RAWUMS - DIE "JUNGEN WILDEN" DER LITERATUR. "POPAUTOREN" DER 1980er
JAHRE
This is an open access article
distributed under the Creative © 2019. E. Stahl
Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)
Heinrich-Heine-Institut der Landeshauptstadt Düsseldorf Rheinisches Literaturarchiv,
Düsseldorf
Datum der Artikelübergabe. 23. Januar 2019 Veröffentlichungsdatum: 25. September 2019
Annotation: Pop-Literatur — diese Bezeichnung kam Mitte der 1990er Jahre auf.
Wissenschaftlich ist der Terminus bislang kaum befriedigend definiert. Als MarketingBegriff schlug das Etikett jedoch ein, wie eine Bombe. An dieser ersten erfolgreichen Welle von Pop-Literatur (Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, Elke Naters) hatte der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch maßgeblichen Anteil. Weniger bekannt ist, dass der Verlag schon Anfang der 1980er Jahre eine solche popliterarische Attacke ritt, die allerdings, wohl auch weil das zündende Werbe-Badge, das „P"-Wort, fehlte, im Sande verlief. Einen Startpunkt markierte der Band „Der große Hirnriss" (1983) von Niklas Stiller und Peter Glaser, noch bei Rowohlt erschienen. Wenig später folgte Rainald Goetz' Intervention beim Bachmannpreis, bei der er sich publikumswirksam die Stirn aufschlitzte. Kurze Zeit darauf erschien sein erster Roman "Irre". Die programmatisch gemeinte Anthologie Rawums!, die ebenfalls Peter Glaser bei Kiepenheuer & Witsch herausgab, vereinte jene Autorinnen und Autoren, viele davon aus dem Umfeld der Musikzeitschrift SPEX, von denen man sich eine junge wilde Literatur erwartete, analog zur Malerei der „Neuen Wilden", die gerade Furore machte. Quasi im Nachgang dieser kurzen Blüte einer frühen Popliteratur in den 1980er Jahren publizierte Joachim Lottmann sein Buch "Mai, Juni, Juli", das so etwa wie das "missing link" zur Popliteratur der 1990er Jahre darstellt. Der Aufsatz beleuchtet die Marketingstrategien des Verlags ebenso wie die literarischen Inhalte der Protagonisten.
Stichwörter: Pop, 1980er Jahre, deutsche Literatur, Rainald Goetz, Peter Glaser, Hubert Winkels, Joachim Lottmann, Popliteratur
Informationen zum Autor: Enno Stahl — Dr. Phil., Heinrich-Heine-Institut der
Landeshauptstadt Düsseldorf Rheinisches Literaturarchiv Bilker Straße 12-14 40213 Düsseldorf.
E-mail: stahl@duesseldorf.de
Zum Zitieren: Stahl E. Rawums — Die „Jungen Wilden" Der Literatur. „Popautoren" Der 1980er Jahre. Studia Litterarum, 2019, vol. 4, no 3, pp. 136-157. (In German) DOI: 10.22455/2500-4247-2019-4-3-136-157
RAWUMS - "WILD YOUNG PEOPLE
IN LITERATURE. "POP-AUTHORS
OF THE 1980s
This is an open access article
distributed under the Creative © 2019. E. Stahl
Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)
Düsseldorf Heinrich Heine Institute Literary
Archive, Düsseldorf
Received: January 23, 2019
Date of publication: September 25, 2019
Abstract: The term popliterature emerged in the middle of the 1990s. Although there is no
satisfactory definition of the term's exact meaning, it has proven to be very successful as a code for marketing activities. The publishing house Kiepenheuer & Witsch played important role in the first successful wave of popliterature in the 1990s. It is less known that the publisher promoted a similar popliterary attack already in the 1980s, which failed perhaps because the flashing promotion badge, the "p-word" was absent. The starting point was a book Der große Hirnriss by Peter Glaser and Niklas Stiller published by the Rowohlt publishing house. It was followed by Rainald Goetz intervention in the ceremony of a famous Bachmann-prize when he gained publicity by cutting himself a forehead. Shortly after, there appeared his first novel Irre. The groundbreaking anthology "Rawums!" edited by Peter Glaser and published again by Kiepenheuer & Witsch, brought together authors many of whom formed a circle around a music magazine SPEX. They intended to create new "wild" literature analogous to the paintings of "Jungen Wilden" who were gaining popularity in those days. The last achievement of the brief blossom of popliterature in the 1980s was Joachim Lottmann book Mai, Juni, Juli (May, June, July) which was something like the "missing link" between popliterature of the 1980s and 1990s.
Keywords: Pop, the 1980s, German literature, Rainald Goetz, Peter Glaser, Hubert Winkels, Joachim Lottmann, popliterature.
Information about the author: Enno Stahl, Dr. Phil. Düsseldorf Heinrich Heine Institute Literary Archive, Düsseldorf, Bilker Straße 12-14 40213 Düsseldorf.
E-mail: stahl@duesseldorf.de
For citation: Stahl E. Rawums — "Wild Young People" in Literature. Pop-authors of the 1980s. Studia Litterarum, 2019, vol. 4, no 3, pp. 136-157. (In German) DOI: 10.22455/2500-4247-2019-4-3-136-157
RAWUMS - «НЕИСТОВЫЕ МОЛОДЫЕ» ОТ ЛИТЕРАТУРЫ. «ПОП-АВТОРЫ» 1980-х гг.
© 2019 г. Э. Шталь
Литературный архив Института Генриха Гейне города Дюссельдорфа, Дюссельдорф
Дата поступления статьи: 23 января 2019 г. Дата публикации: 25 сентября 2019 г. DOI: 10.22455/2500-4247-2019-4-3-136-157
Аннотация: В статье освещаются основные этапы развития немецкой поп-литературы 1980-х гг., а также маркетинговые стратегии издательства Kiepenheuer & Witsch в отношении ее главных представителей. Возникновение термина поп-литература относят к середине 1990-х гг. До сих пор нет точного определения того, что именно он означает, но термин был востребован в маркетинге. Большую роль в первой волне успеха поп-литературы девяностых сыграло издательство Kiepenheuer & Witsch. Менее известно, однако, что издатель продвигал аналогичную поп-литературную программу уже в 1980-е гг., которая не имела успеха, по-видимому, из-за отсутствия надлежащей рекламы. Отправной точкой стала книга «Der große Hirnriss» (1983) Петера Глейзера и Никласа Стиллера, вышедшая в издательстве Rowohlt. Позже последовала знаменитая выходка Рейнальда Гетца, когда он во время присуждения премии Ингеборг Бахман порезал себе лоб, чем сразу же снискал себе большую известность. Вскоре вышел и его первый роман «Irre». Выпущенная Питером Глейзером в издательстве Kiepenheuer & Witsch программная антология «Rawums!», объединила авторов, многие из которых группировались вокруг музыкального журнала SPEX. В них увидели рождение новой «неистовой» литературы, аналогичной произведениям представителей широко известного в то время художественного объединения «Неистовая молодежь». Последним актом этого короткого расцвета ранней поп-литературы восьмидесятых стала публикация книги Йоахима Лотмана «Май, июнь, июль» («Mai, Juni, Juli»), представлявшей что-то вроде недостающего связующего звена с поп-литературой девяностых.
Ключевые слова: поп-литература, 1980-е гг., немецкая литература, Рейнальд Гетц, Петер Глейзер, Хьюберт Винкельс, Иоахим Лотман.
Информация об авторе: Энно Шталь — доктор филологии, Литературный архив
Института Генриха Гейне города Дюссельдорфа, Дюссельдорф, Билкер Штрассе 12-14 40213 Дюссельдорф.
