of the traditional ontology. Taking into account the aforementioned features of the interpretation of Kant in «Being and Time», it looks astonishing, that in his Kant book of 1929 Heidegger intended to demonstrate the idea of the fundamental ontology of Dasein (which he developed in «Being and Time») with the example of the interpretation of «Critique of Pure Reason» as the foundation of metaphysics. Heidegger discovered «clarification of transcendence» in Kant's transcendental deduction of the categories and Kant's subjective deduction seemed to be a transcendental disclosure of the nature of subjectivity of the subject. However, it is important to note that in the book «Kant and the Problem of Metaphysics» it is a question not so much of the historical-philological interpretation of Kant, as of clarifying Heidegger's internal directional of the fundamental ontology by means of this interpretation. We will try to give a critical analysis of Heidegger's interpretation, taking into account that Heidegger's analysis of the Kantian heritage is the sample not of historical, but rather systematic and methodical debate. It is also one reason why this critical analysis can serve as a reliable support for a more accurate determination of the essence of the transcendental-phenomenological issues not only in Heidegger's works, but also in Kant's works.
Key words: Heidegger, Kant, transcendence, fundamental ontology, Dasein, temporality, subjectivity of the subject, objectivity, synthesis.
© Natalia Artemenko, 2015
НЕКОТОРЫЕ ЗАМЕЧАНИЯ К ХАЙДЕГГЕРОВСКОЙ ИНТЕРПРЕТАЦИИ КАНТА НАТАЛЬЯ АРТЁМЕНКО
Кандидат философских наук, старший преподаватель, Институт философии Санкт-Петербургского государственного университета, 199034 Санкт-Петербург, Россия. E-mail: [email protected]
Среди хайдеггеровских сочинений работа 1929 г. «Кант и проблема метафизики» занимает особое место. Планируемая Хайдеггером в качестве одного из разделов второй части «Бытия и времени», она была призвана показать значимость проблемы обоснования. Признавая в «Бытии и времени» достижения Канта, Хайдеггер, тем не менее, говорит всего лишь о «каком-то отрезке», проделанном Кантом на этом пути, и добавляет, что проникновение в проблематику темпоральности оказалось для него все же недоступным. И, несмотря на то, что Кант ближе всех подошел к проблеме времени, он, как считает Хайдеггер в «Бытии и времени», все еще остается в рамках старой онтологии. Принимая во внимание отмеченные черты интерпретации Канта в «Бытии и времени», удивительным выглядит тот факт, что Хайдеггер в своей книге о Канте 1929 г. намеревался продемонстрировать идею фундаментальной онтологии Dasein (разработанную им в «Бытии и времени») на примере истолкования «Критики чистого разума» как обоснования метафизики. Хайдеггер усматривает теперь в кантовской трансцендентальной дедукции категорий «прояснение трансценденции», а так и не проведенная Кантом субъективная дедукция предстает у него трансцендентальным раскрытием сущности субъективности субъекта. Здесь, однако, важно учитывать, что в книге «Кант и проблема метафизики» речь идет не столько об историко-филологической интерпретации Канта (хотя в некотором смысле и о ней тоже), сколько о прояснении через эту интерпретацию внутренней направленности собственной проблематики Хайдеггера — фундаментальной онтологии. Мы попытаемся дать критический анализ хайдеггеровской интерпретации, учитывая, что хайдеггеровский анализ кантовского наследия есть образец не исторической, а систематической и методической полемики. Но именно поэтому он может послужить надежной опорой для более точного определения существа трансцендентально-феноменологических вопросов не только у Хайдеггера, но и у Канта.
Ключевые слова: Хайдеггер, Кант, трансценденция, фундаментальная онтология, Dasein, временность, субъективность субъекта, предметность, синтез.
In Heideggers Schriften nimmt die Abhandlung «Kant und das Problem der Metaphysik» aus dem Jahr 1929 eine besondere Stellung ein. Heidegger plante sie als einen der Abschnitte des zweiten Teils von «Sein und Zeit», sie zielte darauf ab, die Signifikanz des Begründungsproblems aufzuzeigen: «Die folgende Untersuchung stellt sich die Aufgabe, Kants Kritik der reinen Vernunft als eine Grundlegung der Metaphysik auszulegen, um so das Problem der Metaphysik als das einer Fundamentalontologie vor Augen zu stellen» (Heidegger, 1973, 1).
Wir streben eine kritische Analyse der entsprechenden Interpretation an, vor dem Hintergrund dessen, dass Heideggers Analyse des Kantischen philosophischen Erbes kein Beispiel einer historischen, sondern einer systematischen und methodologischen Interpretation ist. Aber gerade deswegen kann sie als verlässliche Stütze für eine präzisere Bestimmung des Wesens der transzendental-phänomenologischen Fragen nicht nur bei Heidegger, sondern auch bei Kant gelten.
Subjektivität des Subjekts
Der erste Abschnitt des zweiten Teils von «Sein und Zeit» — «Kants Lehre vom Schematismus und der Zeit als Vorstufe einer Problematik der Temporalität» soll zeigen, «inwiefern bei Kant <. > doch ein radikaleres Verständnis der Zeit aufbricht als bei Hegel» (Heidegger, 1986, 428). Obwohl Heidegger hier Kants Verdienst in der Entfaltung der Zeitproblematik anerkennt, spricht er bloß von einer gewissen Strecke, die Kant auf diesem Weg zurückgelegt habe, und fügt hinzu, dass ihm das Eindringen in die Problematik der Temporalität nicht gelungen sei. Dies liege einerseits an einer Unterlassung der Seinsfrage, zum anderen am Fehlen einer thematischen Ontologie menschlichen Daseins, «kantisch gesprochen, einer vorgängigen ontologischen Analytik der Subjektivität des Subjekts» (Heidegger, 1986, 32). Außerdem ist die kantische Analyse der Zeit so sehr dem traditionellen Verständnis der Zeit als einer abzählbaren Reihe von Jetztpunkten verpflichtet, dass sie den inneren Zusammenhang zwischen der Zeit und dem «Ich denke» nicht einsichtig machen konnte (Heidegger, 1986, 24, 32).
Heidegger wirft Kant vor, dass er der wesenhaften Verfassung des Subjekts keine hinreichende Aufmerksamkeit geschenkt habe, obwohl er unterstreicht: «das Ich bleibe auf seine Vorstellungen bezogen und sei ohne sie nichts» (Heidegger, 1986, 42). Obwohl Kant sich stärker als alle anderen mit dem Problem der Zeit auseinander gesetzt hat, verbleibt er laut Heidegger in «Sein und Zeit» im Rahmen seiner alten Ontologie. Da das Erfassen der Zeit bei Kant entlang der von Aristoteles ausgearbeiteten Strukturen verläuft, macht es sich Heidegger zur Aufgabe, diesen von der antiken Ontologie übernommenen Bestand bis zu den ursprünglichen Erfahrung zu dekonstruieren, «in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden» (Heidegger, 1986, 30).
