HORIZON 8 (1) 2019 : Research : S. Kluck : 160-181
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ÉTUDES PHÉNOMÉNOLOGIQUES
ФИЛОСОФИЯ ДУХА, ЭТИКА, ЭСТЕТИКА
PHILOSOPHY OF OBJECTIVE SPIRIT, ETHICS, AESTHETICS
https://doi.org/10.21638/2226-5260-2019-8-1-160-181
NICOLAI HARTMANNS PHILOSOPHIE DES GEISTES IM SPIEGEL DER REZENSIONEN
STEFFEN KLUCK
PhD in Philosophy, Staff Scientist. University of Rostock, Institute of Philosophy. 18051 Rostock, Germany. E-mail: [email protected]
NICOLAI HARTMANN'S PHILOSOPHY OF OBJECTIVE SPIRIT AS SEEN THROUGH HIS COLLEAGUES' REVIEWS
This essay traces the reception of Nicolai Hartmann's philosophy of objective spirit based on his colleagues' reviews of his works. By examining this reception, important aspects of Hartmann's work can be elucidated, for example, in the context of phenomenology (Martin Heidegger) and philosophical anthropology (Helmuth Plessner, Arnold Gehlen). In addition, any new ideas in the philosophy of the objective spirit will be likely to face objections analogous to those Hartmann's theory encountered, which is why this analysis can probably have a systematic significance. In this connection, the article describes and analyzes some contemporary reviews and highlights principle arguments pro et contra Hartmann's philosophy. It aims to show which authors criticized Hartmann with which frameworks to point out the position of his theory in the philosophy of the early 20th century. Furthermore, striking features and missing topics within the reviews are discussed. The conclusion of the article is that the reviewers praise Hartmann's work for its phenomenological-empirical approach with rich, insightful descriptions and emphasize its ontologically founded middle position between Hegel and Marx, but at the same time characterize the book as theoretically weak and ambiguous. This finding can help to understand the work's marginal reception and at the same time provides hints in which way it seems to be still up-to-date and relevant.
Key words: Phenomenology, objective spirit, philosophical anthropology, layered ontology, Hartmann, Gehlen, Plessner, Heidegger, philosophy of 20th century.
© STEFFEN KLUCK, 2019
ФИЛОСОФИЯ ОБЪЕКТИВНОГО ДУХА НИКОЛАЯ ГАРТМАНА В ЗЕРКАЛЕ РЕЦЕНЗИЙ СОВРЕМЕННИКОВ
ШТЕФФЕН КЛУК
Доктор философии, научный сотрудник. Университет Ростока, Институт философии. 18051 Росток, Германия. E-mail: [email protected]
В данной статье прослеживается рецепция философии объективного духа Николая Гартмана на основе рецензий современников. Это позволяет в общих чертах осветить рецепцию и влияние работы Гартмана Проблема духовного бытия, например, в контексте феноменологии (Мартин Хайдеггер) и философской антропологии (Гельмут Плеснер, Арнольд Гелен). Кроме того, следует ожидать, что новые разработки в философии объективного духа столкнутся с теми же возражениями, что и теория Гартмана, в силу чего подобный анализ, вероятно, принесет систематические результаты. В этой связи в статье описывается и анализируется известные рецензии современников и выявляются основные аргументы за и против философии Гартмана. В статье сделана попытка показать, какие авторы действительно критиковали Гартмана и какие концептуальные предпосылки при этом задействовались, для того чтобы прояснить положение теории Гартмана в философии начала XX века. Также разбираются наиболее заметные черты рецензий и те темы, которым в рецензиях не уделяется внимания. Вывод работы заключается в том, что рецензенты хвалят работу Гартмана за присущий ей феноменолого-эмпири-ческий метод с богатыми и поучительными дескрипциями и подчеркивают ее онтологически обоснованную промежуточную позицию между Гегелем и Марксом, но, в то же время, характеризуют книгу как слабую в теоретическом отношении и неоднозначную. Этот вывод может способствовать пониманию маргинального характера рецепции книги Гартмана и, в то же время, прояснению того, каким образом она оказывается актуальной и релевантной сегодня.
Ключевые слова: Феноменология, объективный дух, философская антропология, иерархическая онтология, Гартман, Гелен, Плеснер, Хайдеггер, философия XX века.
I. EINLEITUNG
„Es heißt Eulen nach Athen tragen, wollte man auf die hohe wissenschaftliche Bedeutung dieses Werkes hinweisen, das sich schon längst in der Philosophie der Gegenwart einen hervorragenden Platz gesichert hat." (Aengeneyndt, 1949, 470). Was der Rezensent im Jahr 1949 schreibt, vor ihm habend die soeben erschienene zweite Auflage von Nicolai Hartmanns Das Problem des geistigen Seins, lässt vermuten, dass das Buch in seinen über 15 Jahren Wirkungsgeschichte äußerst erfolgreich war. Eine solche Hypothese liegt zumal deshalb nahe, da doch Hartmann in jenen Jahren neben Martin Heidegger und Karl Jaspers als die große deutsche Philosophenfigur wahrgenommen wurde (cf. Gadamer, 1995, 21-23; Harich, 2000, 20). Diese Wahrnehmung wurde auch außerhalb Deutschlands geteilt, wenn Hartmann dort als "[being] among the foremost
of contemporary German philosophers" (Hook, 1935, 49) charakterisiert wird. Blickt man jedoch auf konkrete Rezeptionsstränge, muss auffallen, wie wenig das Werk aufgegriffen wurde. So zeigt ein Blick in die Arbeiten Arnold Gehlens oder Erich Rothackers, zwei Denkern, die Hartmann in gewissem Sinne nahe standen und die sich ähnlichen Fragen der Anthropologie, der Person, der Kultur und der Geschichte zuwandten, praktisch keinen nennenswerten Hinweis auf das Buch1. Insgesamt tritt die Rezeption des Werkes deutlich zurück hinter die wesentlich breitere Aufnahme der (schichten-)onto-logischen Überlegungen Hartmanns. Die zitierte Äußerung des Rezensenten mag daher mit voller Überzeugung verfasst sein, sachlich stützen lässt sie sich nicht. Das Buch wird in vielen Besprechungen, die zeitnahe nach dem Erscheinen Ende 1932 bzw. Anfang 19332 veröffentlicht wurden, gewürdigt, aber schon bald nur noch marginal rezipiert.
Es ist in der Forschung immer wieder mit Erstaunen bemerkt worden3, wie zügig nach 1950, dem Jahr von Hartmanns Tod, das Interesse an seinem Werk abnahm. Für seine Philosophie des Geistes muss man allerdings konstatieren, dass die relevanten Bezugsnahmen schon vor 1950 nicht sehr zahlreich sind, jedenfalls nicht so zahlreich, wie der eingangs zitierte Satz suggeriert4.
Folgt man dieser empirisch fundierten Hypothese, so verlangt das nach einer Erklärung. Eine Spur, der in diesem Kontext nachzugehen lohnt, ist die Analyse der unmittelbaren zeitgenössischen Rezensionen des Buches. Diesem Textkorpus lassen sich die direkten Reaktionen der akademischen Welt entnehmen, die die folgenden Jahre die Rezeption des Werkes im Wesentlichen geprägt haben dürften. Es ist da-
So ist das Fehlen eines Verweises auf Hartmanns Philosophie des Geistes in Gehlens „Urmensch und Spätkultur" sachlich überraschend, werden doch dort durchweg Phänomene des objektiven Geistes behandelt (Gehlen, 1956). In Rothackers Kulturanthropologie kommt Hartmanns Werk zwar einmal vor, aber ganz pauschal und ohne erkennbaren Ertrag (Rothacker, 1948, 148). Auch in Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode (Gadamer, 1965) spielt das Denken Hartmanns, trotz thematischer Nähe, keine Rolle. 1990 benennt Silvia Becker rückblickend Theodor Litt als einzigen Autor der unmittelbaren Lebenszeit Hartmanns, der sich dessen Philosophie des Geistes zugewendet hat (Becker, 1990, 14-15).
Das Buch ist im Impressum auf 1933 datiert und wird am 28.2.1933 im „Literarischen Zentralblatt für Deutschland" (Deutsche Bücherei zu Leipzig, 1933, 154) angekündigt. Allerdings verfasste Heinrich Barth bereits am 2.11.1932 in der „Neuen Zürcher Zeitung" (es muss sich bei dem Kürzel „H. Bth." aller Wahrscheinlichkeit nach um ihn handeln, da er zu dieser Zeit mehrfach dort publizierte) eine Besprechung des Buches (B[ar]th, 1932). Ein Erscheinen schon Ende 1932 ist daher zwingend zu vermuten. Dies passt zur Datierung des Vorwortes auf „August 1932" (Hartmann, 1933, V), denn es ließe genug Zeit für den Prozess des Herstellens.