E-mail: stahl@duesseldorf.de
Для цитирования: Шталь Э. Rawums — «неистовые молодые» от литературы. «Поп-авторы» 1980-х гг. // Studia Litterarum. 2019. Т. 4, № 3. С. 136-157. DOI: 10.22455/2500-4247-2019-4-3-136-157
УДК 821.112.2 ББК 83.3(4Гем)7
Popliteratur — dieser Terminus, zwischenzeitlich geradezu grassierend — kam erst Mitte der 1990er Jahre so richtig auf. Wissenschaftlich ist er bislang kaum befriedigend definiert. Als Marketing-Begriff schlug das Etikett jedoch ein wie eine Bombe. An dieser ersten erfolgreichen Welle von Popliteratur (Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, Elke Naters) hatte der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch maßgeblichen Anteil. Weniger bekannt ist, dass KiWi1 schon Anfang der 1980er Jahre eine solche popliterarische Attacke ritt, die allerdings, wohl auch weil das zündende Werbe-Badge, das „P"-Wort, fehlte, im Sande verlief. Auch in jener Zeit nämlich hatten Autorinnen und Autoren Tiefsinn und Hypersensibilität den Kampf angesagt, der „Neuen Subjektivität"2, also der Literatur der 1970er Jahre mit frischen, witzigen und provokativen Texten begegnen wollen.
Den Auslöser dafür hatte natürlich die Musik gegeben, Punk und Neue Deutsche Welle3. Eine wichtige Rolle im Zuge der hier behandelten Entwicklungen spielte Düsseldorf. In dieser Stadt war ein Epizentrum dieser neuen Musikströmungen, der Ratinger Hof4 Comma Ende der 1970er Jahre ein Kristallisationspunkt der Punk-Bewegung mit bundesweiter Ausstrahlung, Bands wie Mittagspause, Fehlfarben, auch die Toten Hosen5 gingen daraus hervor. Nur
1 Im deutschen Literaturbetrieb übliche Abkürzung des Verlagsnamens Kiepenheuer & Witsch.
Der Verlag selbst nutzt sie ebenfalls.
2 Als Neue Subjektivität bezeichnet man eine Strömung der deutschen Literatur in den 1970er
und 1980er Jahren, sie war besonders geprägt durch Innerlichkeit und Subjektivitätsbezug.
3 Musikstil im Deutschland der 1980er Jahre: Beeinflusst von der New Wave im anglo-
amerikanischen Raum, schufen auch deutsche Bands leichte, unangestrengte Musik mit deutschen
Texten.
4 Der Ratinger Hof war ein legendärer Punk-Club in Düsseldorf.
5 (Heute) weltberühmte Düsseldorfer Punkband.
wenig später, Anfang der 1980er Jahre, kreiierten junge Musiker, wie Der Plan6 oder D.A.F.7, ein spezifisches Genre elektronischer Musik, das die eigentliche, die Urzelle jener Neuen Deutschen Welle darstellte, die schnell im Zeichen des kommerziellen Hypes zu einer aktualisierten Form des deutschen Schlagers mutierte. Mit den musikalischen Umwälzungen setzte zugleich eine maßgebliche Veränderung von Habitus und Lifestyle ein sowie ein — auch weltanschaulich nuancierter — Bruch mit der Hippie- und Öko-Bewegung.
Doch zuvor ein Blick auf die Problematik des Popliteratur-Begriffs8, schwierig daran ist zweierlei: Einerseits gibt es eine Vielzahl an Stilen und Ausdrucksformen, die sich seit den 1960er Jahren in ein gleichwie geartetes Verhältnis zur Popkultur setzten und setzen. Dafür stehen so unterschiedliche Namen wie Rolf Dieter Brinkmann, Hubert Fichte, Wolf Wondratschek, ja selbst Peter Handke in seinen Anfängen, dazu Jürgen Ploog, Jörg Fauser, Rainald Goetz, Thomas Meinecke, Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre oder Dietmar Dath. Phänotypisch reicht das von Alltagslyrik, Underground- und Trash-prosa zur feuilletonistischen Zeitgeistprosa der 1990er Jahre, umfasst aber auch „experimentellere" Spielarten wie Cut-Ups9, sogar bestimmte Ausprägungen Konkreter oder Visueller Poesie lassen sich in diesem Kontext verorten. Meines Erachtens kristallisieren sich drei große Strömungen heraus:
1. eine subkulturelle, gesellschaftlich oppositionell ausgerichtete Variante, der insbesondere weite Teile der Popliteratur der I960er-Jahre zuzuschlagen sind: Rolf Dieter Brinkmann, Jörg Fauser, Hadayatullah Hübsch, Jürgen Ploog, MärzI0-Verleger Jörg Schröder oder Jürgen Theobaldy. In der Folge wären die Trash-Autoren der I990er-Jahre zu nennen, ebenso das Social-Beat-Netzwerk11
6 Düsseldorfer Neue-Deutsche-Welle-Band der 1980er Jahre.
7 Düsseldorfer Neue-Deutsche-Welle-Band der 1980er Jahre.
8 Vgl. dazu ausführlich: [12, c. 61-67].
9 Experimentelle literarische Montagetechnik, die von den Beat-Autoren Brion Gysin und William S. Burroughs entwickelt wurde, bei der eigene mit fremden Texten verschnitten werden.
10 Der Märzverlag war in den I960er/I970er-Jahren der bedeutendste Untergrundverlag in Deutschland. Er hatte neben seinen literarischen Büchern auch durch Publikationen zu Drogen, Sexualität und Politik maßgeblichen Einfluss auf die Bewusstseinsbildung im Deutschland jener Tage.
11 Social Beat war ein freier Zusammenschlus von deutschen Untergrundautoren in der ersten Hälfte der 1990er Jahre.
oder Spoken Word12 und frühen Poetry Slams13 als Aufführungsformen. Diese Literaturen gehen zumeist auf den direkten Einfluss amerikanischer Beat- und Undergroundliteratur zurück und brachten — dieser darin ähnlich — Sex, Gewalt und der Alltag eines Lebens am Rande der Gesellschaft gegen die bürgerlichen Konventionen in Stellung.
2. von Pop-Art14, FLUXUS15, Wiener Gruppe, letztlich also Spätfolgen der historischen Avantgarde beeinflusste Formen, darunter beispielsweise exemplarische Ausprägungen der Visuellen Poesie, insbesondere Ferdinand Kriwet, Dieter Roth, Franz Mon, Reinhard Döhl. Dennoch ist dieser Zweig in seiner Zuordnung zum Popphänomen nicht unproblematisch, weil er von den experimentell-literarischen Ansätzen der i95oer-Jahre schwer zu trennen ist, am sinnfälligsten wäre hier noch Ferdinand Kriwet unterzubringen. Hier aber wären auch Schreibweisen, die auf Montage und Sampling basieren, einzuordnen, die eine zentrale Rolle in der jüngeren Wahrnehmung von Popliteratur gespielt haben, nämlich die Verfahren jener Autorenriege, die man mitunter als „Suhrkamp"-Pop bezeichnet hat, gegenüber der zeitgeistigen Variante des „Kiwi"-Pop16, also Thomas Meinecke, Rainald Goetz, Andreas Neumeister oder Dietmar Dath. Sie gehören in diesen Kontext, da ihre teils seriellen, teils montagehaften Erzähl- oder Fakeformen zwar erklärtermaßen „Pop"-Zielen dienen, indem sie Musik, Mode, Zeitgeist oder auch neure Theorieansätze identifikatorisch ins Zentrum ihrer Texte stellen, aber formal auf das Technikrepertoire der historischen und der neueren Avantgarde zurückgreifen.
12 Spoken Word ist ein Lesungsformat, das sich aus den Poetry Slams in den USA entwickelt hat — oft stattfindend in Kneipen oder alternativen Kulturzentren, ging es den Autoren der Spoken-Word-Szene darum Lesungen auf eine lockere und zeitgenössische Art anzubieten.