Wenn wir diese von uns hervorgehobenen Eigenschaften der Kantischen Interpretation in «Sein und Zeit» in Betrachtung ziehen, ist es erstaunlich, dass Heidegger in seinem Buch über Kant aus dem Jahr 1929 vorhatte, die Idee der Fundamentalontologie des Daseins (die er in «Sein und Zeit» ausgearbeitet hatte) anhand des Auslegungsbeispiels in der «Kritik der reinen Vernunft» als Begründung der Metaphysik zu demonstrieren. Heidegger sieht in der Kantischen transzendentalen Deduktion der Kategorien eine «Enthüllung der Transzendenz» (Heidegger, 1973, 77), und die von Kant nicht ausgeführte subjektive Deduktion ist bei ihm die transzendentale Enthüllung des Wesens der Subjektivität des Subjekts.1
1 Es ist bekannt, dass Heidegger sich wiederholt auf Kant berufen hat. In seinen frühen, Kant gewidmeten Arbeiten sollte man zunächst auf die Vorlesung «Logik» hinweisen, die im Wintersemester 1925/26 gehalten wurde (Heidegger, 1976а) und der späteren Arbeit «Kant und das Problem der Metaphysik» zugrunde lag; ebenso die Vorlesung «Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft» des Wintersemesters 1927/28 (Heidegger, 1977) und das Werk «Auf der Basis des Seins» 1929 (Heidegger, 1976b).
Allerdings hat Heidegger hier angemerkt, dass die Subjektivität des Subjekts bei Kant durch die Sichtweise der traditionellen Anthropologie und Psychologie bestimmt wird, was dazu geführt hat, dass weder die transzendentale Deduktion noch die Kapitel über den Schematismus eine neue Sichtweise auf dieses Problem eröffnet haben (Heidegger, 1973, 167). Diese Bemerkungen relativieren den innovativen Charakter der Heideggerschen Kant-Interpretation im Buch «Kant und das Problem der Metaphysik» im Vergleich zu «Sein und Zeit». Hierbei ist es wichtig anzumerken, dass im Buch «Kant und das Problem der Metaphysik» weniger von einer historisch-philologischen Interpretation Kants die Rede ist (obwohl im gewissen Sinne auch davon), sondern es vielmehr um die Klärung der internen Ausrichtung der eigenen Problematik Heideggers durch diese Interpretation geht, nämlich der Fundamentalontologie. Wenn die Interpretation nur das wiedergibt, was Kant selbst zu sagen intendierte, dann ist dies keine Interpretation laut Heidegger. Die Aufgabe der letzteren ist es, «dasjenige eigens sichtbar zu machen, was Kant über die ausdrückliche Formulierung hinaus in seiner Grundlegung ans Licht gebracht hat» (Heidegger, 1973, 201). Heidegger hat hier vor, dasjenige, was selbst Kant noch nicht in der Lage war, zu sagen, nämlich das, «was sie als noch Ungesagtes durch das Gesagte vor Augen legt» (Heidegger, 1973, 201).
Die Kantische Begründung der Metaphysik, ihre wesenhafte Bestimmung als meta-physica generalis, welche die Frage nach dem Seienden als solchen stellt, sieht Heidegger im Lichte der allgemeinen Frage «nach der inneren Möglichkeit eines Offenbarmachens überhaupt von Seiendem als solchem» (Heidegger, 1973, 10) an. Die Begründung ist die Aufhellung des Wesens eines Verhaltens zum Seienden, worin sich dieses an ihm selbst zeigt, «so daß alles Aussagen über es von daher ausweisbar wird» (Heidegger, 1973, 10). Eine entsprechende Einstellung zum Seienden, in der es sich als es selber zeigt, nennt Heidegger bekanntlich eine «ontische» Erkenntnis. Die Frage nach dem Wesen der ontischen Erkenntnis ist auf das, was sie ihrerseits möglich macht, d. h. auf die «ontologische Erkenntnis», auf ihre interne Möglichkeit, auf das Wesen des vorausgehenden Seinsverständnisses, auf die Ontologie, gerichtet. Heidegger zieht daher folgendes Fazit: «Grundlegung der Metaphysik im ganzen heißt Enthüllung der inneren Möglichkeit der Ontologie» (Heidegger, 1973, 12), und zwar «durch Aufhellung ihres Ursprungs aus den sie ermöglichenden Keimen» (Heidegger, 1973, 20).
Die Ontologie und die ontologische Erkenntnis als Erkenntnis einer bestimmten Seinsverfassung des Seienden «überschreitet» die Grenzen jedes «Besonderen und Teilweisen», was in jedem Fall «Erfahrung an Besonderem und Teilweisem darbieten kann» (Heidegger, 1973, 10). Die Vernunft transzendiert so zum Seienden, dass sie «sich diesem jetzt allererst als möglichem Gegenstand der Erfahrung anmessen kann» (Heidegger, 1973, 16). Die ontologische Erkenntnis bildet die Transzendenz als Offenbarkeit und Enthülltheit der Seinsverfassung des Seienden als «ontologische Wahrheit», auf die die ontische Erkenntnis gerichtet sein soll, da sie sich von sich aus nicht nach den Gegenständen richten kann, «weil sie ohne die ontologische [Erkenntnis] nicht einmal ein
mögliches Wonach haben kann» (Heidegger, 1973, 13). Die Transzendenz ist die Synthese a priori, weshalb die Begründung der Metaphysik den «Entwurf der inneren Möglichkeit der apriorischen Synthesis» (Heidegger, 1973, 38) überhaupt ausmacht.
Heideggers Hervorheben des Problems der Transzendenz in der Interpretation Kants2 verlangt nach einer präziseren Problemdefinition. Trotz der Tatsache, dass Heidegger den Begriff der Transzendenz mit dem Kantischen Begriff des «Transzendentalen» in Beziehung setzt, bezieht sich die transzendentale Erkenntnis für ihn nicht auf das Wesen, sondern auf die Möglichkeit des vorgängigen Seinsverständnisses. Dementsprechend «betrifft [die Seinsverfassung des Seienden] das Überschreiten (Transzendenz) der reinen Vernunft zum Seienden» (Heidegger, 1973, 16). Vom Kantischen Vokabular ausgehend ist es nicht so einfach, diesen Begriff zu legitimieren. Das vierte Kapitel des Buches über Kant — Begründung der Metaphysik in der Wiederholung — zeigt eindeutig, dass hier nicht von einem Kantischen Begriff die Rede ist, sondern von einem Konzept, das in den Kontext des «In-der-Welt-Seins» von «Sein und Zeit» gehört: «Die existenziale Analytik <...> soll zeigen, daß und wie allem Umgang mit dem Seienden <...> schon die Transzendenz des Daseins — das In-der-Welt-sein — zugrunde liegt» (Heidegger, 1973, 235).