Vgl. zu dieser Einschätzung der Rezeption Hartmanns: (Hähnel, 2013, 452, 466-471; Harich, 2000, 34-37, 49-51, 72-78; Morgenstern, 1997, 173-176).
Ein gewisser Erfolg des Buches ist gleichwohl nicht zu bestreiten, denn Hartmann zufolge war es 1939 — also nach sechs Jahren — ausverkauft (Hartmann, 1949, V).
2
3
4
her Ziel der folgenden Überlegungen, die Rezensionen mindestens schlaglichtartig auf ihre Schwerpunkte hin zu analysieren, Auffälligkeiten sowohl in affirmativer wie kritischer Hinsicht herauszustellen und auf Besonderheiten hinzuweisen, um so letztlich besser nachvollziehen zu können, wie Hartmanns Philosophie des Geistes zur Zeit ihres Erscheinens gewirkt hat. Von einem solchen Vorgehen lassen sich dreierlei Erkenntnisse erhoffen. Zum einen bietet es rezeptions- und wirkungsgeschichtliche Einsichten. Wer hat auf Hartmanns Ansatz in welcher Weise wie und warum reagiert? Eine umfassende Rezeptionsgeschichte weder dieses Werkes im Speziellen noch von Hartmanns Philosophie im Allgemeinen ist bislang geschrieben, obgleich zuletzt (cf. Hartung, Strube & Wunsch, 2012)5 wieder vermehrt das Interesse an seiner Philosophie erwacht ist. Zweitens kommt durch die gewählte Perspektive die Philosophie am Vorabend des Nationalsozialismus noch einmal philosophiehistorisch in den Blick. Wie in einem Brennglas treffen sich in den Rezensionen von Hartmanns Werk unterschiedliche Strömungen der Zeit. Drittens schließlich verspricht das Vorgehen auch systematischen Ertrag, denn Hartmanns Philosophie des Geistes hat nur wenig sachliche Kritik erfahren — am prominentesten vielleicht von Gehlen (Gehlen, 2008)6 —, sondern ist mehr stillschweigend übergangen worden. Einer Neuaufnahme einer Philosophie des Geistes in ihrem Sinne oder wenigstens geschult an ihr, wie das etwa Matthias Wunsch als Möglichkeit ins Spiel bringt (Wunsch, 2014, 305), kann daher an den Argumenten lernen, die kritisch oder stützend hervorgebracht werden. Wenn es gelingen soll, den objektiven Geist als legitime philosophische Begrifflichkeit oder Theorem zu rehabilitieren, was im Kontext gewisser Debatten über kollektive Inten-tionalität plausibel oder fruchtbar scheint, dann wird sich ein solches Unterfangen auch den Argumenten zu stellen haben, die Hartmann entgegengebracht worden sind.
Im Folgenden wird der Blick demnach auf die zeitgenössischen Buchbesprechungen zu richten sein. Die allgemeine Rezeption des Werkes in anderen Schriften, Artikeln usw. bleibt ausgespart. Freilich ist zuzugestehen, dass eine scharfe Trennung zwischen Besprechungen und Fachartikeln nicht immer möglich ist. Doch im Interesse eines ergiebigen Textkorpus' wurde bei der Auswahl der der Analyse zugrunde gelegten Texte in der Regel nur auf Artikel zurückgegriffen, die Hartmanns Werk alleine oder doch in der Hauptsache thematisieren. Die drei bekannten, umfassenden Bibliographien (Ballauf, 1952; Buch & Buch, 1987; Wirth, 1965, 141-148) zu Hartmann und der ihn betreffenden Literatur geben bis ins Jahr 1982 insgesamt 37 solcher Texte an7. Die er-
5 Zur gegenwärtigen Renaissance der Philosophie Hartmanns vgl. auch: (Hähnel, 2013).
6 Zu dieser Kritik Gehlens an Hartmanns schichtenontologischem Hintergrundtheorem vgl. allgemein die Arbeit Karl-Siegbert Rehbergs (Rehbergs, 2008).
7 1952 finden sich 29, 1963 weitere 6, 1982 noch 2 weitere solcher Texte.
ste bekannte Rezension stammt aus dem Jahr 1932, die letzte von 1972. Die Verfasser sind zum Teil nicht zu identifizieren, was bei Rezensionen keineswegs ungewöhnlich ist, da bloße Werkanzeigen mit kurzen, neutralen Inhaltswiedergaben in anonymer Form nicht selten vorkamen. Andererseits zeigt sich an den namentlich zuordenbaren Besprechungen, dass Hartmanns Buch von Philosophen gelesen wurde, welche die heutige Philosophiegeschichtsschreibung als prägende Gestalten des 20. Jahrhunderts versteht8. So gibt es Arbeiten von Gerhard Krüger, Helmuth Plessner, dem erwähnten Gehlen, Theodor Adorno, Hermann Graf Keyserling oder Otto Friedrich Bollnow. All diese Denker operieren natürlich von unterschiedlichen Kontexten aus — sowohl geistesgeschichtlich als auch institutionell —, was für die Einordnung ihrer Aussagen wichtig ist. Außerdem hat nicht jeder der Genannten sich dem Werk in gleicher Weise gewidmet, wie exemplarisch die äußerst knapp gehaltene Inhaltsdarstellung Adornos (Adorno, 1933) im Vergleich mit der profunden und umfangreichen Analyse und Kritik Plessners verdeutlicht (Plessner, 1933). Doch der Textkorpus insgesamt gibt es inhaltlich her, von ihm aus Hartmanns Philosophie des Geistes in den Blick zu nehmen, um im Interesse der drei genannten Erkenntnisperspektiven Gewinne zu erzielen.
II. AFFIRMATIONEN
Zunächst wird versucht, auffällige positive Thesen, Anmerkungen, Bewertungen usw. herauszustellen, die in den Rezensionen aufweisbar sind. Im Interesse einer produktiven Systematik lassen sich dabei zwei Schwerpunkte bilden, unter die die zum Teil heterogenen Aspekte zusammengefasst werden können.
II. 1 Die phänomenologische Methode und ihr Ertrag
In der großen Mehrzahl der Besprechungen des Buches wird Hartmanns methodisches Vorgehen auf dem Feld der Philosophie des objektiven Geistes gelobt9. Hartmann selbst hatte zu seiner Methode ganz allgemein — und im Geiste Aristoteles'
Keine Beachtung in dieser Arbeit finden fremdsprachige Rezensionen (mit Ausnahme einer englischsprachigen). Dies ist darin begründet, dass deren Umfang klein ist und sie zumeist über bloße Inhaltsangaben nicht hinausgehen. Auffällig ist, dass auch hier die Reaktion auf Hartmanns Werk sehr schnell erfolgte — schon 1933 findet sich eine Besprechung in einer chilenischen Zeitschrift (Adams, 1933). Dies belegt vermutlich nochmals den hohen Stellenwert, den Hartmann als Denker in seiner Zeit genoss.
Exemplarisch sei verwiesen auf: (Barth, 1932, 2; Brunner, 1934, 273, 274; Gehlen, 1933/34, 430, 431; Hessen, 1933; Plessner, 1933, 408).