13 Poetry Slams sind literarische Wettbewerbe, die seit Mitte der i98oer-Jahre in Chicago stattfanden und sich dann in der ganzen Welt verbreitet haben. Ursprünglich waren sie häufig ein Forum für ethnische oder sexuelle Minderheiten, um deren Belangen eine Öffentlichkeit zu verschaffen. Oft gibt es ein „freies Mikrophon", das heibt, jeder, der möchte, kann sich in eine Liste eintragen und dann mit einem Text beteiligen. Jeder Teilnehmer hat dann 3 oder 5 Minuten Zeit, danach stimmt das Publikum oder eine Jury darüber ab, welcher Text ihm oder ihr am besten gefallen hat. Heute sind — besonders in Deutschland — Poetry Slams zu einer Art literarischen Kabaretts mutiert.
14 Pop-Art ist eine berühmte US-amerikanische Kunstrichtung, ihre bekanntesten Vertreter waren Andy Warhol und Roy Lichtenstein.
15 FLUXUS war eine internationale Avantgarde-Kunstrichtung, die sich gegen der Ende der i95oer-Jahre herausbildete. Zu ihr gehörten Künstler wie George Macunias, George Brecht, Robert Filliou, Al Hansen, Takako Saito, Benjamin Patterson u.v.a.
16 Pop-Literatur, die vornehmlich von Autorinnen und Autoren des Kiepenheuer & Witsch-Verlags stammt und eher oberflächlicherer Natur ist — im Gegensatz zu den literarisch anspruchsvolleren und technisch versierten Texten der Pop-Autoren aus dem Suhrkamp Verlag.
3. unmittelbar auf Pop(-kultur oder -musik) bezogene Schreibansätze, das sind Musikjournalismus und Stilfeuilletons (Helmut Salzinger, Diedrich Die-derichsen), auch die Popliteratur der i99oer-Jahre (Stuckrad-Barre etc.). Die eben genannten Goetz, Meinecke, Neumeister und Dath, die trotz ihres Theorie-Überbaus stets in Kontakt zum jeweils gegenwärtigen Pop-Universum stehen, partizipieren zugleich an dieser Variante. Dazu kommen Autorinnen und Autoren, die ursprünglich Musikjournalisten oder Musiker waren (Kerstin Grether, Jens Friebe, Françoise Cactus, Wolfgang Welt), die ziemlich ungestaltet Nachtleben, Clubkultur oder Musikbusiness abschildern.
Diese drei Varianten sind in den letzten 40 Jahren in verschiedenen Mischungsverhältnissen und Gewichtungen immer wieder aufgetreten. Macht es dann — angesichts so verschiedener Ansätze — überhaupt noch Sinn von einer spezifischen Popliteratur zu sprechen?
Das wäre die erste Schwierigkeit, nämlich die zweifelhafte Möglichkeit, den Begriff wenigstens synchron, sei es für die 1960er, sei es für die 1990er Jahre, einigermaßen zufriedenstellend zu konturieren. Die zweite Frage, die sich stellt und die aus der ersten zwangsläufig folgt, ist: Lassen sich die unter dem Pop-Label diskutierten Texte in eine diachronische Kontinuität einpassen, wenn schon im Querschnitt kaum eine Übereinstimmung herzustellen ist? Denn nur dann, wenn es sich um mehr als ein kurzlebiges Trendphänomen handeln sollte, wäre es überhaupt vonnöten, eine Kategorie oder ein Genre Popliteratur zu errichten.
Nun, mit der Ausweitung der historischen Perspektive potenzieren sich die Probleme. Besonders eine Schwierigkeit fällt hier ins Auge, die bislang wenig Beachtung fand. Gemeinhin wird Rolf Dieter Brinkmann an den Beginn jeglicher popliterarischer Aktivitäten in Deutschland gesetzt, was auch nicht ganz falsch ist, obwohl dabei andere wichtige Protagonisten dieser Zeit unter den Tisch fallen, besonders die damaligen Underground-Poeten (Jürgen Ploog, Hadayatullah Hübsch, Jörg Fauser). Dann aber springt die Wahrnehmung direkt in die Mitte der 1990er Jahre zu Kracht und Stuckrad-Barre sowie Goetz, Meinecke und Neumeister als Antipoden, besonders kundige Kritiker oder Literaturwissenschaftler werfen vielleicht noch ein Schlaglicht auf die Trashautoren und die Social Beat-Bewegung jener Tage, die sich tatsächlich stark an der i960er-Pop- und Undergroundliteratur orientierten.
Obwohl Goetz und Meinecke ihre Wurzeln noch in den i980er-Jahren haben, wurden auch sie erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre unter dem
Aspekt Popliteratur gesehen, genauer: Goetz mit seinem Buch „Rave" (1998) und Meinecke mit dem Roman „Tomboy" (ebenfalls 1998). Da die 1970er Jahre mit dem Fortwirken Rolf Dieter Brinkmanns, seinen Tagebuch-"Romanen" „Rom, Blicke", „Erkundungen", „Schnitte" und dem Gedichtband „westwärts 1 & 2" (auch wenn sie alle erst posthum bekannt wurden) sowie mit den Arbeiten Jürgen Theobaldys, Jörg Fausers, Jürgen Ploogs und Hadayatullah Hübschs durchaus noch einigen Stoff für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen bieten, sind die 1980er Jahre so etwas wie der „missing link".
Popliteratur mag als begriffsgeschichtliche Kategorie so oder so nicht aufrechtzuerhalten sein. Treffender spricht man vermutlich von einer Literatur popsozialisierter Autoren, in dem Sinne dass scheinbar literaturferne Gegenstandsbereiche (urbane Oberflächen, Alltag und allgemein: Zeichen aus dem Universum der Popkultur, seien es Film, Fernsehen, Musik oder Mode) Einzug in die Werke dieser Verfasser halten. Das Phänomen ist jedoch unbestreitbar da, „eine Literatur, die alles das ist, was Martin Walser nicht ist" [14, S. 3], wie es bei Johannes Ullmaier heißt. Daher ist es nicht nur sinnvoll, sondern sogar notwendig, diese Perspektive zu behandeln, bzw. jene Kontaktpunkte und Initialzündungen zu dokumentieren, die sich aus der Begegnung von Pop und Literatur ergeben — ob als negative oder positive Entladung.
Ein echtes Desiderat erscheint daher die Beschäftigung mit jenem „missing link", den 1980er Jahren. Dass diese Phase bislang so wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, mag daran liegen, dass Literatur in den Umwälzungen jener Tage eine eher marginale Rolle spielte. Die Musik stand damals klar im Zentrum. Die „Neuen Wilden"17 der Malerei, die mit bunten, frechen Acrylbildern von sich reden machten, konnten immerhin eine Zeitlang das Interesse der Öffentlichkeit und des Marktes auf sich ziehen, bevor auch diese Blase platzte und die Preise für die Bilder Walter Dahns, Albert Oehlens und anderer dramatisch verfielen.
Die Literatur aber schien zu stagnieren [3, S. 121], bzw. ging über in andere Medien, wie Peter Glaser vermerkte, „in den frühen achtziger Jahren wanderte die dichterische Kraft ab in Liedtexte und Bandnamen" [3, S. 125].
Hier wie in den zahlreichen Punk-Fanzines, kopierten, billig zusammengeklebten Zeitschriften, die — zumeist als Ein-Mann- oder Eine-Frau-Unterneh-men — wie Pilze aus dem Boden schossen, drückte sich „eine Art von Minimal-
17 Die Neuen Wilden waren eine Kunstrichtung der deutschen Malerei in den beginnenden
i98oer-Jahren. Die Zentren waren Köln, Düsseldorf und Berlin.
poesie" aus, „die in einzelnen Worten oder einem Titel zum Vorschein kommt" [3, S. 125]. So stark war die Dominanz der Musik in den I980er-Jahren, dass Glaser sich — gar nicht zu Unrecht — zu der Formulierung aufschwang: „Ende I980 waren die Musiker die besseren Dichter geworden. Das Buch des Jahres war eine LP 'Monarchie und Alltag' von Fehlfarben" [3, S. 127].