Die Frage liegt nahe, wie angemessen die Formulierung Heideggers «Die Begründung der Metaphysik ist die Offenbarung der Transzendenz» das Problem, um das es sich in «Kritik der reinen Vernunft» handelt, rekonstruiert. Die Antwort sollte eigentlich negativ ausfallen, da die Frage Heideggers — «wie <.. > das endliche Seiende, das wir Mensch nennen, seinem innersten Wesen nach sein [muß], damit es überhaupt offen sein kann zu Seiendem, das es nicht selbst ist, das sich daher von sich aus muß zeigen können» (Heidegger, 1973, 43) — lediglich eine andere Problemformulierung der Transzendenz ist. Kant dagegen fragt nach der Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori, was auf das Problem der Beziehung der Kategorien zu den Objekten, d.h. darauf, wie die Erfahrung als Erfahrung des Gegenständlichen mittels Kategorien überhaupt möglich ist, hinausläuft.
Im Vorhaben Kants, zu zeigen, dass Erfahrung ausschließlich mittels Kategorien möglich ist, dank derer wir das Seiende a priori erkennen können, sah Heidegger das Problem des vorgängigen Seinsverständnisses. Hierbei sollte man jedoch die Tatsache hervorheben, dass Kant die Offenheit des Seienden oder die Offenheit des Menschen gegenüber dem Seienden als solchen als etwas Selbstverständliches ansah, da wir dem Seienden der «Kritik der reinen Vernunft» zufolge in der Wahrnehmung und in der Anschauung begegnen. Sollen wir Heidegger darin Recht geben, dass die «Kritik der reinen Vernunft» keine Erkenntnistheorie in diesem Sinne ist, weil Kant eher die Frage stellt, wie sich uns das schon-immer-geöffnete Seiende als Gegenstand darstellen kann, d. h. wie wir Gegenstände erkennen können?
2 Siehe: (Cassirer, 1931, 14); (Levy, 1932, 26).
Hierzu muss nun das Problem der Gegenständlichkeit der Gegenstände und seine Rolle in der Kant-Interpretation, die in den späten Arbeiten Heideggers in den Vordergrund rücken werden, näher betrachtet werden.
Gegenständlichkeit der Gegenstände
Dort, wo Heidegger in seinem Buch über Kant zum ersten Mal über «Gegenstände» spricht, setzt er diesen Ausdruck in Anführungszeichen (Heidegger, 1973, 13): Sie sind das Seiende («Gegenstände»), mit dem die ontische Erkenntnis nur dann übereinstimmen kann, wenn dieses Seiende zuvor schon als Seiendes offenbar, «d.h. in seiner Seinsverfassung erkannt ist» (Heidegger, 1973, 13). Der Gegenstand ist in dieser Bedeutung für uns nur das offenbare Seiende, die Erscheinung — in der Kantischen Terminologie, «der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung» (Kant, 1998, А 20/В 34), und Heidegger interpretiert anfangs den Kantischen Begriff des «Gegenstands» genau in diesem Sinne.
Er bestimmt den Gegenstand als das sich so an ihm selbst zeigende Seiende, d. h. als Erscheinendes, worauf die endliche Erkenntnis abzielt, im Gegensatz zum Ent-stand als dasjenige Seiende, das sich als Möglichkeit des Entstehenlassens des absoluten Erkennens zeigt: «Der Titel "Erscheinung" meint das Seiende selbst als Gegenstand endlicher Erkenntnis» (Heidegger, 1973, 31). Heidegger möchte hier die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis in den Vordergrund rücken. Kant setzt ebenso der absoluten Erkenntnis die menschliche Erkenntnis entgegen: Die Gegenstände müssen uns gegeben sein (Kant, 1998, В 72), da wir nicht über die Fähigkeit einer intellektuellen Anschauung verfügen und unsere Erkenntnis sich somit nach den Phänomena richten muss. Das Heidegger-sche Verständnis der Erscheinungen als «Gegenstände» und seine Ausrichtung auf das Problem der Transzendenz rückt recht bedeutsame Aspekte des Gegenstandsbegriffs bei Kant in den Hintergrund.3
Heidegger verweist darauf, dass der Gegenstand zu allen anderen Gegenständen in einer Beziehung intersubjektiver Bedeutsamkeit steht. Er stellt die Frage, wie die endliche Anschauung zu einer Erkenntnis werden kann, und kommt zu dem Schluss, dass im Erkennen das Seiende als ein sich jedermann gegenüber Öffnendes zugänglich wird: «.das Angeschaute ist nur erkanntes Seiendes, wenn jedermann es sich und anderen verständlich machen und dadurch mitteilen kann» (Heidegger, 1973, 27).
Um eine Erkenntnis zu sein, benötigt die endliche Anschauung jedes Mal solch einer Bestimmung der Anschauung durch das Denken als einer solchen, die intentional auf dieses oder jenes bezogen ist (Heidegger, 1973, 27). Erst durch die Verbindung von Anschauung und Denken («veritative Synthese») wird der Gegenstand in der «Einheit
3 Vgl.: (Cassirer, 1931, 9); (Levy, 1932, 11).
einer denkenden Anschauung» offenbar (Heidegger, 1986, 28), d.h. die Synthese des Denkens und der Anschauung öffnet das uns begegnende Seiende als einen Gegenstand. Somit fungiert Heideggers eigene Problematik der Öffnung des Seienden als Maßstab seiner Interpretation Kants.
Nach Heidegger ist für Kant das Seiende in der Erscheinung einfach «dasselbe Seiende wie das Seiende an sich, ja gerade nur dieses» (Heidegger, 1973, 31). Die Erscheinung ist nichts anderes als das Ding an sich, nur aus einer anderen Perspektive betrachtet (Heidegger, 1973, 32). Und obwohl Heidegger hinzufügt, dass das Seiende «sich dabei gemäß der Weise und Weite des Hinnehmen- und Bestimmenkönnens, über die eine endliche Erkenntnis verfügt», offenbart (Heidegger, 1973, 21), bestimmt er trotzdem den Gegenstand ursprünglich und vorwiegend als Gegebenes für die endliche Erkenntnis, als das aus sich selbst heraus entgegenstehende und sich so eröffnende Seiende (Heidegger, 1973, 87). Der Charakter der Möglichkeiten der Wahrnehmung und Bestimmung, über die die endliche Enderkenntnis verfügt, gehört somit als eine ontologische Erkenntnis lediglich zur Lösung der Möglichkeit des entgegen-stehenden Seienden (Heidegger, 1973, 71). Die ontologische Erkenntnis ermöglicht nur dies, dass «Seiendes von sich aus begegnen, d. h. als Gegenstehendes sich zeigen kann» (Heidegger, 1973, 72).