8
9
(Aristoteles, 2000, 106) (NE 1094b)10 — angemerkt: „Erkenntnis eines bestimmten Gegenstandes kann niemals beliebig so oder so vorgehen. Sie muß bei den sich darbietenden Angriffsflächen ansetzen, d.h. bei dem, was gegeben ist [...]. Jede Art von Gegenständen verlangt ihre eigene Methode." (Hartmann, 1933, 26). Es ist die Hingegebenheit an die Sache (Hartmann, 1933, 27), die notwendig sei und aus der sich die adäquate Methode ergebe11. Folglich schlägt Hartmann einen phänomenologischen Weg ein: „Was aber das [der Geist-Begriff] besagt, ist nicht der Metaphysik zu entnehmen — weder einer idealistischen noch sonst einer —, sondern allein der Analyse des einschlägigen, überreichen Phänomenbestandes." (Hartmann, 1933, 38). Ein solches Vorgehen beinhaltet ein Absehen von möglichst aller Theorie und eine Zuwendung zu den Sachen selbst. Hartmann rekurriert hier auf die ihm gut bekannte Strömung der Phänomenologie, der er in Person von Max Scheler in Köln und Martin Heidegger in Marburg begegnet war. In seiner Selbstdarstellung von 1933 hat Hartmann diese seine Verbindung zur Phänomenologie betont, sich aber von der phänomenologis-chen Zunft — der Schulphänomenologie husserlscher Prägung, die an Wesensschau interessiert war — abgegrenzt12. Für Hartmann kam es darauf an, die Phänomenolo-gie als eine Stufe in einem dreigliedrigen Stufengang zu verstehen: „Phänomenologie, Aporetik, Theorie" (Hartmann, 1955, 9)13. Auf der rechten Bereitstellung der Basis für alle Theoriebildung (und das heißt vor aller Theoriebildung) besteht Hartmann vehement. Damit kann er sich prima facie — wenigstens dem Ethos nach — mit seinem Widersacher Heidegger einig glauben, der 1927 in Sein und Zeit behauptet hatte:
Der Titel Phänomenologie' drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: ,zu den Sachen selbst!' — entgegen allen freischwebenden Konstruktionen, zufälligen Funden, entgegen der Übernahme von nur scheinbar ausgewiesenen Begriffen, entgegen den Scheinfragen, die sich oft Generationen hindurch als ,Probleme' breitmachen. [...] Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen. Das ist der formale Sinn der Forschung, die sich den Namen Phänomenologie gibt.
10 Die Verwandtschaft Hartmanns mit Aristoteles ist folglich auch von Rezensenten betont worden (cf. Feigel, 1933, 237; Krüger, 1935, 763).
11 Für heutige Diskussionen in der philosophy of mind hat Daniel Dahlstrom (Dahlstrom, 2012, 357358) auf Hartmanns philosophisches Vorgehensweise als erstrebenswerte Alternative hingewiesen.
12 Zum Verhältnis Hartmanns zur Phänomenologie, insbesondere seiner Modifizierung des mit Phänomenologie verbundenen Erkenntnisanspruches vgl. (Möckel, 2012, 110-114, 119-125).
13 Interessant ist eine gewisse Nähe dieser Methode zur dreigliedrigen Methode in der Neuen Phänomenologie (cf. Schmitz, 2005, 141). Schmitz wie Hartmann versuchen, die Theorie- und Begriffsbildung so weit es geht nach hinten zu schieben, um den phänomenalen Sachlagen gegenüber ein Maximum an Offenheit einzuhalten. Auch scheint es Brücken von Hartmanns Begriff des objektiven Geistes zu dem der Situationen zu geben, wie er von Hermann Schmitz verwendet wird (cf. Kluck, 2008).
[...] Wissenschaft ,von' den Phänomenen besagt: eine solche Erfassung ihrer Gegenstände, daß alles, was über sie zur Erörterung steht, in direkter Aufweisung und direkter Ausweisung abgehandelt werden muß. (Heidegger, 2001, 28, 35)
Die große Differenz besteht darin, dass Hartmann einerseits den überlieferten Problemgehalten der Philosophie wesentlich mehr Wert zuerkennt (Hartmann, 1955, 2-6), andererseits zudem die Phänomenerfassung für ein Durchgangsstadium hält, nicht für das Ziel. Dass Hartmann damit der Phänomenologie in der eidetischen (Husserl) und der existentiellen (Heidegger) Variante nicht entspricht, sondern einen eigenen Weg geht, ist von Rezensenten betont worden. So schreibt Plessner:
Allerdings, Hartmann ist Phänomenologe besonderer Prägung. Er kennt nicht wie Husserl oder wie in anderer Art Heidegger einen ursprünglichen Fragehorizont, der das philosophische Forschen grundsätzlich gegen die sogenannte Empirie oder die spezialwissenschaftliche Arbeit überhaupt isoliert; mag dieser Fragehorizont als das transzendental gereinigte Bewußtsein oder als Dasein (Mensch) verstanden sein. Sein Fragehorizont [.] ist mit dem gegeben, was (nicht sehr glücklich) der naive Realismus der natürlichen Weltstellung genannt wird. (Plessner, 1933, 409)
Für Plessner wird erst im Werk Hartmanns „das Mittel der phänomenologischen Beschreibung [...] zu der Freiheit voll entbunden" (Plessner, 1933, 423). Aus Hartmanns methodischer Entscheidung, sich der Trias Phänomenologie, Aporetik und Theorie zu verschreiben, folgt eine Offenheit gegenüber der Empirie und eine Skepsis gegenüber festen Theoriegebäuden. Diese Weichenstellung bedingt zudem eine Absage an einen theoretisch begründeten Konstruktivismus14, also dem bewussten Zurückgreifen auf Theorien zur Erfassung der Welt. Das ist ein Teil der Emanzipation Hartmanns vom ihn geprägt habenden Neukantianismus. Es ist, wie die Rezensenten immer wieder betonen, einer der Hauptvorzüge seines Werkes.
Zu verstehen ist diese Betonung des phänomenologischen Zugangs auch vor dem Hintergrund der etablierten Philosophien des Geistes, allen voran Hegel und Marx. Beide haben auf je unterschiedliche Weise zwar empirisch gearbeitet, aber im Sinne Hartmanns den ersten methodischen Schritt nicht in der gebotenen Reinheit durchgeführt. In diesem Sinne hat seine Schrift dem Kanon eine frische, empirische Stimme hinzugefügt15.
14 Vgl. zu Hartmanns Anti-Konstruktivismus auch: (Hartmann, 1934, 413).
15 Die Berechtigung der Korrekturen Hartmanns an Hegel und Marx ist in vielen Rezensionen unterstrichen worden (vgl. exemplarisch (Burckhardt, 1933; Gehlen, 1933/34, 431)). Gelegentlich wurde auch Ludwig Klages' Geist-Philosophie als der Punkt benannt, von dem Hartmann befreie (cf. Burckhardt, 1933; R., 1934, 263).
Ein weiterer Aspekt, der sich aus der Methode Hartmanns ergibt, folgt man den Rezensenten, ist der umfängliche empirische Gehalt. Das Werk wird charakterisiert als eine Kartographie (Plessner, 1933, 413), es wird ihm Fülle (Krüger, 1935, 763) und Reichhaltigkeit (Hartmann, 1934, 414; Walther, 1942, 90), gar Überreiche (Jordan, 1933, 155) attestiert. Ein solches Lob ist in der Philosophie ein zweischneidiges Schwert. Einerseits hat gerade die Phänomenologie und mit ihr Hartmann für die Relevanz des Begegnenden argumentiert, andererseits ist es ein nicht seltener Vorwurf, dass empirische Arbeiten theoretisch zu anspruchslos, vielleicht sogar unphilosophisch seien. Hartmann hat entsprechende Einwände ebenfalls zu lesen bekommen, worauf gleich einzugehen sein wird. Die empirische Reichhaltigkeit jedenfalls aber verdient trotz allem Beachtung, weil sie Hartmann als einen Philosophen ausweist, der, wie Plessner richtig bemerkt hatte, der Philosophie nicht einen speziellen Erfahrungsbereich zuweisen, sondern sie nach allen Seiten hin offen sehen wollte. Insofern ist Hartmann an der Korrektur einer virulenten Tendenz der Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert, wonach sie nur noch die Methoden und Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu analysieren habe. Vielmehr hält er sie selbst für produktiv und empirisch tätig.
II. 2 Anti-Reduktionismus & Anti-Kollektivismus
Zur Zeit der Entstehung des Werkes Hartmanns gab es im Wesentlichen drei prägende Strömungen in der Philosophie des objektiven Geistes. Es gab den Hegelianismus, der auf einer besonderen, autarken Seinsweise des Geistes bestand, den Marxismus, der den Geist an materielle Gegebenheiten zurückbinden wollte, und es gab die Dilthey-Schule, die den Geist auf einer mittleren Ebene, der Seele, verorten wollte und zwischen Marx und Hegel glaubte Platz finden zu können16. Mit dem Werk Hartmanns trat nun ein Ansatz hervor, der meinte, die Stärken aller Ansätze integrieren und ihre Fehler zugleich vermeiden zu können17. Dazu musste er jedwede Form des Reduktionismus und des Kollektivismus vermeiden. Ersterer sah vor, den
16 Diese Kategorisierung ist grob und — wie alle Vergröberungen — im Detail letztlich, wörtlich genommen, falsch. Es kommt hier aber im Interesse der damals wahrgenommenen Positionierung Hartmanns nur auf die abstrakte ,Landkarte' an, nicht auf detaillierten Positionsaufweis. Zur Mittelstellung Hartmanns im genannten Sinne vgl. ähnlich auch (Specht, 2012, 376).