Nichtsdestotrotz verfasste Glaser 1983 zusammen mit Niklas Stiller ein Buch: „Der Große Hirnriss", das zu Unrecht in den meisten Rückblicken zur Popliteraturgeschichte übergangen wird. Es war zur Zeit seines Erscheinens ein großer Erfolg und wirkte wie eine Initialzündung für eine neue literarische Richtung, die sich mehr als nur andeutete und sich dann dennoch erstaunlich sang- und klanglos verflüchtigte. „Der grosse Hirnriss" ist gewissermaßen ein Dialogbuch, die beiden Protagonisten Heiza und Dr. Rupprecht tragen Züge der Autoren. „Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit" verspricht der Untertitel — und tatsächlich verrät bereits der Anfang einen neuen Ton in der Literatur, auch einen anderen Zugriff auf die Realität:
Das hier ist kein langweiliges Buch. Es startet gleich richtig weg, und Wutsch!, da stand eine junge Frau in der inneren Stadt an einem belebten Straßenstern. Sie lächelte natürlich. Unter den Peitschenleuchten flirrte das Licht mit einem Stich ins Orangesilberne, und die Autos schoben ihre Halogenfächer vorüber. Auf den Zähnen der Frau aber lag unbewegt ein weißer Glanz. Sie sah sehr gut aus. Wahrscheinlich hatte sie zu Hause eine kleine rosa Damenschubraupe, um sich zwischen angestauten Verehrern einen Weg ins Bad freizubaggern [5, S. 9].
Eine solche unbekümmerte, dabei oft elegant gesetzt Bildlichkeit („rosa Damenschubraupe") durchzieht das gesamte Buch, das — als Aneinanderreihung oft witziger Einzelepisoden — mehr Ausdruck des damaligen Lebensgefühls ist, als dass eine konkrete Geschichte erzählt würde. Stadt und urbane Wirklichkeit sind — ähnlich wie bei Brinkmann — als zeitgenössischer Sehnsuchtsraum positiv konnotiert, ihnen entnimmt das Autoren-Duo epochentypisch-kühle Szenarien: „Draußen rauscht die Nacht, sie erntet Licht aus den Maschinen. Du stehst mit 'nem Elektromesser ruhig vor mir da. Du schlägst das Bett auf. Ich sitz im blauen Fernsehschein und schenk mir ein Glas Wasser ein. Die neue Zeit macht uns so schön. Weit weg läutet ein Telefon" [5, S. 222]. Das klingt fast wie ein Songtext, was sicher kein Zufall ist. Der Roman ist allerdings insofern etwas disparat und
keineswegs homogen, als dass die Autoren ihn nicht in einem strikten Sinn als Duo gemeinschaftlich verfassten, sondern beide steuerten jeweils eigene Passagen zum Buch bei, die sich in Stil und Duktus stark unterscheiden. Niklas Stiller (*i947), der ganze zehn Jahre älter als Glaser (*i957) war, schrieb relativ konventionell und wenig popliterarisch. Der damals gerade 26-jährige Glaser, von dem übrigens auch die oben zitierte Anfangsszene stammt, formuliert deutlich neutöniger, witziger und frischer.
Den nächsten Aha-Effekt, ungleich spektakulärer, mit einer Wirkung bis in die heutige Zeit, verbuchte Rainald Goetz mit seiner Skandallesung beim Kla-genfurter Bachmannpreis. Der gelernte Arzt und Psychiater verabreichte sich während des Lesens seines Textes einen gekonnten Schnitt in die Stirn, ungefährlich, aber sehr effektvoll, da er im Laufe der Lesung sein Manuskript immer mehr mit Blut besudelte. Diese Aktion machte ihn schlagartig berühmt. Sein wenig später erschienenes Buch „Irre" verkaufte sich in kurzer Zeit über 100.000 mal. Der SPIEGEL-Autor Christian Schultz-Gerstein verbreitete sich in einer eher hämischen Kritik über den Roman und Goetzens Aktion, ohne jedoch um die Feststellung herumzukommen, dass dieser „der mediale Sieger von Klagenfurt" sei, „Blut und Literatur, das konnten sich die blutleeren Feuilletons nicht entgehen lassen" [11]. Den Widerspruch, das er trotz seiner extrem ablehnenden Haltung den Hype selbst mit einem langen Artikel über das Buch weiter nährte, im damals wirklich noch führenden deutschen Meinungsmedium, das erweislich große Wirkung auf den Verkaufserfolg von Büchern hatte, nahm er anscheinend gar nicht wahr. Ebenso wenig begriffen er und andere konservative Kritiker die strenge Kohäsion des Goetz-Textes „Subito" mit der blutigen Performance, beides zusammen geriet effektiv zum Manifest einer neuen, heftigen, wieder mehr realitätsbezogenen Literatur. Durchsetzt ist diese Prosa mit Provokationen. Zu Beginn imaginiert der Erzähler Raspe, ein Psychiater, wie im Roman „Irre" ein alter ego des Verfassers selbst, dass er seinen Chef, den Klinik-Direktor, massiv foltert, mit dem Messer zu Tode malträtiert, um sich dann sehr despektierlich über eine Behinderte zu äußern, die ihm im Zug gegenübersitzt. Der Text aktiviert also bewusst Erregungspotenziale, nicht nur bei den möglichen Lesern, sondern er richtet sich explizit an und gegen die Klagenfurt-Jury, die er immer wieder direkt adressiert, indem er aus dem Textduktus ausbricht und die Lesungssituation beim Bachmannpreis selbst thematisiert: „Schon schläft der erste Kritiker ein, sagte Raspe, oder schon zwei schnarchen mit ihrem Gehirn, während sie auf das Papier
hin schauen, und einer kratzt sich unter dem Tisch an seinem Sack, weil der ihn juckt, das kannst du dann nicht kontrollieren, während du liest, weil du ja voll in Panik bist, während die, vor denen du deine Panik hast, sich immer wieder fragen, ob sie vor lauter Langeweile vielleicht bloß noch einen Tannenreisig im Kopf drin haben" [6, S. 12/13].
Diese Invektiven gegen den Betrieb und seine Protagonisten werden konterkariert mit einem Kneipenbesuch im Hamburger Szeneclub Subito, wo Raspe/ Goetz auf bekannte Protagonisten der aufbegehrenden Kulturszene trifft wie Neger Negersen alias Diedrich Diedrichsen. Mit diesen „jungen Bolschewiken" [6, S. 17] spottet Raspe, nunmehr schon „Ich"-Erzähler, über die Hochkultur, die aus Sicht ihrer Bewahrer gefährdet sei: „Jaja, sagte ich, muss alles verteidigt werden, ist voll wichtig, muß gegen die Literatur verteidigt werden, oder für oder von oder wie oder was, für Literatur heißt es doch, jawoll Heil Hitler da reihen wir uns ein, Kulturverteidigung voll geil voll wichtig" [6, S. 18].
„Subito" entfaltet also einen Punk-Gestus, der sich vehement gegen das Bestehende richtet, gegen Institutionen, Instanzen und herrschenden Diskurse, vor allem die des Kulturbetriebs. Der Autor Goetz fragt sich in dieser Situation, da sein erster Roman kurz vor Drucklegung steht, er in Klagenfurt in traditioneller Manier in die literarische Gesellschaft eingeführt wird, nach seiner zukünftigen Rolle, und wie er in seiner Autorenintegrität unbeschadet bleiben kann: „was muß ich tun, daß ich nicht auch so ein blöder Literatenblödel werde, der locker und dumpf Kunst um Kunst hinschreibt. Nein nein nein, immer alles zerschlagen, sagte ich, das Erreichte sofort wieder in Klump und kaputt und mausetot schlagen, sonst hast du die Scheiße" [6, S. 19].
Die Antwort ist, sich dem „Big Sinn" zu verschließen, den „die Peinsackschriftsteller vertreten, die in der Peinsackparade, angeführt von den präsenilen Chefpeinsäcken Böll und Grass, von Friedenskongreß zu Friedenskongreß, durch die Zeitungsfeuilletons und über unsere Bildschirme in der unaufhörlichen Peinsackpolonaise ziehen und dabei den geistigen Schlamm und Schleim absondern" [6, S. 19].
