UDC 81/367:81-115
B. BOCK
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland
DER STAMMBAUM — EINE MULTIMODALE WORTGESCHICHTE
For citation: Bock B. Der Stammbaum — eine multimodale Wortgeschichte. German Philology in St Petersburg State University, 2022, iss. 12, pp. 454-473.
https://doi.org/10.21638/spbu33.2022.124
Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Konzept Stammbaum und dem deutschen Wort Stammbaum. Dabei wird das Konzept in den größeren Kontext der PflanzeMensch-Metapher gestellt. Diese findet sich bereits im Alten Orient in der sumerischen Kosmogonie. Sie ist auch aus der Bibel bekannt. Und sie ist in der Indogermania tief verankert und lässt sich über das rekonstruierte Urindogermanische, die griechische und lateinische Mythologie oder germanische und slawische Holzidole erweisen. Der Beitrag stellt die häufig zitierten lateinischen Texststellen zum Thema noch einmal zusammen und kann diese um einen frühen Beleg für einen „Baum der Verwandtschaft" ergänzen. Die älteste Bezeugung datiert damit auf die Zeit um 650. Allerdings handelt sich dabei wohl um einen isolierten Beleg, wenn auch der etwa zeitgleiche Isidor von Sevilla in seinen Etymologiae ein Stemma (also die römische Ahnentafel) mit ramusculi ,Zweiglein' beschreibt. Es muss sich hierbei nicht notwendig um einen Baum handeln, auch wenn das die moderne Bezeichnung als „Baum der Verwandtschaft" suggeriert. Vielmehr haben kunsthistorische Untersuchungen gezeigt, dass zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert verschiedene Darstellungsformen für das Konzept Stammbaum ausprobiert und dann um 1200 die Festlegung auf den bekannten Stammbaum erfolgte. Ein erstes sprachliches Zeugnis findet sich bei Albertus Magnus. Zusammen mit den frühen Stammbäumen von Karolingern und Welfen wird vor dem Hintergrund der tiefen Verankerung der Pflanze-MenschMetapher im Germanischen die These entwickelt, dass der Stammbaum diese alten Vorstellungen auch aufgreift und die Klangähnlichkeit von stemma und Stamm zur Wortbildung Stammbaum beigetragen hat.
Schlüsselwörter: Metapher, Sprachgeschichte, Latein, Germanisch, Deutsch.
B. BOCK
Friedrich Schiller University Jena, Germany
GERMAN STAMMBAUM 'FAMILY TREE' — A MULTIMODAL WORD HISTORY
The paper deals with the concept of family tree and the German word Stammbaum. The concept is placed in the larger context of the plant-human metaphor. This metaphor is already found in the Ancient Near East in the Sumerian cosmogony. It is also known from the Bible. And it is deeply rooted in Indo-Europeania and can be traced through reconstructed Proto-Indo-European, Greek and Latin mythology, or
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https://doi.org/10.21638/spbu33.2022.124
Germanic and Slavic wood idols. The article compiles the frequently cited Latin texts passages on the topic and can add an early evidence for a "tree of kinship". The oldest attestation dates back to the time around 650, but this is probably an isolated evidence, even though Isidore of Seville describes a stemma (the Roman genealogical table) with ramusculi 'little branch' in his Etymologiae. There is no need to conclude that this was a tree, even if the modern "tree of kinship" this suggests. Rather, art historical studies have shown that between the 9th and 12th centuries various forms of representation for the concept of family tree were tested, and that around 1200 the familiar family tree was estabablished as the form we know now as the only one. A first linguistic testimony is found in Albertus Magnus. Together with the early family trees of Carolingians and Guelphs, the thesis is developed, against the background of the deep anchoring of the plant-human metaphor in Germanic, that the family tree takes up these old ideas, too, and that the sound similarity of stemma and German Stamm supported to the word formation German Stammbaum.
Keywords: metaphor, language history, Latin, Germanic, German.