Heidegger schreibt der Offenbarkeit des Seienden für jedermann eine besondere Bedeutung zu. Dabei unterstreicht er, dass im Ent-stand des Gegenstands sich etwas zeigt, «was dawider ist» (Heidegger, 1973, 73), bzw. eine gewisse «vorgängige Wider-ständigkeit des Seins» (Heidegger, 1973, 74) anzeigt (wie Kant sagte, [seien] «...unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl, ober beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt», weil sie nur so notwendig miteinander übereinstimmen und sich auf diese Weise auf einen Gegenstand beziehen können (Kant, 1998, А 104)). Zur Gegenständlichkeit der Gegenstände gehört gleichzeitig laut Heidegger der «vorgängige und ständige Zusammenzug auf Einheit» als auf etwas Notwendiges, er «stellt <...> sich selbst eine Verbindlichkeit vor, die alles mögliche Zusammen im vorhinein regelt» (Heidegger, 1973, 74). Der Ent-stand des Gegenstandes ist deswegen möglich, weil die Vorstellung sich als ein sich selbst auf Einheit Beziehendes öffnet; und in dieser Vorstellung (Vor-aus-Setzung) der Einheit drückt sich der Charakter des «Dawiders» aus, der wiederum als Gegenständlichkeit der Gegenstände fungiert. Und da es der Verstand ist, in dessen Begriff die Vorstellung solch einer vereinigenden Einheit stattfindet, ist dies der reine Verstand «als das Vermögen des Gegenstehenlassens von <...>» (Heidegger, 1973, 74). Heidegger zeigt, dass gerade im «Gegenstehenlassen» als in der «Urhandlung des reinen Verstandes seine Angewiesenheit auf die Anschauung am schärfsten ans Licht kommen» (Heidegger, 1973, 75) muss.
Die Abhängigkeit des Verstandes von der Anschauung ist laut Heidegger das eigentliche Sein des Verstandes. Das reine Denken ist «in sich, nicht nachträglich, hinnehmend, d. h. reine Anschauung» (Heidegger, 1973, 154) und entspringt als «struk-tural einheitliche rezeptive Spontaneität» (Heidegger, 1973, 154) der transzendentalen
Einbildungskraft. Hier sieht Cassirer allerdings einen Widerspruch, denn die Verbindung von Verstand und Anschauung macht beide ja noch nicht voneinander abhängig (Cassirer, 1931, 10). Heidegger weicht natürlich von Kants Denken ab, wenn er den reinen Verstand als Anschauung interpretiert und die Kantische Unterscheidung von Denken und Anschauung in einem gewissen Sinne gar verwirft, weil sowohl das Denkvermögen als auch die Anschauung laut Heidegger aus der transzendentalen Einbildungskraft und letztlich aus dem entstehenden Selbst des Subjekts der Zeitlichkeit entstehen. Dennoch besteht die eigentliche «Leistung» des Verstandes in der Heideggerschen Interpretation des Denkvermögens als Anschauung und als transzendentale Einbildungskraft darin, dass wir durch ihn zum ersten Mal die Gegenständlichkeit bilden.
Man könnte nun bei dieser Einführung des Begriffs des «Dawider» fragen, ob der Begriff des Gegenstandes wirklich von Kant stammt? Einzelne Äußerungen Heideggers erscheinen auf den ersten Blick in der Tat als eine konsequente Interpretation Kants. Aber allein die Bemerkung, dass alles Seiende im sich vorher zuwendenden «Gegenstehenlassen» bestehe, macht diese Interpretation schon zu einer nicht im eigentlichen Sinne kantischen («Seiendes wird für ein endliches Wesen nur zugänglich auf dem Grunde eines vorgängig sich zuwendenden Gegenstehenlassens. Dies nimmt im Vorhinein das möglicherweise begegnende Seiende in den Einheitshorizont einer möglichen Zusammengehörigkeit» (Heidegger, 1973, 77)).
Somit ist das Seiende mit all seinen Bestimmungen schon immer vorhanden, wir sind nicht dazu fähig, es zu erzeugen, sondern lediglich als das und das zu interpretieren, und die Tatsache, dass es uns als solches begegnen kann, ist die Leistung des Denkvermögens, das die Einheit und Verbundenheit beibehält, weshalb sich das uns begegnende Seiende als ein in seiner Verbundenheit Befindliches erkennen lässt.
Damit sich Seiendes als solches «anbieten» kann, muss der Horizont seines möglichen Begegnens laut Heidegger «Angebotcharakter haben» (Heidegger, 1973, 90), und die Tatsache, dass sich dabei «der Transzendenzhorizont <...> nur in einer Ver-sinnlichung bilden» kann (Heidegger, 1973, 91), bedeutet, dass solcherer Art, die «aber gleichwohl nicht das Seiende darbietet» (Heidegger, 1973, 92), für die Verwirklichung der Seinsbegegnung eine Art Muster für den Vergleich (samt dem offenen Horizont alles Vergleichbaren) angeboten wird, wodurch Etwas zum ersten Mal überhaupt als Etwas wahrgenommen werden kann. Damit lässt sich Heideggers Interpretation des Schemas und der Grundlage der Substanz besser verstehen: Mittels der Schematisierung der Substanzkategorie erlangen wir in der Zeit die reine Form des Verbleibens, angesichts der sich «in diesem vorgängigen Blick auf das reine Bild von Beharrlichkeit für die Erfahrung ein im Wechsel unveränderliches Seiendes» als solches zeigen kann (Heidegger, 1973, 108).
Somit haben wir es hier nicht mit dem Kantischen Begriff der Gegenstandserkenntnis a priori zu tun, sondern mit dem Heideggerschen Begriff der «Welt» als Horizont, «woraufhin» sich der Entwurf der Bedeutsamkeit des innerweltlich begegnenden Seien-
den verwirklicht. Heidegger fragt nicht nach der inneren Möglichkeit der Erfahrung im Kantischen Sinne als «Zugang» zu bestimmten Naturgesetzen der Gegenstände, sondern eines im Horizont des In-der-Welt-seins sich vollziehenden Seins des menschlichen Daseins beim innerweltlich Begegnenden.