17 Hartmanns Verhältnis zu Dilthey ist ambivalent, insofern er ihn einerseits als wesentlichen Vorarbeiter benennt (Hartmann, 1933, § 12), andererseits aber in concreto keinerlei Anleihen bei ihm macht. Der Grund dafür liegt vielleicht darin, dass ein dezidiert ontologischer Blick bei Diltheys eher psychologisch-empirischen Untersuchungen kaum Anknüpfungspunkte finden konnte. Zum theoretischen Verhältnis von Hartmann und Dilthey vgl. (Bollnow, 1982, 70-72).
Geist auf eine elementare Begebenheit — Produktionsverhältnisse, Seele, Individuum — zurückzuführen; Letzterer ging davon aus, dass der Geist ein gänzlich überindividuelles Phänomen ist — Volk, Rasse, Gemeinschaft —, von dem her die Individuen ihre Determination erführen.
Möglich wurde Hartmann die Vermeidung beider Extreme durch sein schich-tenontologisches Denken. Dieses nahm zwar einerseits an, dass basale, elementarere Schichten auch in höheren Sphären Einfluss haben — insofern hätte Marx recht —, andererseits aber auch die höheren Seinsschichten neuartige, emergente Eigenschaften und Wirkmächte instanziieren — womit Hegel bestätigt wäre. Er fasst die grundlegende Einsicht so zusammen:
Jede Schicht hat ihre eigenen Prinzipien, Gesetze oder Kategorien. Niemals läßt sich das Sein einer Schicht aus den Kategorien einer anderen in seiner Eigenart verstehen [...]. Im Schichtenbau der Welt ist immer die höhere Schicht getragen von der niederen. Insofern hat sie kein selbständiges, sondern nur ein ,aufruhendes Sein'. [...] Die Abhängigkeit der höheren Seinsschicht ist aber durchaus keine Beeinträchtigung ihrer Autonomie. Die niedere Schicht ist für sie nur tragender Boden, conditio sine qua non. Die besondere Gestaltung und Eigenart der höheren hat über ihr unbegrenzten Spielraum. (Hartmann, 1933, 15)
An Schichten werden von Hartmann in Fortsetzung antiker Lehren (cf. Hartmann, 1957) zunächst unterschieden das Anorganisch-Materielle, das Organische, das Seelische und das Geistige, Letzteres wird dann in personalen, objektiven und objektivierten weiter differenziert (Hartmann, 1933, 50-68). Die sich aus dieser Annahme ergebende Mittelstellung Hartmanns im Hinblick auf das Problem des geistigen Seins ist als wesentliche Stärke seines Buches betont worden (Burckhardt, 1933; Foerster, 1933; Hook, 1935; Menzer, 1934, 117; Plessner, 1933, 416-417). Aus dieser Mittelstellung ergibt sich die Unmöglichkeit, auf Hartmanns Theorie aufbauend, die Sphäre des objektiv Geistigen entweder aus den Individuen oder aus einem Kollektiv abzuleiten. Beides ist — auch kritisch, wie noch gezeigt wird — herausgestellt worden. So schreibt etwa Plessner, „Hartmann wehrt sich von vornherein gegen den Soziologismus wie überhaupt jeden Reduktionsversuch auf eine individuell-schöpferische Basis" (Plessner, 1933, 416). Zugleich aber, auch das hebt Plessner hervor, argumentiert das Werk gegen „alle Romantik der Geborgenheit"18, es „wahrt [...] die immer neu zu bestehende Kampflage zwischen den Mächten der Personalen und des Objektiven" (Plessner, 1933, 416). Auch die Reduktion auf Materielles wurde unmöglich
18 Plessner dürfte hier an den Gemeinschafts-Diskurs im Anschluss an Ferdinand Tönnies (Tönnies, 2005) denken, den er selbst bereits in Grenzen der Gemeinschaft (Plessner, 1981) attackiert hatte.
und als grundlegende und berechtigte Kritik am Marxismus erkannt (cf. Aengeney-ndt, 1949; Burckhardt, 1933).
Die anti-hegelianischen Spuren im Text Hartmanns — insgesamt häufiger als die Auseinandersetzung mit einem Reduktionismus — sind ebenfalls als positiv aufgefasst worden (cf. Burckhardt, 1933; Gehlen, 1933/34, 431). Prägnant behauptet der Rezensent S. Hessen:
Jedoch darf die Hegelsche Terminologie, die Hartmann mitunter gebraucht, nicht irreführen. Von Hegels Metaphysik des Geistes [.] unterscheidet sich Hartmanns Ontologie des Geistes durch ihre kritische Haltung. [...] Gesamtpersonen gibt es nach Hartmann nicht, sie sind bloße Erdichtungen einer spekulativen Metaphysik, die Hartmann als ein echter Kantianer, der er auch in seiner Ontologie und Phänomenologie geblieben ist, aufs entschiedenste ablehnt. (Hessen, 1933)
Wiewohl auch die Zuordnung Hartmanns zu Kant und weg von Hegel zu einfach anmutet, trifft das Zitierte einen wichtigen Punkt. Hartmann erweist sich als Anti-Kollektivist, wenn man darunter versteht, dass der objektive Geist als losgelöst und im starken Sinne unabhängig von den Individuen gedacht wird19.
Beide durch die Dependenzgesetze der Schichtenontologie bedingten Aspekte — Anti-Reduktionismus, Anti-Kollektivismus — haben, wie gezeigt, Unterstützer gefunden. Gleichwohl sind beide Punkte auch kritisch gesehen worden, zunehmend in den Rezensionen, die nach 1933 erschienen sind. Hier zeigt sich das Werk als durch den historischen Scheidepunkt, welchen sein offizielles Erscheinungsjahr markiert, rezeptionsgeschichtlich geprägt.
III. KRITISCHES
Hartmanns Problem des geistigen Seins erschien Ende 1932, am Vorabend historischer Weichenstellungen mit katastrophalen Konsequenzen. Diese realhistorischen Geschehnisse hatten auch Auswirkungen auf die Rezeption seines Werkes. Einige, gleichwohl nicht alle Kritikpunkte, die hervorgehoben worden sind, lassen sich von dieser weltanschaulichen Veränderung her verstehen. Wie auch im Hinblick auf die referierten Affirmationen werden die wesentlichen Einwände in thematischen Gruppen gebündelt, um die Analyse zu pointieren.
19 Bemerkenswert ist noch die Häufung theologisch ausgerichteter Rezensionen, die zeigen wollen, dass Hartmanns Konzept des objektiven Geistes nach dem Paradigma der Religion gedacht werden muss (cf. Jelke, 1933, 205; Krüger, 1935, 765; R., 1934; Traub, 1934, 462). Hartmann selbst hat dies durch gewisse Bemerkungen zumindest nahegelegt (cf. Hartmann, 1933, 209-210).
III. 1 Sozialontologie
Hartmann schien eine Mittelstellung zwischen den Alternativen Reduktionismus und Kollektivismus eingenommen zu haben — jedenfalls in den Augen Plessners und anderer. Dagegen finden sich allerdings zwei Einwände: einerseits wird Hartmann vorgeworfen, er sei Apologet einer kollektivistischen, letztlich nationalsozialistischen Ideologie, andererseits ist aber auch der genau entgegengesetzte Vorwurf zu lesen, er sei Vertreter eines Individualismus, der die wahre Bezugsgröße Volk übersehe. Schon die Wortwahl beider Einwände macht deutlich, dass Hartmann hier durch eine politische Brille oder als politischer Denker gelesen wird. Beides geht an seinem Selbstverständnis vorbei20, prägt aber die Rezeption.
Eine im Winter 1935 in Amerika erschienene Rezension nimmt ganz direkt Hartmanns Philosophie des objektiven Geistes vor dem Hintergrund der politischen Umwälzungen in Deutschland in den Fokus. Hartmann wird vorgeworfen, er habe bei der Analyse des objektiven Geistes dessen Heterogenität übersehen und damit den realen Vorgängen in Deutschland gleichsam eine Apologie geliefert:
It is further to be remarked that Hartmann fails to do justice not merely to the material basis of 'objective mind' but of the glaring facts of division and conflict within the cultural configurations of any given class society. It would not require much ingenuity to transform his undifferentiated cultural concepts into the ambiguous middle terms of apologetic arguments for German National Socialism. (Hook, 1935, 49)
Die Philosophie des objektiven Geistes wird verstanden als eine Theorie, in der der Geist als opak und homogen auftrete. Es lässt sich sicher behaupten, dass Hartmann insofern durch Hegels Denken noch beeinflusst war, als er an vielen Stellen den Singular .objektiver Geist' verwendet, wo es sachlich geboten wäre, im Plural zu sprechen (cf. Hartmann, 1933, 221-229). Hook geht von dieser Beobachtung aus und deutet Hartmann im Kontext realhistorischer Entwicklungen. Dass das Werk zumindest der besonderen Rolle führender Individuen gegenüber einem Kollektiv, die damals politisch wie theoretisch en vogue war, Begründung liefert, ist dabei auch von anderen gesehen worden (Bollnow, 1933/34).