Goetz' Tirade mündet in der programmatischen Formel: „Wir brauchen keine Kulturverteidigung. Lieber geil angreifen, kühn totalitär, roh kämpferisch und lustig, so muß geschrieben werden, so wie der heftig denkende Mensch lebt."18 Das impliziert ein Ja zur neuen Welt, zu den Medien, den Städten: „Schaut
18 Ebd., S. 20/21.
euch lieber das Fernsehen an. Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop" [6, S. 21].
Sein Roman „Irre" entspricht diesem Anspruch gar nicht so sehr, er ist in weiten Teilen relativ konventionell erzählt, vor allem der erste der drei Großabschnitte, der Raspe/Goetz' Arbeit in der Psychiatrie thematisiert, erinnert in Ton und Duktus stark an Gottfried Benns Novellensammlung „Gehirne", in der ebenfalls ein ausgebrannter Arzt namens Rönne tätig ist. „Irre" dokumentiert eher die Geschichte der Befreiung Rainald Goetz' aus dem Kerker des Lernens und Studierens, seiner Sozialisation und beruflichen Anpassung, hin zu einem Leben in persönlicher und intellektueller Freiheit — der kurze Prosatext „Subito" ist dagegen schon Resultat dieses Prozesses.
„Der große Hirnriss", „Irre" und die Klagenfurt-Aktion waren singuläre Ereignisse. Doch es hatte sich längst eine vielgestaltige Szene entwickelt, in der auch Schreibende mehr und mehr eine Rolle spielten — also ein spezifisches literarisches Feld im Sinne Bourdieus [vgl. 1, passim]. Seit 1980 war in Köln von Clara Drechsler und anderen die Musikzeitschrift SPEX gegründet worden, die sich durch eine recht essayistisch-freie Form der Darstellung auszeichnete. Nachdem im Januar 1983 die bis dahin führende deutsche Musikpostille „Sounds" in Hamburg eingestellt wurde, trat SPEX an deren Stelle, nicht zuletzt deshalb, weil wichtige Sounds-Autoren nun zur SPEX wechselten, allen voran der bereits erwähnte Diedrich Diederichsen, der später SPEX-Chefredakteur und langjähriger Mitherausgeber wurde. Auch Autorinnen und Autoren wie Jutta Koether, Michael Ruff, Olaf Dante Marx, Olaf Karnik und der Düsseldorfer Musiker Xao Seff-cheque schrieben jetzt für die Zeitschrift. Ebenso veröffentlichten Rainald Goetz und Joachim Lottmann in der SPEX. In Düsseldorf war mit dem „Überblick" eine der ersten Stadtzeitungen im neuen Stil entstanden, der Hubert Winkels als Chefredakteur vorstand. Das Rheinland war also an den Entwicklungen stark beteiligt.
Von daher nimmt es nicht Wunder, dass der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, in Person des damaligen Lektors und späteren Verlegers (2002-2018) Helge Malchow, Interesse an der neuen Bewegung fasste, an der KiWi bis dato noch keinen Anteil hatte: Goetz' Roman war bei Suhrkamp, Glaser/Stillers Buch bei Rowohlt erschienen. Malchow, gelang es, Peter Glaser für seinen Verlag zu gewinnen. Er umwarb wohl auch Rainald Goetz, aber vergeblich19.
19 Nach einer mündlichen Mitteilung Peter Glasers an den Verfasser.
Vermarktet unter dem Etikett „Die Neuen Wilden der Literatur", erschien 1984 die von Glaser herausgegebene Anthologie Rawums, mit der eine Zeitenwende der deutschen Literatur eingeläutet werden sollte. Glaser steuerte dazu das wort- und forderungsmächtige, thesenartig durchgezählte Manifest Zur Lage der Detonation. Ein Explose bei, in dem es heißt:
„Besonders aus den Arealen der Jüngeren / wird in den letzten Jahren das Gerücht / immer vernehmlicher, / Langeweile, / Lahmarschigkeit und Literatur stünden / für so zirka für dasselbe. / Die 3 L haben sich im Laufe der 70er Jahre/ zu den unlustigen Schenkeln eines kulturellen Bermudadreiecks gefügt, / worin Begeisterung verloren ging / Angst, / Trauer und unheimliche Nachdenklichkeit / jeder Art sind in dieser Zeit zu den / Kristallisationspunkten von Geschriebenem / geworden. / Das Neo-Gefühl „Betroffenheit" wird epidemisch. / Botschaft wölkt aus den meisten Texten, wenn die Sprache sich nicht gerade wieder / in Selbstbespiegelungen theorietrunken / um sich selber dreht; / Sinn wird gestiftet, was das Zeug hält. / Die kritische Sensibilität erreicht das Stadium, / in dem man mit einem Teleobjektiv / seinen eigenen großen Zeh fotografiert" [4, S. 9].
Dieser desillusionierenden Situationsbeschreibung hält Glaser die Sensibilität der neuen Zeit, geformt von den Neuen Deutschen Wellen in Musik und Bildender Kunst, entgegen. Der Literat soll ähnliche Eigenschaften in sich hochzüchten, soll „selbstsicher", „adrenalintreibend", „störend und ungehalten", „schnittig" und „schräg" [4, S. 15] sein, und resümierend heißt es am Ende:
Der Erzähler ist achtsam, / gründlich, / straight und präzise, / ein Weltspion in niemandes Auftrag, / und doch für viele unterwegs / (nicht für alle). / Es ist scharf an der Zeit, / davon schreibt er und weiß / daß es, / nämlich Sehnsucht zu wecken / und ein Bild von Befreiung zu geben, / 1984 immer noch wirkt [4, S. 20].
Glaser liegt damit ganz auf einer Wellenlänge mit Rainald Goetz' oben zitierten Forderungen. Man könnte also vermuten, dass sich hier etwas formiere. Die Texte des Bandes hielten dieses Versprechen aber nicht ein, zu heterogen war die Auswahl. Das Buch versammelte zwar Texte von Autoren wie Hubert Winkels, Kiev Stingl, Joachim Lottmann oder Bodo Morshäuser, die durchaus als Neue Deutsche Welle der Literatur rezipiert wurden. Auch
Rainald Goetz' zu diesem Zeitpunkt schon legendärer Klagenfurt-Text durfte nicht fehlen.
Ansonsten versammelte der Band einige Musikjournalisten des SPEX20-Umfeldes (Clara Drechsler, Diedrich Diederichsen, Jutta Koether), Journalisten aus dem Mode- und Lifestyle-Bereich (Heike Melba-Fendel, Simone Bergmann), Maler (Martin Kippenberger, Georg Dokoupil) und Musiker (Thomas Schwebel von „Fehlfarben" und padeluun von „der plan"). Von einer Gruppe „neuwilder" Belletristikautoren, die sich hier etwa gebildet hätte, konnte man also wirklich nicht sprechen. Der große Boom wollte sich denn auch nicht einstellen — vielleicht weil das rechte Label noch fehlte: Von Popliteratur sprach zu diesem Zeitpunkt niemand [Vgl. 2, S. 78].