Was ist nun die Erkenntnis anderes als eine theoretische Offenbarung des Vorhandenen? Während Heidegger als Ziel der «Kritik der reinen Vernunft» und der Deduktion der Kategorien die problematische Formel der «Enthüllung der inneren Möglichkeit der Transzendenz» bezeichnet, beginnt er mehr von der Begegnung des Seienden (Heidegger, 1973, 77), von der Annahme des Seienden (Heidegger, 1973, 90) als von der Erkenntnis zu reden. Somit ist bei Heidegger nicht vom Erkennen als theoretischer Offenbarung die Rede, sondern davon, dass sich menschliches Dasein im Horizont des In-der-Welt-seins immer schon «draußen» bei innerweltlichem Seienden befindet (Heidegger, 1986, 62). Heidegger interessiert sich nicht so sehr für den Kantischen Begriff der Erfahrung als Erfahrung des Gegenständlichen, sondern er möchte vielmehr zeigen, dass Kant mit der «Enthüllung der Transzendenz» primär auf das Problem der Enthüllung der Subjektivität des Subjekts, das in der «Offenheit für das Seiende» (Heidegger, 1973, 50) besteht, ausgerichtet ist. Die von Kant vollzogene Analytik der Transzendenz ist für Heidegger die reine Phänomenologie der Subjektivität des Subjekts in seiner Endlichkeit (Heidegger, 1973 49), und Kants Frage nach den kognitiven Fähigkeiten, die das sich zuwendende «Gegenstehenlassen» ermöglichen, ist die Frage «nach der Subjektivität des transzendie-renden Subjektes als eines solchen» (Heidegger, 1973, 165).
Heidegger interpretiert die Subjektivität des Subjekts, so wie Kant, durch die Zeit: Die Zeit «als reine Selbstaffektion» bildet die Seinsstruktur der Subjektivität (Heidegger, 1973, 189), sie bildet somit «die endliche Selbstheit dergestalt, daß das Selbst so etwas wie Selbstbewußtsein sein kann» (Heidegger, 1973, 190). Auf dem Weg dieser Interpretation entdeckt Heidegger, dass die von Kant unterschiedenen Fähigkeiten der Anschauung und des Denkvermögens in der transzendentalen Einbildungskraft als ihrer gemeinsamen Wurzel verbunden sind und diese ihren inneren Zusammenhang ermöglicht; sie erlaubt ihnen — als einzige Fähigkeit — in der gegenseitigen Verbundenheit zu entstehen.
Die transzendentale Einbildungskraft selbst als «Wurzel der Transzendenz» ist auf andere, noch ursprünglichere «Möglichkeiten» zurückbezogen, «so daß die Bezeichnung "Einbildungskraft" von selbst unangemessen wird» (Heidegger, 1973, 140), nämlich auf einen Ansatz, den Kant laut Heidegger nicht durchführte und nicht einmal durchzuführen versuchte, «trotz der deutlichen, von ihm selbst erstmals erkannten Vorzeichnungen zu einer solchen Analytik» (Heidegger, 1973, 160). Das transzendentale Vorstellungsvermögen ist die ursprüngliche Zeit (Heidegger, 1973, 108), die ihrerseits den Charakter der Selbstheit hat. So gelangt Heidegger in seinem Buch über Kant zum zentralen Moment von «Sein und Zeit» — zur Offenbarung der Sorge als Zeitlichkeit. Die Rechtfertigung einer solchen Interpretation ist fraglich, und Heidegger selbst spricht von einer textuellen
Gewaltanwendung. Cassirer sieht diese «Gewalt» noch kritischer: Heidegger stelle sich hier nicht wie ein Kommentator dar, sondern als Usurpator (Cassirer, 1931, 17).
Was die ursprüngliche Begründung der Subjektivität des Subjekts betrifft, so hatte sich Kant diese nie zu seinem Hauptziel gemacht, obwohl er ihre Möglichkeiten kannte (Heidegger, 1973, 170). Und auch wenn Kant die subjektive Deduktion nicht ausführte, «blieb ihm die Subjektivität des Subjektes in der Verfassung und der Charakteristik leitend, die sich ihm durch die überlieferte Anthropologie und Psychologie anbot» (Heidegger, 1973, 167). Über die zweite Auflage der «Kritik der reinen Vernunft» schreibt Heidegger: «Nur hat sich in der transzendental subjektiven Grundlegung die zweite Auflage für den reinen Verstand gegen die reine Einbildungskraft entschieden, um die Herrschaft der Vernunft zu retten», und so wird es «jetzt überflüssig, den Verstand auf ursprünglichere "Erkenntniskräfte" zurückzuführen» (Heidegger, 1973, 170). Kant wurde vom transzendentalen Einbildungsvermögen «abgeschreckt». Deswegen wollte Heidegger zeigen, dass seine Interpretation der transzendentalen Einbildungskraft als Wurzel beider Erkenntnisstämme nicht nur möglich, sondern sogar notwendig ist, und dies sollte angeblich Heideggers Bemühen begründen, in seiner Kant-Interpretation aufzuweisen, was Kant «sagen wollte».
Ursprüngliche Zeitlichkeit
Im Mittelpunkt von Heideggers Kant-Buch steht seine Interpretation der Zeit. Heidegger sieht in der Kantischen Theorie einen Versuch, auf der Grundlage der Ontolo-gie des Vorhandenen und aus dem Horizont der Zeit sowohl das Selbst-Verständnis des Subjekts in seinem Sein als auch sein Verständnis des Seienden als solchen zu bestimmen. Wie bereits erwähnt, geht es Heidegger in seiner Interpretation der «Kritik der reinen Vernunft» um eine folgerichtige Bestätigung und Entwicklung der These, wonach die Kantische «Kritik der reinen Vernunft» die erste konkrete Begründung der Metaphysik ist. Das Ziel Heideggers war es, das «Problem der Metaphysik» als Problem der Fundamentalontologie herauszustellen. Einerseits projiziert Heidegger seinen eigenen Verständnishorizont auf die Kantische Problematik, andererseits ist es für ihn aber auch wichtig, eine Entsprechung seiner eigenen Frage nach dem Seinsverständnis des menschlichen Daseins mit dem Kantischen Projekt der Aufdeckung der apriorischen Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis herzustellen. In der Vorlesung aus dem Jahr 1927/28 schreibt er:
Radikalisiert man das Kantische Problem der ontologischen Erkenntnis in dem Sinne, daß man es nicht nur auf die ontologische Fundierung der positiven Wissenschaften beschränkt und es ferner nicht als Urteilsproblem faßt, sondern als die radikale und fundamentale Frage nach der Möglichkeit des Verstehens des Seins überhaupt, dann ergibt sich die philosophische Fundamentalproblematik von Sein und Zeit. Die Zeit ist
nicht mehr im Sinne des vulgären Zeitbegriffs verstanden, sondern als Zeitlichkeit im Sinne der ursprünglichen Einheit der ekstatischen Verfassung des Daseins, und das Sein ist nicht mehr verstanden im Sinne des Vorhandenseins von Natur, sondern im universalen Sinne, der alle Möglichkeiten der regionalen Abwandlung in sich befaßt. <.. > Universalität des Seins und Radikalität der Zeit sind die beiden Titel, die in Einheit die Aufgaben bezeichnen, die ein weiteres Durchdenken der Möglichkeit der Metaphysik fordert (Heidegger, 1977, 426).