1. Einleitung 1.1. Problemstellung
Stammbäume sind für uns im 21. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit: Neben dem Familienstammbaum kennen wir Stammbäume für biologische Arten, für Sprachen und anderes. Das deutsche Wort mit seiner doppelten Metapher ist lexikalisiert und die dahinterstehenden Bilder von Stamm und Baum werden selten reflektiert. Zwar finden sich immer noch Darstellungen von Bäumen, doch öfter begegnen Abstraktionen, wie schon beim Stammbaum der indogermanischen Sprachen von August Schleicher (Abb. 1).
Abb. 1. Stammbaum der indogermanischen Sprachen von August Schleicher [Schleicher 1861: 7]
Ch. Klapisch-Zuber [Klapisch-Zuber 2004] hat in ihrem Buch „Stammbäume" detailliert aufgezeigt, wie sich die Vorstellung eines Baums der Verwandtschaft im Mittelalter etablierte. Als Ausgangspunkt werden römische Quellen und christliches Gedankengut bestimmt. Die ersten Stammbäume von Herrscherhäusern datieren ins ausgehende 12. Jahrhundert [Klapisch-Zuber 2004: 64-67]. In ihrer Darstellung dominiert das Bild. Aber ist damit das Phänomen Stammbaum schon hinreichend erfasst? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Geschichte des Stammbaums, der bildlichen Form wie des deutschen Wortes, noch komplexer ist und noch tiefer liegende Wurzeln hat.
1.2. Methodik
Den Ausgangspunkt bildet eine diachrone und komparatistische Untersuchung der Pflanze-Mensch-Metapher. Dazu werden sprachhistorische und sprachvergleichende Methoden herangezogen. Die Genese des metaphorischen Ausdrucks Stammbaum und der Darstellung von Stammbäumen ist nur multimodal zu erklären: Dabei wird die u. a. von Klapisch-Zuber [Klapisch-Zuber 2004] vorgestellte Entwicklungsgeschichte auf der Basis philologischer und sprachwissenschaftlicher Untersuchungen erweitert und präzisiert.
2. Die Pflanze-Mensch-Metapher 2.1. Die Pflanze-Mensch-Metapher im Alten Orient
Einige Mythen aus dem Alten Orient verweisen auf die Existenz einer Pflanzen-Mensch-Metapher. Dazu gehört die Kosmogonie, wie sie im sumerischen Prolog des Streitgespräches zwischen Baum und Schilf beschrieben wird: Der Himmel legt seinen Samen in die Erde — wie beim menschlichen Geschlechtsakt1.
1 The large surface of the earth introduced herself; then she has embellished
herself as with a bardul-garment.
2 The vast earth has filled her exterior with precious metals and lapis lazuli.
3 With diorite, nir-stone, cornelian and suduaga she has adorned herself.
4 The earth, the fragrant vegetation, covered herself with attractiveness. She
stood in her magnificence.
5 The pure earth, the virgin earth, has beautified herself for the holy An.
1 Übersetzung von J. J. Lisman [Lisman 2013: 38].
6An, the exalted heaven, had intercourse with the vast earth.
7 He poured the seed of the hero's Tree and Reed into her womb.
8 The whole earth, the fecund cow, took the good seed of An under her
care.
9 The earth, life-giving vegetation, innerly happy, devoted herself to the
production of it (i. e. the vegetation).
10 The earth, full of joy, bore abundance, while juice and syrup gave out their
smell.
Die Verbindung von Menschen bzw. anthropomorphen Gottheiten und Pflanzen in bildlichen Darstellungen liefert weitere Belege für die Pflanze-Mensch-Metapher, vgl. die Darstellung einer Vegetationsgöttin mit Ähren und Dattelzweigen in Abb. 22. Die Anthropogonie ist jedoch nicht mit Pflanzen verbunden, sondern erfolgt durch Lehmformung (mit Blut vermischt)3.
Abb. 2. Fragment eines Steingefässes mit der Darstellung der Gotting Nisaba. Vorderasiatisches Museum. Staatliche Museen zu Berlin. Foto: Olaf M. Teßmer4
2 Vgl. auch E. A. Braun-Holzinger [Braun-Holzinger 2013: 159f.].
3 Dass im „Lied der Hacke" Menschen wie Pflanzen aus der Erde wachsen, kann nicht abgesichert werden, vgl. Lisman [Lisman 2013: 165f.].