20 Vgl. dazu illustrierend eine Anekdote bei Harich (2000, 26). Generell ist aber sicher festzuhalten, dass Hartmanns Werk in der Zuordnung schwierig bleibt. Dem Untertitel gemäß will es geschicht-sphilosophisch und geisteswissenschaftlich sein, es operiert aber dezidiert phänomenologisch, terminologisch nimmt es wesentliche Impulse von Hegel her und beruht sachlich auf einer Ontologie. Jede der Zuordnungen ließe sich argumentativ begründen, eine Uneindeutigkeit, die vermutlich die Rezeption erschwerte. So findet sich, als Indiz für diese Sachlage, das Werk auch in sehr verschiedenen Rubriken in den Zeitungen und Zeitschriften wieder, in denen es besprochen wurde — Metaphysik, Allgemeines, Geschichtsphilosophie, Sonstiges.
Unter genau umgekehrten Vorzeichen argumentiert eine Rezension verschiedener geschichtsphilosophischer Werke, verfasst von August Klemmt. Dieser wirft Hartmann nämlich vor, er überbetone die Rolle der freien Individualität zu Lasten kollektiver Entitäten, woran „vor allem der individualistische Geistbegriff" (Klemmt, 1936, 97) Schuld trage.
Denn der Ansicht kann allerdings nicht länger gehuldigt werden, daß dem Geist eine ausschließlich individuelle Existenz zukomme, der objektive Geist (Gemeingeist) dagegen der Subjektivität und Personalität ermangele. Uns ist heute vielmehr das Volk — ebenso wie der Volksgeist — etwas wirklich , Existierendes', etwas, was existentiell' keineswegs nur durch die Individuen nebenhergetragen und repräsentiert wird. (Klemmt, 1936, 97)21
Anders als zuvor kommt Hartmann nun in den Verdacht, Individualist und Sozialatomist22 zu sein, insofern er sagt, „[e]s gibt keine geistigen Phänomene, die man also solche des objektiven Geistes allein verstehen könnte, [.] weil es keinen objektiven Geist gibt, der für sich neben den Individuen bestände" (Hartmann, 1933, 64). Beide Vorwürfe vereinseitigen Hartmanns abwägende Mittelstellung im Interesse politisch gefärbter Kritik.
Allerdings kann man daraus, also aus der Möglichkeit, Hartmann für beide so-zialontologischen Anliegen instrumentalisieren zu können, auf eine Ambivalenz des Werkes schließen. Krüger hat in diesem Sinne Hartmann vorgeworfen, er sei sich über zwei nicht vereinbare Hintergrundtheoreme seines Denkens nicht klar: „ .H. s Zug zu einer ,kosmologischen' Metaphysik im Sinne der Antike [wird] faktisch durch die von ihm undurchschaute moderne Schätzung der menschlichen Personalität als des höchsten Seins durchkreuzt..." (Krüger, 1935, 765). In Hartmanns Theorie kämpfen demnach individuell-existentialistische Elemente mit einer kosmologischen Perspektive. Beide Perspektiven haben je nach politischer Instrumentalisierung Kritik erfahren23.
Interessant ist das nun besonders insofern, als es eine Parallele mit Hartmanns großem zeitgenössischen Kollegen und Widersacher Heidegger beleuchtet. Diesem wird heute — und wurde auch schon früher — vor allem der Vorwurf entgegengebracht, er habe mit Sein und Zeit sich „dem Willen verpflichtet, das Denken des Ich
21 Es sei zur Einordnung der Rezension darauf hingewiesen, dass sie als wesentlichen Geschichtsphilosophen der Gegenwart Alfred Rosenberg benennt.
22 Die Bandbreite der Interpretationen und Vorwürfe belegt auch, dass ein anderer Philosoph gegen Hartmann gerade einen legitimen Sozialatomismus stark machen möchte (vgl. Groos, 1937, 278).
23 Zu Hartmanns Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft vgl. (Becker, 1990, 168-262).
zu zerstören, um für die radikalste Individuation', die sich keinesfalls im Individuum, sondern in der organischen Unteilbarkeit der Volksgemeinschaft verwirklicht, Platz zu schaffen" (Faye, 2009, 34)24. Gleichzeitig ist aber zu beobachten, wie besonders die frühe Rezeption des Werkes dieses ganz im Gegenteil als Ausdruck eines inhumanen Individualismus, Solipsismus, Subjektivismus oder Egoismus las (Großheim, 2007, 190-201). Es ergeht damit Heidegger wie Hartmann, dem je nach Zeit und politischem Hintergrund andere Explikationen zuteilwurden. Das ist einerseits sicher eine Frage der Redlichkeit und Gründlichkeit der Rezeption, andererseits aber auch dem Umstand geschuldet, dass beide Werke in sozialontologischer Hinsicht Vermittlungsfiguren mit entsprechenden Unschärfen sind.
III. 2 Wissenschaftshörigkeit
Auch an Hartmanns Frage nach den Kriterien eigentlichen', ,echten' objektiven Geistes25, die oft positiv hervorgehoben wurde, findet sich Kritik. Diese speist sich aus einer Eigenart des Werkes. Im Kontext der Frage, was im objektiven Geist echt, das heißt von Dauer und Wert und nicht bloß kurzlebigem Interesse sei, meint Hartmann, dass es letztlich die Wissenschaft ist, in der sich der objektive Geist als echter entwickle (cf. Hartmann, 1933, 322-347). Dann wäre es sogar denkbar, „daß einmal die Wissenschaft mit dem laufenden politischen Geschehen Schritt halten und der Mensch durch sie in die Lage kommen könnte, den Geschichtsprozeß in ganz anderem Maßstabe prospektiv zu dirigieren, als das bei gegebener Sachlage möglich ist" (Hartmann, 1933, 347). Es hat den Anschein, als ob der objektive Geist in den Wissenschaften doch ein Verhältnis zu sich entwickelt, wie es Hegel im dialektischen Prozess beschrieben hatte.
Gegen diese Rolle der Wissenschaften wurde Einspruch erhoben. Es habe den Anschein, heißt es bei Krüger, es äußere sich darin ein „rationalistische[s] Vorurteil" (Krüger, 1935, 768). Gehlen wiederum meint, allerdings positiv gewendet, dass Hartmann damit zu einem progressiven Sozialtheoretiker werde, insofern „die Kultur der Menschheit [...] durch die Wissenschaft an den Rand des Untergangs gedrängt
24 Es sei angemerkt, dass Emmanuel Faye die in Sein und Zeit unzweifelhaft vorhandene Ambivalenz von existentiellen und gemeinschaftlichen Motiven ohne nähere Begründung einseitig zugunsten des Kollektivums auflöst. Dass mag der Text hergeben, ist aber gerade in der Einseitigkeit und Eindeutigkeit vermutlich nicht der unterstellte Willen des Autors. Dieser hat, folgt man den Bemerkungen Kurt Wuchterls, gerade die stimmungsmäßige Pluralität gut eingefangen und deshalb gewirkt (Wuchterl, 1995, 450-451).
25 Das Problem der Echtheit und Eigentlichkeit entwickelt Hartmann in dezidierter Auseinandersetzung mit Heideggers Theorie des Man (Hartmann, 1933, 314-316; Heidegger, 2001, § 27).
worden und [...] nur durch noch mehr Wissenschaft allenfalls zu retten [sei]" (Gehlen, 1933/34, 433). In jedem Fall bleibt es für die Rezensenten fraglich, ob die Rolle, die der Wissenschaft zugedacht wird, zum einen realistisch ist, zum anderen ob sie mit Hartmanns standpunktfreiem und phänomenologisch orientiertem Philosophieren zusammengehen kann (vgl. Menzer, 1934, 117). Es passt dann auch in das zum Teil paradoxe Rezeptionsbild, dass die Wissenschaftshörigkeit zwar kritisiert wird, andererseits wiederum Hartmanns Werk als Ausdruck eines 'historical vitalism' mit einer "aura of mysticism that clings to every non-empirical approach to culture" (Hook, 1935) gelesen wurde.