Der Schlüssel zur ontologischen Interpretation der «Kritik der reinen Vernunft» ist für Heidegger die Zeit als zentrale Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis bei Kant. Dies macht es für ihn möglich, das Kantische Problem der Möglichkeit von Erfahrung als das Transzendenzproblem darzustellen: Die produktive Vorstellung und die ihr zugrunde liegende ursprüngliche Zeit bilden eine vereinende Grundlage, die «Möglichkeit der Synthese überhaupt» als Möglichkeit des Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Verstand, deren Einheit den Horizont von Gegenständlichkeit kreiert, d.h. die Möglichkeit der Begegnung mit dem Seienden, den Durchbruch zum Seienden, das Transzendieren. Von einer solchen Rekonstruktion des Kantischen kritischen Projekts der Erkenntnis im Ganzen ausgehend, macht Heidegger das Problem des transzendentalen Schematismus, der Einbildungskraft und der Selbstaffektion insofern zu einem fundamental-ontologischen Problem, als er einen «Problemknoten» knüpft, den wir hier zu lösen versuchen. Dies lässt sich folgendermaßen darstellen: Schematismus ^ Transzendenz ^ Endlichkeit.
Heidegger versteht die Zeit a priori als eine unthematische, vorausgehende Hinblick-nahme, die jeglicher Erfahrung vorausgeht. Diese Bestimmung kann man «kantisch» nennen — mit einem gewissen Vorbehalt, der sich in erster Linie auf die hier verwendete Terminologie bezieht; die Interpretation der Zeit jedoch als unendlicher Aufeinanderfolge der Jetztmomente ist völlig unkantisch, ebenso Heideggers These, die Zeit sei als reines Bild aller sinnlichen Gegenstände ein reines Bild der Kategorien. Aber gerade diese «unkantische» Zeitdefinition ist für Heideggers Interpretation des transzendentalen Schematismus zentral, insofern er die Meinung vertritt, dass die Definition der Zeit im Gegenstands-Konstituierenden, d.h. im ontologischen Sinne expliziert wird. Hier bildet die Zeit in der reinen Art und Weise «die einzige Anblicksmöglichkeit» (Heidegger, 1973, 104) der Kategorien und verleiht diesen eine gegenständliche Bedeutung; deswegen kann man anhand der Zeitstruktur anschaulich den Regelcharakter der Kategorien «ablesen». So ist laut Heidegger die Zeit selbst im Schema abgebildet. Das prägnanteste Beispiel einer solchen Interpretation sind Heideggers Erläuterungen des Substanzschemas. Die Zeit ist, schreibt er, das Schema der Substanz. Obwohl er wohl bemerkt, dass das Substanzschema für Kant die Beständigkeit des Realen in der Zeit bedeutet, erlaubt uns dieses Schema laut Heidegger zum ersten Mal dem Realen als Selbigem zu begegnen. Deswegen, schlussfolgert er, ist das Substanzschema das Beständige an und für sich, das die Zeit selbst erst anschaulich macht (Heidegger, 1973, 108). Dieses Beständige wird von ihm von der Zeitkonzeption ausgehend als «reine Jetztfolge»
interpretiert. Als stetige Aufeinanderfolge homogener Momente ist die Zeit in jedem Jetzt genau jetzt (Heidegger, 1973, 108), d.h. beständig und verbleibend. Sie gibt eine reine Art der Beständigkeit (des Verbleibens) überhaupt. Die Zeit ist bei Kant, wie Heidegger meint, nicht nur eine Form der Sinnlichkeit, sondern ein reiner, die Strukturen umfassender Anblick, in Anbetracht dessen das Seiende allererst begegnen kann. Diese Zeitstrukturen — die Schemata — sind anschauliche Regeln für die Veranschaulichung der Verstandesbegriffe, die ihnen zuallererst eine ontologische Bedeutung verleihen.
Für die Bestätigung dieser These geht Heidegger zur Interpretation der transzendentalen Einbildungskraft als gemeinsamer Wurzel verschiedener Erkenntnisstämme — der Sinnlichkeit und dem Verstand — über.
Zunächst richtet Heidegger seine Aufmerksamkeit auf das «Mißverhältnis» zwischen der Dreiheit der Erkenntniskräfte (Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Vernunft) und der Dualität der Erkenntnisquellen (Sinnlichkeit, Verstand). Die transzendentale Einbildungskraft wird heimatlos (Heidegger, 1973, 136). Wenn sie aber eine «Grundfähigkeit der menschlichen Seele ist», ist sie dann nicht genau jene Wurzel, aus der die beiden Stämme der menschlichen Erkenntnis wachsen? Für die Demonstration der transzendentalen Einbildungskraft als Ur-Quelle dieser Fähigkeiten, entfaltet Heidegger einen transzendentalen Gedankengang, dessen Ausgangspunkt die Postulierung der inneren Bewusstseinseinheit bildet: «Daß die Einheit nicht Ergebnis eines Zusammengeratens der Elemente, sondern selbst das ursprünglich Einigende sein soll, kündigt sich in ihrer Benennung als "Synthesis" an» (Heidegger, 1973, 60). Sich auf Kant berufend:
Die Synthesis überhaupt ist <...> die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind (Heidegger, 1973, 63).
Daraus zieht Heidegger den Schluss, dass «jede Synthese die Wirkung der Einbildungskraft» sei (Heidegger, 1973, 127) und folglich als «ursprüngliche reine Synthesis die Wesenseinheit von reiner Anschauung (Zeit) und reinem Denken (Apperzeption)» bilde (Heidegger, 1973, 127). Somit ist die transzendentale Einbildungskraft die gesuchte Grundlage für den inneren Zusammenhang der ontologischen Erkenntnis.
Heidegger gelingt es, die transzendentale Einbildungskraft als eine solche Einheit von Sinnlichkeit und Verstand auszulegen, in der sich der Horizont von Gegenständlichkeit überhaupt herausbildet, indem er diese kognitiven Fähigkeiten als Vorstellungsweisen endlicher Enderkenntnis begreift. Das Vorstellen sollte man hier ontologisch verstehen, d.h. als ursprünglichen Raum der Offenlegung des Ortes für das Begegnenlassen des Gegenstands, der überhaupt widersteht, als Bedingung der Begegnung des «Subjekts» mit dem «Objekt» (Darbieten, Vorhalten, Vorbilden) (Heidegger, 1973, §29). Dieser Begegnung liegt die transzendentale Einbildungskraft als Ur-Zeit zugrunde, die sich selbst zeitigt, und deswegen ohne Grund auskommt. Dabei führt Heidegger eine beachtenswerte
Differenzierung zwischen der «Zeit des Treffens der Gegenstände» (reine Jetztfolge) und der «Zeit des Entspringenlassens der Gegenstände» (ursprüngliche Zeit) ein:
Sonach muß zwar die Zeit in dem Horizont, innerhalb dessen wir «mit der Zeit rechnen», als reine Jetztfolge genommen werden. Diese Jetztfolge ist aber keineswegs die Zeit in ihrer Ursprünglichkeit. Die transzendentale Einbildungskraft vielmehr läßt die Zeit als Jetztfolge entspringen und ist deshalb — als diese entspringenlassende — die ursprüngliche Zeit (Heidegger, 1973, 176).