4 http://www.smb-digital.de/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module= collection&objectId=1743571&viewType=detailView (gesehen am 28.12.2021).
2.2. Die Pflanze-Mensch-Metapher in der Bibel5
Die Bibel kennt ebenfalls die Pflanze-Mensch-Metapher. Am Anfang steht aber die Weltschöpfung, die am 3. Tag die Flora betrifft und diese hinsichtlich ihrer Vermehrung genau beschreibt:
Gen. 1,11f.: 11Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume auf Erden, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist. Und es geschah so. 12Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art, und Bäume, die da Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war.
Das Wort für ,säen' findet Verwendung in Bezug auf den Menschen:6
Jer. 31,27: 27Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich das Haus Israel und das Haus Juda besäen will mit Menschen und mit Vieh.
Ebenso findet sich der Vergleich von Mensch und Pflanze:
Jes. 44,2-4: 2So spricht der HERR, der dich gemacht und bereitet hat und der dir beisteht von Mutterleibe an: Fürchte dich nicht, mein Knecht Jakob, und du, Jeschurun, den ich erwählt habe! 3Denn ich will Wasser gießen auf das Durstige und Ströme auf das Dürre: ich will meinen Geist auf deine Kinder gießen und meinen Segen auf deine Nachkommen, 4dass sie wachsen sollen wie Gras zwischen Wassern, wie die Weiden an den Wasserbächen.
Die wichtigste Stelle ist jedoch Jes. 11,1:7
1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.
Hier findet sich eine Vorform des Stammbaum-Gedankens. Diese Stelle wird im Neuen Testament zweimal direkt aufgegriffen.
Röm. 15,12: 12Und wiederum spricht Jesaja: Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais und wird aufstehen, um zu herrschen über die Heiden; auf den werden die Heiden hoffens.
5 Alle deutschen Textstellen entstammen der Lutherbibel.
6 Vgl. auch Ps. 139,15: 15Es war dir mein Gebein nicht verborgen, / als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde.
7 Septuaginta: 1Kai E^eXeuaerai pdßSoc; ek rrjc; Ieaaai, Kai av9oc; ek rrjc; pi(r|<; dvaßr|aerai.
Vulgata: 1et egredietur virga de radice Iesse et flos de radice eius ascendet.
8 NA28: 12Kai ndXiv 'Haata; A-Eyei- sarai ^ pi(a tou 'Ieaaai Kai o dviard^svo;
apxsiv ¿9vwv, ¿n' aürw §9vr| ¿Xniouaiv.
Off. 22,16: 16Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch dies zu bezeugen für die Gemeinden. Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern9.
Paulus spricht Röm. 1,3 vom ,Samen Davids'10. Daneben bietet das Neue Testament mehrere Gleichnisse, die auf der Pflanze-Mensch-Metapher basieren, z. B. im Unkraut-Gleichnis (Matth. 13,24-30. 36-43). Für die Stammbaum-Metapher sind zudem Matth. 3,10 und 7,17 von Bedeutung:
Matth. 3,10: 10Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum: jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.
Matth. 7,17: 17So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte11.
2.3. Die Pflanze-Mensch-Metapher in der Indogermania
Dass die Pflanze-Mensch-Metapher bereits bei den Indogermanen Anwendung fand, zeigt sich deutlich an der Wurzel *bhweh2- ,wachsen, entstehen, werden' [LIV2 s. v.]. In vielen indogermanischen Sprachen ist sie supplementär zur Wurzel *htes- ,sein'. In der 1./2. Person tritt der Bezug zum Menschen deutlich zutage, vgl. dt. ich bin (< *bhweh2-), aksl. jesmb (< *htes-). In der Wortfamilie von *bhweh2- zeigt sich eine Ausweitung auf alle Lebewesen und insbesondere auf Pflanzen, vgl.12
ae. öat byne land ,das bebaute Land' aksl. bylb f. ,Pflanze, Gewächs' alb. bime f. ,Pflanze'
germ. *bauma- m. ,Baum' in ae. beam, afr. bäm, as. böm, ahd. boum
gr. bhutin n. Gewächs, Pflanze' (seit der Ilias)
myk. NPl. n. pu-ta ,Pflanzen'
arm. boys o ,Schößling, Kraut, Pflanze'.