III. 3 Theorieferne und Theoriebeladenheit
Schließlich ist ein weiterer Komplex an Einwänden zu thematisieren, die — anders als die stärker interpretatorischen sozialontologischen Fragen — unmittelbar ins Herz von Hartmanns eigenem Werk zielen. Er war bekanntlich angetreten, möglichst sachadäquat, konstruktionsfrei und standpunktneutral an die Phänomene heranzutreten. Wie bei der Phänomenologie lässt sich daher fragen, was der Ertrag seines Werkes eigentlich ist. Geht es ,nur' um eine Erfassung des empirischen Feldes oder gibt es doch auch Theorie darin? Und wie genau ist die Standpunktfreiheit Hartmanns zu lesen — ist so etwas überhaupt möglich26?
Der Stimmen, die die theoretische Leere des Werkes attestieren und bedauern, sind nicht wenige. So sagt Plessner, Hartmann zeige nicht, „wie die zur phänomenologischen Bestandsaufnahme passende Theorie in der Philosophie arbeiten soll." (Plessner, 1933, 421). Das Fehlen eines metaphysischen Hintergrundes — vom Autor selbst als Stärke gesehen (Hartmann, 1933, 10-13) — wird deshalb zur problematischen Auslassung gemacht (Brunner, 1934, 273; Groos, 1937, 267). Das Buch liefert, dieser Analyse nach, eine umfassende Beschreibung menschlicher Wirklichkeit, kann allerdings keine adäquate Theoriebildung anschließen. Wenn man die drei methodischen Stadien — Phänomenologie, Aporetik, Theorie — ernst nimmt, ließe sich sagen, dass Hartmann nur die ersten beiden davon angegangen ist.
Das passt zu einem weiteren Einwand, der besagt, dass es sich um keine echte Ontologie des objektiven Geistes handele (Aengeneyndt, 1949, 470). Und tatsächlich ist es richtig, dass das Werk eben nicht zur vierbändigen Ontologie Hartmanns gehört
26 Heidegger hatte in Sein und Zeit — worauf Gadamer (Gadamer, 1965) später eine komplexe Hermeneutik aufbauen sollte — explizit darauf hingewiesen, dass es keinen Zugang zu den Phänomenen ohne Vorgriff gibt (cf. Heidegger, 2001, 148-153).
(cf. Hartmann, 1965, V), sondern gleichsam außerhalb steht, obwohl es natürlich sachlich auf diese rekurriert. Dazu schreibt Hartmann 1935:
Man kann das Leben und die Geschicke des objektiven Geistes genau so erfassen und beschreiben, wie man alles Reale, soweit es in die Erscheinung tritt, erfassen und beschreiben kann. [...] Rätselhaft dagegen bleibt seine Seinsweise. [...] Einer Seinsweise als solcher auf den Grund gehen ist aber offenkundig Sache ontologischer Untersuchung. Es ist ein Spezialfall der allgemeinen Aufgabe, das ,Seiende als solches' zu verstehen. In ihrem heutigen rückständigen Zustande ist die Ontologie noch keineswegs in der Lage, dieser Aufgabe zu genügen; was wir heute leisten können, ist mehr nur eine phänome-nologische Vorarbeit. (Hartmann, 1965, 11-12)
Diese Aussage, zwei Jahre nach dem Problem des geistigen Seins formuliert, macht deutlich, wie Hartmann seine Arbeit selbst sah. Sie ist keine ontologische Durchdringung des Seinsbereichs des Geistes, sondern eine empirische Vorarbeit dazu. Der Vorwurf der Theorieferne oder -leere ist, vor diesem Hintergrund, vermutlich zutreffend27, verliert aber seinen normativen Stachel.
Wie zuvor, so tritt neben diesen Vorwurf zugleich aber ein anderer Einwand, der mit einem gegenteiligen Motiv operiert. Hartmanns Ideal der Standpunktferne wird hinterfragt. Genauer gesagt wird sogar behauptet, dass sich Hartmann seiner eigenen Prägungen und Bedingtheiten unklar ist. Plessner fragt: „Gibt es denn überhaupt eine philosophisch neutrale Zone? Das soll hier heißen: ein noch nicht theoriebedingtes Vorfeld und eine nicht theoriebedingte Blickstellung?" (Plessner, 1933, 421). Die Antwort darauf lautet, mit den Kritikern gesprochen, nein, denn schon Hartmanns spezifische Blicknahme ist ein kulturelles, zeitlich bedingtes Produkt:
[Hartmann] sieht das geistig-geschichtliche Leben wie auf einem fremden Stern sich abspielen. [. ] Hartmanns Blickpunkt wahrt also von Anfang an jene Distanz, die das Universum im Sinne einer mittelpunktlosen ,Natur' zur Anschauung bringt. [...] Aber mußte diese Blickstellung nicht erst langsam durch Männer wie Kopernikus und Giordano Bruno erobert werden? (Plessner, 1933, 422)
Ganz ähnlich wird Hartmanns Perspektive auf den objektiven Geist — die ihn in die Nähe von Schelers ,kosmologischen' Blick rückt — von Krüger (1935, 768) und Keyserling (1939, 42) kritisiert. Es ist in die Beobachtung bereits Theorie eingegangen, die den objektiven Geist wie durch die Brille eines positivistisch denken Naturforschers erfasst. Insofern wird dem Werk eine Theoriebeladenheit unterstellt, die
27 Zudem dürfte der geringe theoretische Ertrag vielleicht auch eine der Erklärungsbausteine für die — bei aller allgemeiner Wertschätzung — geringe Wirkungskraft des Textes sein.
Hartmann, trotz allem Bemühen, nicht einholt, sondern in ihr als einer hermeneutischen Vorurteilsstruktur gefangen bleibt28.
IV. LEERSTELLEN
Das Vorhergehende fasst die wesentlichen Bezugspunkte der Rezensenten auf das Werk Hartmanns zusammen. Es gilt jedoch noch zwei Leerstellen zu thematisieren, das heißt solche Besonderheiten, die gerade als Nicht-Vorhandene hervortreten. Einerseits geht es um die fehlende phänomenologische Bezugnahme, andererseits um einige Eigenarten der Rezension Gehlens.
Zunächst ist zur phänomenologischen Nicht-Rezeption der hartmannschen Theorie des objektiven Geistes zu sagen, dass deren Beschweigen des Werkes unmittelbar im Erscheinungskontext verwundert. Denn nicht nur hat Hartmann sich zur phänomenologischen Methode bekannt, nicht nur war er Heidegger — wenn auch antipodisch — verbunden, sondern vor allem Gerda Walther (1923) und, wenn auch weniger einschlägig, Hedwig Conrad-Martius (1923)29 hatten Schriften verfasst, die zumindest in Teilen Aspekte des Bereichs streiften, den auch Hartmann behandelte. Dass Heidegger keine Rezension verfasste, ist wenig überraschend, vielmehr zu erwarten, aber dass auch aus seinem Umfeld keine explizite Stellungnahme erfolgte, lässt sich sachlich nicht leicht erklären. Eine Kritik etwa an der von Hartmann gewählten Weise der Phänomenologie oder an konkreten Beschreibungen hätte nahe gelegen. Vielleicht ist für diese Leerstelle der Veröffentlichungszeitpunkt und dessen Folgen als Aufschluss nicht ganz abwegig.
Anders liegt der Fall in Bezug auf Gehlen, der sehr zeitnah eine Rezension des Buches veröffentlicht hat. Gehlen ist zu diesem Zeitpunkt in Leipzig im Umfeld von Hans Freyer und anderen tätig, hatte aber 1925/26 bei Hartmann Vorlesungen in Köln besucht30. Dieser Hintergrund ist deshalb von besonderer Bedeutung, als Freyer wenige Jahre vor Hartmann ein Werk veröffentlicht hatte, das sich dezidiert dem objektiven Geist widmete, nämlich den folgenden, verwandten Fragen: „Wie ist jener
28 Den ähnlich gelagerten Vorwurf einer gewissen Unreflektiertheit im Hinblick auf die eigene Begrifflichkeit und Perspektive hat zuletzt gegen Hartmann Hähnel (Hähnel, 2013, 466-467) erhoben.
29 Auch später kommt Hedwig Conrad-Martius nicht auf Hartmann — auch nicht auf dessen doch breiter rezipierte Ontologie — zu sprechen (cf. Conrad-Martius, 1957).