Zumindest eine Weile versuchte der Verlag noch, die Welle zu reiten. 1985 erschien Peter Glasers Erzählband „Schönheit in Waffen", der die Zeitstimmung auch von der Covergestaltung her aufnahm. Als nächstes erschien 1986 eine Anthologie „Aus. Mord-Stories", die Hubert Winkels herausgab. Winkels, heute einer der einflussreichsten Literaturkritiker Deutschlands und Vorsitzender der Bachmann-Jury, hatte ein Jahr zuvor mit Jochen Hörisch zusammen den Band „Das schnelle Altern der neuesten Literatur" (1985) herausgegeben, der das Aufbegehren der Literaten Glaser und Goetz gewissermaßen akademisch flankierte. Der Titel basierte zwar auf einem Adorno-Wort, propagierte aber nicht weniger als den Tod der Kunstform Literatur. Das Individuum, die Geschichte und die Kunst, alle angestammten Motive der Literatur seien, so Hörisch im Vorwort, ausgelaugt und erledigt, mehr noch: „Wie das Lexikon der Themen und Motive, so sind Syntax und Semantik aller möglichen Stile und Schreibweisen virtuell erschöpft" [8, S. 9]. Und Winkels sekundierte: „Literatur als Sozialisationsagent der bürgerlichen Gesellschaft hat ausgedient" [8, S. 23]. Allerdings enthielt der Band diesen provozierenden Vorausworten zum Trotz weitgehend konventionelle Literaturwissenschaft. Sein gnadenlos-pessimistisches Testat hinderte Hubert Winkels übrigens nicht daran, mit dem Erzählungsband „Ausnahmezustand" (1986) selbst eine literarische Veröffentlichung bei KiWi vorzulegen. Auch wenn diese Kurzgeschichten sich im sinistren Grenzbereich zwischen Leben und Tod ansiedeln, thematisch also vielleicht eine andere Tonlage anstimmen, als sie in der i97oer-Jahre-Literatur üblich war, so sind sie doch sprachlich unauffällig, dabei
20 SPEX war eine wichtige Musikzeitschrift, die 1980 bis 2018 erschien und während dieser Zeit
auf die musikalische Meinungsbildung in Deutschland maßgebenden Einfluss hatte.
handwerklich solide geformt — einen Bruch mit der Tradition, wie er bei Glaser und Goetz unleugbar vorhanden war, kann man ihnen nicht nachsagen.
Ein Nachgänger, in anderer Hinsicht ein Vorläufer, war i986 der Roman Mai, Juni, Juli von Joachim Lottmann. Diesem Text kommt eine besondere Bedeutung zu, denn manche betrachten den Roman als ein Schlüsselereignis, eine Initiationsleistung für die Popliteratur der 1990er Jahre. Kiwi-Verleger Helge Malchow möchte zwar in seinem Nachwort zur Neuausgabe 2003 so weit nicht gehen, aber er situiert es doch an der Nahtstelle eines Einschnitts, ja, gar „einer kleinen literarischen Revolution", zu ihr gehörten „neben Joachim Lottmanns Roman Bücher wie Diedrich Diedrichsens 'Sexbeat', Rainald Goetz' 'Irre', Peter Glasers 'Schönheit in Waffen', Thomas Meineckes Texte aus der Zeitschrift 'Mode und Verzweiflung'" [10, S. 255] — es verwundert nicht, dass die Mehrzahl dieser Bücher bei KiWi erschienen sind, auch Thomas Meinecke veröffentlichte bei dem Kölner Verlag i988 eine frühe Erzählung. Diese „Revolution" bestünde, so Malchow, in der „Entdeckung der Massenkultur und der Massenmedien samt ihrer Techniken als Gegenstand der Literatur und die Untersuchung der Auswirkungen dieser Phänomene auf die Themen, Techniken und Vermarktungen des literarischen Schreibens selbst" [10, S. 255].
Lottmanns Buch selbst, als Roman tituliert, entwickelt sich in einem Schwatz- und Plauderton, Meinungen über Gott und die Welt, inklusive verschärften Hippie-Bashings. Wenn man in Malchows Nachwort zur Neuauflage erfährt, dass Lottmann diesen Roman seinerzeit tatsächlich in den drei titelgebenden Monaten 1986 geschrieben hat — auf der Basis eines Vorschusses inklusive Wohnrecht [10, S. 254], — kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass der Autor wirklich nicht recht wusste, worüber er eigentlich schreiben soll und diese missliche Situation demnach ins Zentrum seines Buches stellte. Die drängende Frage nach einem erfolgsversprechend Thema durchzieht das gesamte Buch — man könnte fast sagen: wie ein „running gag". Und tatsächlich, ein Schriftsteller, der nicht weiß, was er zu sagen hat, dennoch vollständig davon überzeugt ist, Schriftsteller zu sein, sein zu müssen, das ist natürlich ein klassisches Satiremotiv. Aber vielleicht muss man Lottmann hier einfach einmal ernst, seine Aussagen für bare Münze nehmen. Vielleicht sollte man das bei dem, was gemeinhin als „Popliteratur" rangiert, ohnehin öfter tun. Das bedeutet, die getätigten Aussagen objektiv zu analysieren, sich also nicht bei den vordergründigen Provokationen aufzuhalten, sondern sie auf ihren essentiellen Gehalt hin zu prüfen. Malchow attestiert dem Roman ganz richtig: „Al-
les, was 'verboten' ist, wird erst einmal maßlos durchexerziert, vom Schwulenhaß bis zum Nationalen Gedanken, von der Frauen- bis zur Ausländer- und Demokratieverachtung" [10, S. 252]. Jetzt dürfe man seiner Meinung aber weder mit Empörung reagieren noch darin das — wollüstig zelebrierte — literarisch „Böse" eines George Bataille oder Ernst Jünger sehen. Was bleibt dann aber übrig? Anscheinend ja nur bloße Pose. Dann gilt es zu fragen, warum? Oder besser: Was steht dahinter, wofür steht die Pose in Wahrheit?
Der Romantext besteht im Grunde aus Abgrenzungsprozessen, die bei Lottmann durchlaufend zum Ausdruck kommen, von Hippies, von Intellektuali-tät, von der SPD und tausend Dingen mehr, von all dem, was man heute gemeinhin mit dem Begriff Politische Korrektheit bezeichnet. Die Erzählung lebt also in großen Teilen daraus, was sie nicht ist, wofür sie nicht stehen und was sie nicht erzählen will. Ist dieses Objekt, von dem es sich abstößt, also die 68er-Ideologie, nicht mehr vorhanden, bleiben nur noch leere Fassaden. Das sei an dieser Stelle vorausweisend auf die Popliteratur der 1990er Jahre gesagt.
Für Lottmann selbst gilt das vielleicht nicht einmal so sehr, denn bei ihm ist diese Pose ja immerhin noch neu. Und vor allen Dingen handelt es sich hier nicht etwa um eine konsistente Gegenposition, weil Lottmann an anderen Stellen durchaus wieder Sympathie mit den inkriminierten Inhalten durchscheinen lässt. Er lässt sich ganz generell kaum auf irgendeine Haltung festlegen, mal ist er Kommunistenfresser, dann wieder ein Anhänger der DDR. Trotz seiner Bewunderung für Konrad Adenauer, die immer wieder zum Ausdruck kommt, blickt er eben — anders als die I990er-Jahre-Exponenten — noch auf eine K-Gruppen-Vergangenheit zurück. Allerdings blinken hier und da, wo der Autor nicht so sorgsam über seine Verwirrstrategien wacht, doch einige problematische Punkte auf: „Jeder Mensch, ob klein, ob groß, arm oder reich, Hund oder König, Gastarbeiterkind oder Fixer, konnte dieses kleine Plastikkettchen entzweibrechen und das Rad stellen" [9, S. 95]. Warum gerade Gastarbeiterkind, wenn es sonst in der Aufzählung eher um Abstrakta geht? Warum steht ausgerechnet der Migranten-spross auf einer Gefährdungsstufe mit dem Fixer, wenn doch jeder Mensch dieses Fahrschloss knacken kann?
Als sein Verleger von ihm ein kritisches Buch fordert, kommt das für ihn einer Katastrophe gleich: „Schluck. Schnauf. Röchel. Ein wütendes Irgendwas gegen Bullenstaat und Bespitzelung, Schweinesystem und ganz gewöhnlichen Terror, den sogenannten. Willkür gegen Asylanten, Gewalt im ehelichen Doppelbett,
hilf Himmel, das konnte er einfach nicht von mir verlangen!" [9, S. 125]. Auch wenn die Richtung dieses sarkastischen Stoßseufzers klar ist, nämlich entgegen der schon damals lähmenden Ubiquität normativer Denkgebote — so veralbert diese Zusammenstellung dennoch die realweltlichen Problematiken, die dahinterstehen. Der Autor erweist sich so als Sympathisant eines gesellschaftlichen Status Quo, der diese Fehlentwicklungen beharrlich ignoriert.