Vulgata: 12et rursus Esaias ait erit radix Iesse et qui exsurget regeregentes in eo gentes sperabunt.
9 NA28: M'Ey« 'Ir|aoöc; sns^^a tov ayysXov |iou |iapTupfaai ü|iiv raura ¿nl taic; ¿KK\r|aiaic;. ¿yw £i|i ^ pi(a Kal to ysvo; AauiS, o dat^p o Xa^npo; o npw'ivo;.
Vulgata: 16ego Iesus misi angelum meum testificari vobis haec in ecclesiis ego sum radix et genus David stella splendida et matutina.
10 NA28: ¿k ansp|aro; AaulS. Vulgata: ex semine David.
11 Vgl. zum Sprichwortcharakter dieser Stelle auch ThP [ThP s. v. Baum 5.1.2].
12 Ausführlicher NIL [NIL s. v. *bhueh2-].
Diese Verbreitung in der Indogermania weist zwar unterschiedliche Wortbildungen auf, sie ist aber nicht denkbar ohne ein bereits für das Urindogermanische anzunehmende Pflanze-Mensch-Metapher.
In den Einzelsprachen finden sich weitere Ausprägungen. Das antike Griechenland kennt den Mythos von den Drachenzähnen, die in den Boden gesät werden und dann als Kriegermenschen aus der Erde wachsen (im Mythos vom Goldenen Vlies und im Kadmos-Mythos). Weithin bekannt sind auch verschiedene Metamorphosen, vgl. in Ovids (43 v. u. Z. — 17 u. Z.) Metamorphosen:13
Clytie Sonnenblume
Daphne Lorbeerbaum
Dryope Baum
Heliaden Bäume
Hyazinthos Hyazinthe
Leucothoe Weihrauchbusch
Myrrha Myrrhebaum
Narcissus Narzisse
Philemon und Baucis Linde und Eiche
Syrinx Schilfrohr
Der nordgermanische Mythos kennt ebenfalls eine besondere Form der Pflanze-Mensch-Metapher im Ask-und-Embla-Mythos ([Edda], Völuspa 17-18)14:
Und das kamen zum Meerstrand mächtig und hold
aus diesem Geschlecht drei der Asen;
auf freiem Felde fanden sie kraftlos
Ask und Embla, unsichern Loses
Hauch und Seele hatten sie nicht,
Gebärde noch Wärme noch blühende Farben
den Hauch gab Odin, Hönir die Seele,
Lodur die Wärme und leuchtende Farben.
13 Übersicht: https://de.wikipedia.org/wiki/Metamorphosen_(Ovid) (gesehen am 29.01.2022).
14 Vgl. auch andere Bereiche in der nordischen Literatur, die auf eine Gleichsetzung von Mensch und Baum verweisen, z. B. in [Prosa-Edda: 39]: „die Skalden [nannten] den Mann „Esche", „Ahorn", „Wald" oder [benannten ihn] mit anderen männlichen Baumnamen" und weiter „die Frau [wird] auch mit den Kenningar aller weiblichen Baumnamen bezeichnet" (Übersetzung nach http://www.bifrost.it/GERMANI/ Fonti/EddaSnorri-3.html#31, gesehen am 07.01.2022).
Da der Name Ask mit dem Wort für ,Esche' übereinstimmt, geht man von Wesen aus Holz aus15. Hierzu passen auch die Funde von Holzidolen, z. B. das Paar von Braak, das als Götterpaar gedeutet werden kann [Capelle 1995: 13, 62f.]. A. Hultgärd [Hultgärd 2006: 61] vergleicht diesen Mythos mit anderen in der Indogermania und kommt zu folgendem Schluss: "Myths on the origin of mankind from trees or wood seem to be particularly connected with ancient Europe and Indo-European-speaking peoples of Asia Minor and Iran. By contrast the cultures of the Near East show almost exclusively the type of anthropogonic stories that derive man's origin from clay, earth or blood by means of a divine creation act"16. Auch M. West [West 2007: 390f.] zeigt Parallelen auf, die auf einen gemeinsamen Ursprung zu weisen scheinen17. Th. Capelle [Capelle 1995: 52-59] vergleicht die germanischen Holzidole mit slawischen.