30 Vgl. zu diesem Umstand: (Fischer, 2008, 152, 155). Gehlens Rezension verdeutlich dessen spezifische und detailreiche Kenntnisse der Philosophie Hartmanns an zwei Stellen besonders — einerseits nämlich (Gehlen, 1933/34, 430) verweist er auf einen Vortrag Hartmanns in Oxford 1930 (cf. Hartmann, 1931), andererseits nimmt er einen beiläufigen, aber durchaus diffizilen Vergleich von Das Problem des geistigen Seins mit Hartmanns Ethik vor (Gehlen, 1933/34, 431).
Aufbau der historischen Welt nicht sowohl denkerisch geleistet worden als objektiv beschaffen? Aus welchen Elementen besteht sie, welche Komplexionsformen gibt es in ihr, welche Strukturgesetze gelten?" (Freyer, 1928, 11). Eine Leerstelle besteht darin, dass Gehlen auf das Werk seines akademischen Lehrers und Vorgesetzten gar nicht hinweist31. Er kritisiert Hartmann nicht unter Bezugnahme auf das Werk oder Theoreme Freyers, warum bleibt Spekulation. Und eine zweite Leerstelle besteht darin, dass Gehlen auch sein eigenes Werk von 1931, Wirklicher und unwirklich Geist, nicht in Beziehung zu Hartmann setzt. In dieser seiner Habilitation hatte er es unternommen, mittels eines phänomenologischen Vorgehens (Gehlen, 1931, VIII-IX, 195 ff.) — das heißt für ihn, ganz wie bei Hartmann: Absehung von Hypothesen und Verweilen bei allein der menschlichen Erlebnisrealität — zu untersuchen, ob es nicht-rationale Zugänge zur Realität gibt. Er war bemüht, den rein kognitiven, rationalen und letztlich verminderten Wirklichkeitskontakt durch emphatischere, weniger distanzierte Weisen zu ersetzen. Das Werk ist insgesamt in der Anlage wie in den Thesen nicht leicht zu erschließen und wurde von Gehlen selbst (Fischer, 2008, 153) bald als zu subjektivistisch abgelehnt32. Er hätte demnach, ausgehend von seinem eher individuell verstandenen Geist-Begriff, leicht in Hartmanns Werk eine Korrektur eigener Gedanken sehen können, doch er schweigt sich darüber aus33. Neben der Auslassung Freyers und seines eigenen Werkes ist schließlich noch zu beobachten, dass — denkt man von der späteren Institutionenlehre her (Gehlen, 1956) — Gehlen im Kontakt mit Das Problem des geistigen Seins im Prinzip einen Blick auf einige Tendenzen seines eigenen zukünftigen Denkens wirft. Die Betonung der Kultursphäre, die Rolle der Sprache usw. wird er später, im Vergleich zu seiner Habilitation, aufwerten. Ein Reflex auf die Lektüre der hartmannschen Geist-Philosophie findet sich allerdings, wie schon erwähnt, auch beim späten Gehlen nicht.
Beide Beobachtungen, die hier als auffällige Leerstellen benannt wurden, bedürften weitergehender Forschung, um sie richtig deuten zu können. Sie belegen aber, dass sich aus dem gewählten Textkorpus weiterführende Fragen ergeben, deren Beantwortung verspricht, das philosophiegeschichtliche Bild zu bereichern.
31 Andere Rezensenten haben dies sehr wohl getan (cf. Plessner, 1933, 416).
32 Vgl. zu der individualistisch-existentialistischen Perspektive des frühen Gehlen auch: (Großheim, 2002, 208-216).
33 Als Nebenbeobachtung sei erwähnt, dass er zwar weder zu Freyer noch zu seinem eigenen Werk eine Brücke schlägt, aber Hartmann als Denker der Exzentrizität im Sinne Plessners (und Klages') verortet (Gehlen, 1933/34, 430). Diese Erwähnung Plessners dürfte im Werke Gehlens vielleicht die erste und sicher lange Zeit letzte sein, bevor er ihn, wie Rehberg meint (Rehberg, 2009/10, 181, 183), aus politischem Opportunismus jahrelang explizit nicht erwähnt.
V. FAZIT
Der Durchgang durch die Rezensionen der hartmannschen Philosophie des objektiven Geistes hat gezeigt, dass das Buch in der Zeit nach der Veröffentlichung als Beitrag höchster Güte verstanden, zugleich aber — jenseits verbaler Bekundungen — in theoretischer Hinsicht nur bedingt positiv aufgenommen wurde. Vielmehr fand die reiche empirische Fülle sowie die zwischen elementarem Reduktionismus soziologischer oder marxistischer Provenienz und holistischem Kollektivismus des Volkes oder der Gemeinschaft verortete Mittelstellung Beachtung. Hierin liegt — neben der von Dahlstrom (Dahlstrom, 2012, 356-360) herausgestellten methodischen Attraktivität — die heutige Relevanz Hartmanns. Die Schichtenontologie als Versuch einer Mittelposition (cf. Dahlstrom, 2012, 354-356; Wunsch, 2014, 93-95, 290) vermag bekannte Diskussionen im Kontext von Emergenz und Supervenienz zu befördern. Das Spezifikum von Das Problem des geistigen Seins, welches ja außerhalb der Ontologie im engeren Sinne steht, liegt dabei womöglich in einem Beitrag zur Theorie kollektiver Intentionalität, also etwa der Frage, wie Gruppen, Gruppenprozesse und Gruppenhandlungen ontologisch und handlungstheoretisch zu verstehen sind34. Ebenso bietet Hartmanns Werk einen Beitrag zum Begriff der Person (bzw. Personalität), insofern sein Modell auch dieses im Rahmen kollektiver Phänomene in Form des objektiven Geistes einen Platz zuweisen kann.
Gleichwohl ließ Hartmann, indem er auf eine explizite, weiterführende Theoriebildung in dieser Richtung verzichtete und nicht an metaphysische Deutungsangebote anknüpfte, viele Rezensenten — und damit vermutlich ebenso heutige Theoretiker — unbefriedigt zurück. Auch hat die geschilderte Mittelstellung dazu geführt, dass das Werk in politischer Hinsicht für vereinseitigende Ausdeutungen anfällig war. Schließlich zeigten die Einwände mancher Rezensenten an Hartmanns methodischem Ideal der Standpunktfreiheit, dass auch er gegen geschichtliche Vorurteile und kulturellen Ballast nicht gefeit war. Im Brennglas der Rezensionen wird damit ein philosophisches Theorieangebot am Vorabend der Machtergreifung des
34 Eine solche Position, mit der sich Ansichten aus Das Problem des geistigen Seins gut verbinden ließen, stellt Hans Bernhard Schmids Theorie der Wir-Intentionalität dar. Dieser will etwa die „on-tologisch[e] Grundprämisse [hinterfragen], daß alle Intentionalität (alles Fühlen, Denken oder Beabsichtigen) ein Subjekt braucht" (Schmid, 2005, 23). Hartmann würde ihm zeigen können, dass das einerseits der Fall ist (der objektive Geist braucht den personalen), in anderer Hinsicht aber auch nicht (denn der objektive Geist ist kategorial vom personalen unabhängig). Schmid bemerkt selbst, dass für sein Vorhaben ein „Rückgriff auf den Diskussionszusammenhang der Phänomenologie und frühen Existenzphilosophie besonders fruchtbar sein kann" (Schmid, 2005, 24), übersieht dabei aber Hartmann als interessanten und sachlich nahestehenden Denker.
Nationalsozialismus greifbar, welches die dann folgenden Verwerfungen aus zum Teil kontingenten, zum Teil aber auch intrinsischen Gründen rezeptionsgeschichtlich nur marginal zu überdauern vermochte. Man kann dieses Urteil gleichwohl positiv als Anregung wenden und dem heutigen Leser des Werkes mit an die Hand geben, was die früheren Rezensenten — bei aller Kritik — dem Ton nach fast einmündig zugestanden haben: „Es hat etwas Befreiendes, wenn man in der heutigen Flut der Broschürenliteratur auf ein Werk stößt, das nicht kurz überflogen, sondern gründlich studiert sein will, weil es ernste und tiefe Probleme ernst und tief behandelt." (Traub, 1934, 459). In diesem Sinne harrt es weiterhin als ernstzunehmendes Angebot für eine philosophische Beschäftigung mit der Sphäre des objektiv Geistigen.
ACKNOWLEDGEMENTS
First, I want to thank Joachim Fischer for discussing the role of reviews as a way to enlighten Hartmanns philosophy, and secondly I like to extend my thanks to Matthias Wunsch and Michael Großheim for sharing their philosophical views on some matters the article deals with.