Aber wovon handelt das Buch eigentlich? Von nicht viel. Der Ich-Erzähler lebt unter finanziell schwierigen Bedingungen, gewissermaßen als „armer Poet" in einer überhitzten Dachkammer, in Hamburg und überlegt also verzweifelt, was er schreiben soll. Dazwischen flaniert er durch die Welt, trifft Leute und macht sich so seine Gedanken. Typische Widersprüche in seinem Text sind, dass er angeblich kein Geld hat und trotzdem mit dem Taxi fährt, dass zudem andauernd von „Schweineblättern" angerufen wird, denen er für viel Geld Artikel schreibt, die nicht gedruckt werden. So unglaubwürdig das ist, sind das Probleme, die Arbeitende im Niedriglohnsektor gerne hätten.
Da ihm irgendwann die Decke auf den Kopf fällt, fährt er für einige Monate nach Köln, wo er sich bei einem Freund einnistet und in Kontakt mit dem SPEX-Umfeld gerät, deren Protagonistinnen und Protagonisten zumeist mit Pseudonymen belegt werden, nicht so der Maler Kippenberger, der als Klarname auftaucht. Weiter driftet der Erzähler durch die Welt der Biergärten und Nachtkneipen, verhandelt ebenso beharrlich wie vergeblich mit seinem Verleger, um einen Buchvertrag zu fixieren und so zu einem Vorschuss zu gelangen. Am Ende kehrt er nach Hamburg zurück, wo er unvermutet auf einem Schiff anheuert, das am nächsten Morgen auf große Fahrt geht.
Der Flaneur Lottmann, bzw. sein Ich-Erzähler, ist von einer geradezu neurotisch-idiosynkratischen Wahrnehmungsmanie geprägt, so sehr er sich gezwungen sieht, hinzuschauen, so allergisch reagiert er doch auf Vieles, was er zu Gesicht bekommt. Seine Bewertungen erfolgen mit stark elitärer Unterströmung — das Meinungs-Bashing, das in der Konsequenz verlässlich Distinkti-onsgewinne abwirft, entspricht schon ziemlich genau den Stilkritiken in Stuck-rad-Barres späteren „Romanfeuilletons".
Lottmanns Beschreibungen des ganz normalen Lebens beziehen ihre Spannung daraus, dass sich der zu vermutenden autobiografischen Authentizität leicht reine Erfindungen hinzudichten lassen — gleichwohl in ein und demselben stilistischen Duktus bleibend, — der Leser wähnt sich immer auf der Spur der
Verfassers selbst. Diese Technik erhöht die Wahrscheinlichkeit des Erfundenen, das stets als Mitteilung aus der Alltäglichkeit getarnt ist. Wann etwas selbst erlebt ist und wann nicht, ist somit kaum zu identifizieren.
Neben fabulierenden Passagen, bei denen sich Lottmann in Menschen, die er sieht, fantasiebegabt hineinversetzt oder von den (tatsächlichen oder fiktiven) Lebensgeschichten solcher berichtet, die er kennt, switcht er oft über in eher reportagehafte Formen, eine Art von „Gonzo-Journalismus", der sich also in die Tradition der stark subjektiv geprägten Schreibweise Hunter S. Thompsons stellt — inklusive „name-dropping", Beschreiben cooler Locations etc.
Gleichzeitig fließen in sich abgeschlossene Texte oder Textfragmente ein, etwa die kurze Prosageschichte „Quellkopf", ein Roman-Treatment, das Lott-mann bzw. sein Ich-Erzähler verfasst hat, oder einzelne Szenen aus diesem Roman. Das Textganze „Mai, Jun i, Juli", in dem dies alles zusammenkommt, wirkt also höchst heterogen, mitunter fast zusammengestoppelt. Dennoch scheinen Malchow und andere Fans21 davon auszugehen, diese Form sei eine beabsichtigte, also vom Autor bewusst gesteuerte oder sogar notwendige. Was aber, wenn man Lottmann, einmal mehr, auf seine eigenen Äußerungen festlegt und davon ausgeht, dass diese Romanstruktur sich eher dem Zufall verdanke oder besser: der existenziellen Notwendigkeit, binnen dreier Monate irgendein verwertbares Manuskript, das entfernt Romanform aufweist, zu kompilieren? Warum, wenn das Buch sich so explizit um eine Botschaft oder einen Plot herumdrückt, soll das Resultat zwangsläufig ein besonders exquisites, formal mit besonderer Raffinesse erstelltes Erzeugnis sein? Vielleicht ist das Disparate einfach nur das, was es ist, und damit bloßer Ausweis einer narrativen Schwäche. So reflektiert Lottmann, bzw. sein erzählerisches Ich etwa:
Das Dumme an dem <Roman mit Biß> [den sein Verleger von ihm fordert, Anm. e.s.] war, daß ich nicht so schnell schreiben konnte, wie ich erlebte. Um eine einzige Stunde authentisch wiederzugeben, brauchte ich einen ganzen Tag an der Schreibmaschine — ein Unding. Sollte ich mich wieder mehr an das Wesentliche halten? Oder dem Leser unzusammenhängende Zeitbruchstücke zumuten? Eine halbe Stunde vom Montag, zwei Minuten vom Dienstag und den Freitagvormittag? Genauso wollte ich es machen [9, S. 112].
21 Es gibt eine Reihe von Literaturkritikern, die Lottmann auch in seinen späteren Werken, die ganz ähnlich konzipiert sind, immer wieder feiern.
Man kann das natürlich als hinterbödig-postmodernes Spiel um Autorenidentität und Authentizitätsproblematik werten, was aber, wenn man das nicht tut? Dann handelt es sich vielleicht um eine rein produktionsästhetische Erwägung, die ziemlich präzise die Machart von „Mai, Juni, Juli" verrät, die Aneinanderreihung recht inkommensurabler Textsorten, die Aufzählung auch bestimmter Lebenssituationen, die der Autor für berichtenswert hält, ohne dass eine übergreifende Textlogik dahinter waltet. Dann aber reden wir hier über eine Ich-Erzählung, die letztlich reine Oberfläche ist, der Text als genau das und nur das, was er ist, Feuilleton ohne literarische Verdichtung, Geheimnis ohne Hintergrund.
Was man ganz sicher darin finden kann, ist die Vorbildfunktion für eine neue, subjektive Form von Zeitgeistjournalismus, die sich auch in der Begründung entsprechender Lifestyle-Magazinen wie „Tempo" (1986-1996) und „Wiener" (seit 1979/1980) usw. niederschlug, in dem sich auch die späteren I990er-Pop-Autoren Christian Kracht, Eckhart Nickel und Moritz von Uslar ihre ersten Sporen verdienten.