Heidegger besteht darauf, dass «die Herausarbeitung des inneren Zeitcharakters der drei Modi der Synthesis den letzten entscheidenden Beweis dafür vorlegen [soll], daß die Interpretation der transzendentalen Einbildungskraft als der Wurzel der beiden Stämme nicht nur möglich, sondern notwendig ist» (Heidegger, 1973, 178). Die Behauptung der transzendentalen Einbildungskraft als Stammwurzel der menschlichen Erkenntnis bedeutet für Heidegger die Zusammenführung der Sinnlichkeit und des Verstandes, und anschließend die Offenlegung dieser drei als horizontal-ekstatischer Fähigkeiten der ursprünglichen Zeitlichkeit. Die Verwurzelung der transzendentalen Einbildungskraft in der ursprünglichen Zeit ist das einzige, kraft dessen «die transzendentale Einbildungskraft überhaupt die Wurzel der Transzendenz sein kann» (Heidegger, 1973, 196), denn die ursprüngliche dreierlei-vereinende Zeit ermöglicht die Möglichkeit der reinen Synthese, d.h. «das, was sie vermag, nämlich die Einigung der drei Elemente der ontologischen Erkenntnis, in deren Einheit sich die Transzendenz bildet» (Heidegger, 1973, 196). Dies beweist noch einmal den Ursprungspunkt des Heideggerschen Systems der transzendentalen Voraussetzungen: Die innere Einheit der Erkenntniskräfte (Fähigkeiten) bildet den Horizont der Gegenständlichkeit, die Möglichkeit der «Begegnung mit dem Seienden», d.h. die Transzendenz, die sich in der ursprünglichen Zeit zeitigt, und gleichzeitig die transzendentale Einbildungskraft als Fähigkeit der reinen Synthese möglich macht. Somit geschieht die Gleichsetzung der Transzendenz mit der «Erfahrungsmöglichkeit». Heidegger kommentiert diesen Moment, in dem er zum Kantischen «höchsten Prinzip aller synthetischen Urteile» greift: «.die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung» (Kant, 1998, B 197). Als entscheidenden Gehalt dieses Prinzips unterstreicht Heidegger das «zugleich sein»: «Es bringt die Wesenseinheit der vollen Transzendenzstruktur zum Ausdruck. <...> [D]as ein Erfahren Ermöglichende ermöglicht zugleich das Erfahrbare bzw. Erfahrene als ein solches» (Heidegger, 1973, 119). Die Struktur der Transzendenz ist ekstatisch-horizontal:
Das im endlichen Erkennen vorgängig und jederzeit notwendige Hinausgehen zu. ist demnach ein ständiges Hinausstehen zu. (Ekstasis). Aber dieser wesenhafte Hinausstand zu. bildet gerade im Stehen und hält sich darin vor: einen Horizont (Heidegger, 1973, 119).
Die Transzendenz zeitigt sich in der ursprünglichen Zeit, und die Zeitlichkeit, die aus den Modi der reinen Synthesis besteht — in der reinen Apprehension, der reinen Reproduktion und der reinen Rekognition. Auf diese Art und Weise kehren wir, indem wir einen Kreis durchlaufen haben, zur grundlegenden Einheit der ontologischen Erkenntnis zurück — zur transzendentalen Einbildungskraft und zur Analyse ihrer Modifikationen — der drei Synthesen.
Nun muss noch die Klärung des zeitlichen Charakters des Subjekts «vom rechtbegriffenen Subjektcharakter der Zeit» (Heidegger, 1973, 188) her geleistet werden.
Zu Beginn bemerkt Heidegger, indem er auf Kant verweist, dass die Zeit außerhalb des Subjekts nichts ist (Kant, 1998, B 50), was bedeutet, dass «im Subjekt alles ist» (Heidegger, 1973, 188). Heidegger verfolgte von Anfang an die Absicht, die Einheit der Subjektivität offenzulegen, die bei Kant lediglich skizziert, aber anschließend nicht ausgeführt wurde. Den Ansatz der Einheitstheorie der Subjektivität sieht er in Kants Lehre über die Selbstaffektion angelegt. Heidegger identifiziert die ursprüngliche Zeit und die transzendentale Apperzeption als reine Selbstaffektion, Selbstwirkung. Da das Wesen der Sinnlichkeit und des Verstandes in ihrem Zusammenwirken die Zeit, die als Einbildungskraft verstanden wird, bilden, besteht die Wirksamkeit des transzendentalen «Ich» laut Heidegger in der Selbstaffektion. Die Zeit ist diese Selbstaffektion.4 Heidegger berücksichtigt nicht Kants Aufweisung des Zusammenhangs der Synthesis der Re-kognition mit der Synthesis der Apprehension, er möchte vielmehr die transzendentale Apprehension als Einheit der drei Zeitmodi darstellen. Besonders deutlich wird dies in seiner Vorlesung aus den Jahren 1927/28 am Beispiel des Schemas, das im ersten Fall die Verbindung der drei Synthesen bei Kant und im zweiten die Interpretation dieser Syntheseeinheit durch Heidegger demonstriert (Heidegger, 1977, 368):
1. Kant
Synthesis der Apprehension Synthesis der Reproduktion
} Synthesis der _, Transz.
Rekognition H^V Apprehension
Einbildungskraft
Anschauung rezeptiv
Subjekt
— Denken
spontan
4 «Die Zeit ist ihrem Wesen nach reine Affekttion ihrer selbst» (Heidegger, 1973, 189). HORIZON 4 (2) 2015
2. Interpretation
Synthesis der Praekognition Zeit - Synthesis der Apprehension
Transz. Apprehension
Reine zeitbezogene imaginative Synthesis Einbildungskraft Zeitlichkeit als Grundverfassung des Subjekts
Aus diesem Schema geht hervor, dass die Zeit, die sich mittels dreier Modi der reinen Synthese zeitigt (Präkognition — die an erster Stelle steht, Apprehension und Reproduktion), aus der transzendentalen Apprehension resultiert, weshalb die Zeit und das «Ich denke» sich nicht widersprechen, sondern letztlich identisch sind. Die Prozedur der Gleichsetzung findet bei Heidegger deswegen statt, weil er seine Aufmerksamkeit auf das seiende Zusammentreffen der Prädikate der Zeit und des «Ich» bei Kant richtet:
In der transzendentalen Deduktion wird das transzendentale <...> Wesen des Ich also gekennzeichnet: «Denn das stehende und bleibende Ich (der reinen Apperzeption) macht das Korrelat aller unserer Vorstellungen aus...» (А 123). Und im SchematismusKapitel, in dem das transzendentale Wesen der Zeit ans Licht kommt, sagt Kant von der Zeit: «Die Zeit verläuft sich nicht...», die Zeit, «die selbst unwandelbar und bleibend ist» (А143, В 183). Und später: «Die Zeit bleibt und wechselt nicht» (Heidegger, 1973, 192).