REFERENCES
Adams, A. (1933). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Anales de la
Universidad de Chile, 11 (3), 113. Adorno, T. W. (1933). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Zeitschrift
für Sozialforschung, 2, 110-111. Aengeneyndt, H. (1949). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Philosophische Studien, 1, 470-472. Aristoteles. (2000). Nikomachische Ethik. München: Deutscher Taschenbuchverlag. Ballauf, T. (1952). Bibliographie der Werke von und über Nicolai Hartmann einschließlich der Übersetzungen. In H. Heimsoeth & R. Heiß (Eds.), Nicolai Hartmann. Der Denker und sein Werk (286-312). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Barth, H. (1932). Vom geistigen Sein. Zum neuen Buche von Nicolai Hartmann. Neue Zürcher Zeitung, 1-2.
Becker, S. (1990). Geschichtlicher Geist und politisches Individuum bei Nicolai Hartmann. Bonn: Bouvier. Bollnow, O. F. (1933/34). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Die Literatur, 36, 241.
Bollnow, O. F. (1982). Lebendige Vergangenheit. Zum Begriff des objektiven Geistes bei Nicolai Hartmann. In A. J. Buch (Eds.), Nicolai Hartmann 1882-1982 (70-84). Bonn: Bouvier. Brunner, A. (1934). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Scholastik, 9, 273-274.
Buch, P., & Buch, A. J. (1987). Bibliographie der seit 1964 über Nicolai Hartmann erschienen Arbeiten. Zugleich Ergänzungs-Bibliographie zu den 1952 und 1963 abgeschlossenen Hartmann-Bibliographien. In A. J. Buch (Eds.), Nicolai Hartmann 1882-1982 (326-344). Bonn: Bouvier.
Burckhardt, G. (1933). Über das Wesen des Geistes. Kölnische Zeitung.
Conrad-Martius, H. (1923). Realontologie. Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung, 6, 159-333.
Conrad-Martius, H. (1957). Das Sein. München: Kösel-Verlag.
Dahlstrom, D. (2012) Zur Aktualität der Ontologie Nicolai Hartmanns. In G. Hartung, M. Wunsch & C. Strube (Eds.), Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie — Nicolai Hartmann (349-366). Berlin, Boston: de Gruyter.
Deutsche Bücherei zu Leipzig (Hrsg.) (1933). Anzeige von Nicolai Hartmanns „Das Problem des geistigen Seins". Literarisches Zentralblatt für Deutschland, 84, 154.
Faye, E. (2009). Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935. Berlin: Matthes & Seitz.
Feigel, F. K. (1933). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht, 44, 237.
Fischer, J. (2008). Philosophische Anthropologie. Freiburg, München: Karl Alber.
Foerster, G. (1933, Februar 1). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Deutsche Allgemeine Zeitung.
Freyer, H. (1928). Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. Berlin, Leipzig: B. G. Teubner.
Gadamer, H.-G. (1965). Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck.
Gadamer, H.-G. (1995). Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.
Gehlen, A. (1931). Wirklicher und unwirklicher Geist. Eine philosophische Untersuchung in der Methode absoluter Phänomenologie. Leipzig: Universitätsverlag von Robert Noske.
Gehlen, A. (1933/34). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Blätter für Deutsche Philosophie, 7, 430-434.
Gehlen, A. (1956). Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Bonn: Athenäum-Verlag.
Gehlen, A. (2008). Über den Cartesianismus Nicolai Hartmanns. Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, 1, 277-284.
Groos, K. (1937). Nicolai Hartmanns Lehre vom objektivierten und objektiven Geist. Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie, 3, 266-285.
Großheim, M. (2002). Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement. Tübingen: Mohr Siebeck.
Großheim, M. (2007). Neuhumanismus und Individualismuskritik. Eine Debatte zwischen Altphilologen und Philosophen. In B. Wirkus (Ed.), Die kulturelle Moderne zwischen Demokratie und Diktatur. Die Weimarer Republik und danach (189-232). Konstanz: UVK.
Hähnel, M. (2013). Systematologie des Denkens. Neue Forschungsliteratur zu Nicolai Hartmann. Zeitschriftfür philosophische Forschung, 67, 452-472.
Harich, W. (2000). Nicolai Hartmann. Leben, Werk, Wirkung. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Hartmann, E. (1934). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Philosophisches Jahrbuch, 47, 413-414.
Hartmann, N. (1931). Kategorien der Geschichte. In G. Ryle (Ed.), Proceedings of the Seventh International Congress of Philosophy (24-30). London: Milford.
Hartmann, N. (1933). Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. Berlin, Leipzig: de Gruyter.
Hartmann, N. (1949). Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. Berlin: de Gruyter.
Hartmann, N. (1955). Systematische Selbstdarstellung. In N. Hartmann, Kleinere Schriften. Bd. 1 (151). Berlin: de Gruyter.
Hartmann, N. (1957). Die Anfänge des Schichtungsgedankens in der Alten Philosophie. In N. Hartmann, Kleinere Schriften. Bd. 2 (164-191). Berlin: de Gruyter.
Hartmann, N. (1965). Zur Grundlegung der Ontologie. Berlin: de Gruyter.
Hartung, G., Strube, C., & Wunsch, M. (Eds.). (2012). Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie — Nicolai Hartmann. Berlin, Boston: de Gruyter.
Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer.
Hessen, S. (1933, April 15). Das Problem des geistigen Seins. Prager Presse.
Hook, S. (1935). Review of Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Books Abroad, 9, 49.
Jelke, R. (1933). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Theologisches Literaturblatt, 54, 205-206.
Jordan, B. (1933). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Die Tatwelt, 9, 155.
Keyserling, H. G. (1939). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Der Weg zur Vollendung, 25, 41-43.
Klemmt, A. (1936). Rezension zur Geschichtsphilosophie. Vergangenheit und Gegenwart, 26, 94-110.
Kluck, S. (2008). Der Zeitgeist als Situation. Rostocker Phänomenologische Manuskripte, 3, 1-42.
Krüger, G. (1936). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Deutsche Literaturzeitung, 56 (3), 758-768.
Menzer, P. (1934). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Schmollers Jahrbuch, 58, 114-118.
Möckel, C. (2012). Nicolai Hartmann — ein Phänomenologe? Zu den Termini Phänomen und Phänomenologie in der „Metaphysik der Erkenntnis". In Hartung, G., Strube, C., & Wunsch, M. (Eds.), Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie — Nicolai Hartmann (105127). Berlin, Boston: de Gruyter.
Morgenstern, M. (1997). Nicolai Hartmann zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.
Plessner, H. (1933). Geistiges Sein. Nicolai Hartmanns neues Buch. Kant-Studien, 38, 406-423.
Plessner, H. (1981). Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. In Gesammelte Schriften, vol. V (7-133). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
R. (1934). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Akademische Monatsblätter, 46, 263.
Rehberg, K.-S. (2008). Nicolai Hartmann und Arnold Gehlen. Anmerkungen über eine Zusammenarbeit aus der Distanz. Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, 1, 273-276.
Rehberg, K.-S. (2009/10). Wider Arnold Gehlens „Austreibung" aus der Philosophischen Anthropologie. Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, 2, 175-195.
Rothacker, E. (1948). Probleme der Kulturanthropologie. Bonn: Bouvier.
Schmid, H. B. (2005). Wir-Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft. Freiburg, München: Karl Alber.
Specht, R. (2012). Was nutzt eine ontologische Grundlegung der Geschichtswissenschaft? Überlegungen zu Nicolai Hartmanns „Das Problem des geistigen Seins". In Hartung, G., Strube, C., & Wunsch, M. (Eds.), Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie — Nicolai Hartmann (367-391). Berlin, Boston: de Gruyter.
Tönnies, F. (2005). Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: WBG.
Traub, F. (1934). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Theologische Literaturzeitung, 59, 459-462.
Walther, G. (1923). Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaft. Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung, 6, 1-158.
Walther, G. (1942). Rezension von Nicolai Hartmann „Das Problem des geistigen Seins". Soldatentum, 9, 90.
Wirth, I. (1965). Realismus und Apriorismus in Nicolai Hartmanns Erkenntnistheorie. Berlin: de Gruyter.
Wuchterl, K. (1995). Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Bern, Stuttgart, Wien: Verlag Paul Haupt.
Wunsch, M. (2014). Fragen nach dem Menschen. Philosophische Anthropologie, Daseinsontologie und Kulturphilosophie. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.