Rainald Goetz, gleichfalls TEMPO-Mitarbeiter, darf hier ebenso eine Vorreiterrolle zugebilligt werden, 1986 erschienen seine gesammelten SPEX-Texte, in denen er ebenso schonungslos offen und unmissverständlich austeilte, wie später in seinem Tagebuchroman „Abfall für alle" (2000), dem eigentlich ersten literarischen BLOG überhaupt, unter der Zwischentitel „Tratsch" heißt es hier im „Essay" „Fleisch":
Nach der Modenschau wurde mir von einem metzgerhaften Charakterkopf mit blondem Hitlerbart eine hünenmäßige Walküre vorgestellt, die sich mit der Erklärung einführte, sie schreibe imselben Blatt wie ich und heiße Helba Membel Fembel. Was! die Modetante! umgotteswillen!, entfuhr es mir und ich sank zu Boden. Nachdem ich mich wieder aufgerichtet und halbwegs Haltung angenommen hatte, erklärte ich ihr aufderstelle, daß ihre Modeschreiberei Unsinn ist, großgroß-tantenhaft, verboten, was schon damit losgehe, daß Doppelnamen verboten sind. Reflexhaft sagte daraufhin Frau Helba Membel Fembel: Aber alles ist erlaubt, es ist doch alles erlaubt. Nichteinmal ein dreifaches ebennicht ebennicht ebennicht kam mir daraufhin noch über die Lippen, weil ich sogleich wußte, daß ich wieder einmal mit dem Stern spreche: man kann Unterhosen auch wieder als Ohrenschützer tragen. Höflich erkundigte ich mich also nach Beruflichem. Sie schreibe, sei ja noch jung, sei 21. So, aha, dachte ich, so kann man sich täuschen, und schaute hoch hin-
auf, ich gehe Frau Fembel nämlich etwa bis zur Brust, und versuchte diese Haut da oben im Gesicht, dieses Löchrige, die Augenfaltrige mit der Ziffer 21 in Einklang zu bringen, und fragte mich tastend, traurig, erschreckt: Was?, wird die Jugend etwa auch immer älter oder wie? Später mußte Frau Helba Membel Fembel mitten im Satz dringend weg, aufs Klo, zum dummen Kokain [7, S. 74].
Diese Schilderung einer Begegnung mit der bereits erwähnten SPEX-Schreiberin Heike Melba-Fendel ist nicht unbedingt schmeichelhaft, in ihrer Art aber durchaus stilbildend. Bis heute lassen sich Spuren eines solchen subjektivitätsgeleiteten Journalismus finden, wenngleich die meisten Adepten dieses Stils Goetzens oder Lottmanns letztlich auch gerichtsnotorische Radikalität weitgehend vermissen lassen.
Einflüsse hat der literarische Pop der i980er-Jahre, wenn man das nennen so will, also tatsächlich ausgeübt, auch wenn er sich zu seiner Zeit nicht durchsetzte, weder als Trend noch als literarische Form. Wie gesagt, das hochwirksame Pop-Etikett fehlte damals noch oder wurde auch noch nicht als solches erkannt. Die fehlende Nachhaltigkeit dieser Initiative lag aber wohl auch an den Protagonisten selbst: Peter Glaser, schwer rheumakrank, verstummte für fast zwei Jahrzehnte, auch von Lottmann war lange nichts mehr zu hören. Rainald Goetz wandte sich mit „Kontrolliert" (1988) der Zeitgeschichte zu, nämlich dem RAF22-Terrorismus und einer politischen Selbstbefragung, bevor er ganz und gar von der deutschen Wiedervereinigung absorbiert wurde und in den drei als „Material" bezeichneten Bänden mit dem Titel „1989" ganze 1602 Seiten Medien-mitschriften versammelte. Hubert Winkels dagegen wechselte, wie erwähnt, ins Lager der Literaturkritik.
Aber es gibt wohl auch noch andere Gründe, weshalb die sogenannte „Popliteratur" 1996 so erfolgreich war, zehn Jahre früher aber noch nicht: Die gesellschaftliche Situation hatte sich in den 1990er Jahren durchgreifend geändert. Die Deregulierung der Wirtschaft unter neo-liberalen Vorzeichen war in vollem Gange, der Dekonstruktivismus hatte sich durchgesetzt und den Einfluss der Kritischen Theorie weitgehend zurückgedrängt. Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa schwand der letzte Funken Hoffnung auf die Ver-
22 RAF = Rote-Armee-Fraktion, linksterroristische Gruppe, die mit Attentaten, Banküberfällen und insbesondere mit der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer 1977 auf sich aufmerksam machte.
wirklichung einer kommunistischen Utopie. Postmoderne Ironie und 68er-Bas-hing waren inzwischen Volkssport und nicht mehr provozierende Avantgarde, nicht mehr wie bei den i98oer-Autoren mutig-radikaler Bruch mit einer überkommenen intellektuellen Hegemonie.
Die Popliteratur der 1990er Jahre rannte offene Türen ein, konnte sich anlehnen am gesellschaftlichen common sense, war affirmativ, dem Warenuniversum kompatibel und Freund, blanker Mainstream — das umso mehr, weil bei ihr tatsächlich keine Befreiungsperspektive mehr als Subtext mitschwang wie bei Goetz, bei Lottmann mit Abstrichen, und auch bei Glaser, der in der bereits zitierten Rawums-Einleitung deutlich sagte, „daß es, / nämlich Sehnsucht zu wecken / und ein Bild von Befreiung zu geben, / 1984 immer noch wirkt" [4, S. 21].
Genau hier ist der gravierende Unterschied zwischen den pop-beeinfluss-ten Literaturen der 1960er bis 1980er und denen der 1990er Jahre zu veranschlagen, die Idee einer Befreiung, eines gesellschaftlich Anderen, kommt im Denken und Sehnen der Kracht, Stuckrad-Barre und Co. nicht mehr vor. Sie machten lieber Anzugwerbung für Peek & Cloppenburg und veranstalteten Begängnisse im Hotel Adlon.
Aber das ist Vergangenheit, solche Posen sind längst überholt. Die Geschichte schläft nicht, der Wind hat sich gedreht. Dass völkische Nationalismen zum Massenphänomen geworden sind, ist nicht mehr mit einem süffisanten Lächeln abzutun. Auch den unverbesserlichsten Pop- und Postmoderne-Vertretern verlangt das ab, eine Haltung dazu einzunehmen. Das Zeitalter der Ironie ist vorbei.
References
1 Bourdieu P. Die Regeln der Kunst. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1999. 552 S. (In German)
2 Email toyou 2. Peter Glaser im Interview / E. Stahl (Hg.). Popliteraturgeschichte(n). Düsseldorf, Heinrich-Heine-Institut, 2007. S. 75-81. (In German)
3 Glaser P. Geschichte wird gemacht / Zurück zum Beton. Die Anfänge von Punk und New Wave in Deutschland 1977-82. Kunsthalle Düsseldorf, 7. Juli — 15. September 2002 (Red. Ulrike Groos, Peter Gorschlüter, Jürgen Teipel), Düsseldorf, 2002. S. 121-128. (In German)
4 Glaser P. Zur Lage der Detonation — Ein Explosé / P. Glaser (Hg.). Rawums. Texte zum Thema. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1984. Hier zitiert nach der Taschenausgabe 2003. S. 9-21. (In German)
5 Glaser P. / Stiller N. Der grosse Hirnriss. Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit. Reinbek b. Hamburg, Rowohlt 1983. 248 S. (In German)
6 Goetz R. Subito / ders. Hirn, Frankfurt/M., Suhrkamp 1986. S. 9-21. (In German)
7 Goetz R. Fleisch / ders. Hirn, Frankfurt/M., Suhrkamp 1986. S. 57-87. (In German)
8 Hörisch J. / Winkels H. Einleitung zu: dies. (Hg.). Das schnelle Altern der neuesten Literatur. Essays zu deutschsprachigen Texten zwischen 1968-1984. Claassen, Düsseldorf 1985. S. 7-30. (In German)
9 Lottmann J. Mai, Juni, Juli. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1986. Hier zitiert nach der TB-Ausgabe 2003. 252 S. (In German)
10 Helge Malchow, Nachwort in: (8). S. 250-256. (In German)
11 Schultz-Gerstein C. Der rasende Mitläufer / Der Spiegel (26.09.1983). Available at: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14021841.html (Accessed 09 January 2019). (In German)
12 Stahl S. Popliteratur — eine fragwürdige Kategorie / ders. Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft. Berlin, Verbrecher Verlag, 2013. S. 61-67. (In German)
13 Stahl S. Wirkung / M. Fauser; D. Niefanger; S. Schönborn (Hg.). Rolf Dieter Brinkmann Handbuch. Stuttgart/Weimar, Verlag J.B. Metzler (im Druck), passim. (In German)
14 Ullmaier J. Von Acid nach Adlon und zurück. Mainz, Ventil Verlag, 2001. 216 S. (In German)