Daraus schließt er, dass das «Ich» dermaßen zeitlich ist, dass es die Zeit selbst ist — dies ist ja auch anhand des Interpretationsschemas ersichtlich.
Die Kantische Lehre von der Selbstaffektion stellt einen genuinen Unterschied zwischen dem inneren Gefühl und der reinen Apprehension heraus. Heidegger unternimmt den Versuch, den von Kant nur angedeuteten, jedoch nicht explizierten Zusammenhang zwischen der Selbstaffektion, dem inneren Gefühl und der Apprehension offenzulegen (Heidegger, 1973, §34). Er sieht in ihnen nicht verschiedene Fähigkeiten, sondern strukturelle Momente der Subjektivität, die zeitliche Bestimmungen vorzeichnen und somit das Seinsverständnis bilden. Die Subjektivität erweist sich somit als die Zeitselbst, die Selbstaffektion für ihn auf diese Weise die gesuchte funktionale Verbindung herstellt, in der die Spontaneität der reinen Apprehension und die Rezeptivität des inneren Gefühls
zusammenwirken und durch sie der transzendentalen Subjektivität als Ganzem zugehören: «Die reine Selbstaffektion gibt die transzendentale Urstruktur des endlichen Selbst als eines solchen» (Heidegger, 1973, 191). Da Heidegger die Selbstaffektion als Zeit interpretiert und diese als unthematischen Vorblick der Möglichkeit des Sich-angehen-lassens versteht, ist die Selbstaffektion das Sich-selbst-angehen des Subjekts. Durch diese Interpretation der Selbstaffektion begründet Heidegger das innere Gefühl und die reine Apprehension in einer gewissen Struktur der Selbstbezüglichkeit des Subjekts; das innere Gefühl und die reine Apprehension sind somit lediglich konstitutive Momente dieser Struktur. Diese Selbstbezüglichkeit bedeutet für Heidegger die Zugänglichkeit des Ich für sich selbst in der Möglichkeit des Sich-angehen-lassens durch das Seiende.
Die Zeit ist also ein unthematischer Horizont, in Anbetracht dessen das Seiende begegnen kann, und dieses bildet das Wesen als etwas wie das Sich-selbst-angehen des Subjekts, ein Sich-zugänglich-sein im Begegnen-lassen von Seiendem.
Die ursprüngliche Zeit als Urganzheit des Subjekts besitzt die Ekstatizität, zeigt sich zum ersten Mal als reine Synthese der Einbildung und ist deswegen die grundlegendste Basis der Transzendenz, welche die Endlichkeit der menschlichen Selbigkeit bedeutet, die dem endlichen Wesen das Seiende an sich zugänglich macht. Heidegger interpretiert das Prinzip der Transzendenz als Prinzip der Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis. Darin besteht der oben benannte Problemknoten.
Es gibt nicht wenige grundlegende «Verschiebungen» in der Heideggerschen Interpretation Kants. Und außerdem schenkt Heidegger, der Kant für einen Metaphysiker hält, etwa der Transzendentalen Dialektik in der «Kritik der reinen Vernunft», obwohl diese ja «unvermeidliche» metaphysische Fragen behandelt, nur wenig Aufmerksamkeit.
Auf der Basis des Gesagten kann man schlussfolgern, dass das Werk Heideggers keine traditionell verstandene historisch-philosophische Analyse beinhaltet. Im Buch «Kant und das Problem der Metaphysik» folgt Heidegger zwar dem Kantischen Gedanken, aber nicht Kant selbst: Er versucht, aus den Gedanken Kants maximale Möglichkeiten für die Klärung des Transzendenzthemas zu gewinnen, das für ihn das Thema der Zugänglichkeit des Daseins ist. Deswegen besteht der zentrale Punkt der Heide-ggerschen Interpretation Kants in der Behauptung, dass es in der «Kritik der reinen Vernunft» um eine ontologische Problematik, um die Frage nach der Möglichkeit von Seinsverständnis geht.
Kant schreibt sich in die klassischen Koordinaten des Subjekt-Objekt-Verhältnisses ein, während für Heidegger das vorgängige Seinsverständnis nicht etwas «auf der Seite des Subjekts» ist, sondern eher das Umgreifende für die «Koordinaten» der ontologischen Situation bildet. Kant denkt die Ontologie als eine Aufgabe, als das Endergebnis eines bestimmten Weges — des Weges der transzendentalen Untersuchung. Für die Heidegger-sche Analyse bleibt dieser Umstand jedoch hinter dem Problemhorizont zurück, weswegen die Hauptidee seiner Ontologie, nämlich den Sinn von Sein aus dem Horizont der Zeit heraus zu verstehen, ihre Bestätigung in der «Kritik der reinen Vernunft» finden muss.
Die Zeit ist für Heidegger der Horizont der Offenbarung der Hauptstrukturen der phänomenologischen Untersuchung. Die Zeit ist für Kant die zentrale Struktur der transzendentalen Erkenntnis, d.h. die Analyse, die von dieser oder jener Zeitinterpretation bestimmt wird, hat den Charakter des vereinenden Ursprungs für das ganze Kantische System. Die zeitliche Analyse ist in jeder der methodologischen philosophischen Bestimmungen — der kritischen und der phänomenologischen — auf die verschiedenen Grundlagen der Metaphysik als Wissenschaft gerichtet.
REFERENCES
Cassirer, Е. (1931). Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretationen. Kant-Studien, 36, 1-26.
Heidegger, M. (1973). Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt a. M.: V. Klostermann.
Heidegger, M. (1976a). Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21). Frankfurt a. M: V. Klostermann.
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Heidegger, M. (1977). Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (GA 25). Frankfurt a. M.: V. Klostermann.
Heidegger, M. (1986). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer.
Kant, I. (1998). Kritik der reinen Vernunft . Hamburg: Felix Meiner.
Levy, H. (1932). Heideggers Kantinterpretation. Zu Heideggers Buch «Kant und das Problem der Metaphysik». Logos, 31, 1-43.