Die Pflanze-Mensch-Metapher zeigt sich aber auch z. B. in alten Sprichwörtern wie Alte Bäume soll man nicht verpflanzen [ThP s. v. Baum 10.3]. Ein weiterer Aspekt ist die Verehrung von heiligen Bäumen, vgl. zum Germanischen Simek [2006: s. v. Baum].
2.4. Die Pflanze-Mensch-Metapher im Kulturvergleich
Viele Schöpfungsmythen des Menschen lassen sich in Gruppen ein-teilen18:
1) formatio — die Schöpfung aus einer weichen Masse, meist Lehm (so im Alten Orient, in der Bibel, im Alten China, Menschen aus Maisbrei bei den Maya)19;
15 Vgl. zur Etymologie EWA [EWA s. v. asc], G. Kroonen [Kroonen 2013: s. v. aska-], V. Orel [Orel 2003: s. v. askaz]. Die Etymologie von embla ist unklar.
16 Vgl. auch Puhvel [1987: 284]: "Ancient myths teem with trite "first couples" of the type Adam and his rib-product Eve. In Indo-European tradition these range from the Vedc Yama and Yami and the Iranian Masya and Masyanag to the Icelandic Askr and Embla, with trees or rocks as preferred raw material <...> and dragon's teeth or other bony substance occasionally thrown in for good measure. But there are also other traces of a much more sophisticated anthropogony in Germanic, Indo-Iranian, and Roman sources."
17 So stammt nach Hesiod (8. Jahrhundert v. u. Z.) Werke 145 das Bronzegeschlecht von der Esche ab.
18 Ein weiterer Typ ist die sacrificatio aus dem Blut eines göttlichen Wesens.
19 Das Schnitzen aus Holz (vgl. den Schöpfungsmythos der Iban [Laubscher 1977: 228]) ist auch ein Akt der formatio.
2) emersio — die Entstehung nach Aussaat (vgl. die Aussaat der Drachenzähne [Kap. 2.3]). Insgesamt ist letztere Form seltener; sie setzt Kenntnisse vom Ackerbau voraus;
3) metamorphosis — insbesondere in Form der Menschwerdung aus Bäumen (so im Altnordischen, aber auch z. B. auf Borneo bei den Kenya, vgl. M. Laubscher [Laubscher 1977: 227]).
Weit verbreitet sind auch anthropomorphe Gottheiten mit Pflanzenmerkmalen, vgl. Abb. 2 oder den Maisgott der Maya.
Es lässt sich somit festhalten: Die Pflanze-Mensch-Metapher ist eine Universalie. Sie hat ihre kognitive Basis in der Gleichsetzung von „Samen > Aufgehen und Sprießen > Blüte und Fortpflanzung > Verwelken und Absterben" mit dem menschlichen Leben. Dies findet seinen Widerhall v. a. im Anthropogonie-Typ emersio. Bei Bäumen schließt
Genealogie in der Bibel und in der griechisch-römischen Antike wurde zunächst als Ahnenreihe — auf- oder absteigend — gezeigt, vgl. Matth. 1,1-16 oder die römischen Ahnenporträts. Im alten Rom zeigte
20 Vgl. auch die Idiome in der Blüte des Lebens, im Herbst des Lebens.
sich ein weiterer kognitiver Aspekt an: die optische Gleichsetzung des Baumes mit dem aufrechtstehenden Menschen, vgl. den Anthropogonie-Typ metamorphosis. Beim Laubbaum kommt im Kulturkreis von Alter Orient und Indogermania (und ggf. in anderen Regionen mit ähnlichen klimatischen Bedingungen) die Gleichsetzung des Jahreslaufs beim Baum mit dem Lebenslauf beim Menschen hinzu20. Nicht zuletzt zeigen umgedrehte Astgabeln oft die Form von Menschen, vgl. Abb. 3.
Abb. 3. Astgabel (Foto: Bettina Bock)
Eine spezielle Ausprägung ist der fruchttragende Baum, der ein Ausgangspunkt für die Stammbaum-Metapher sein kann.
3. Die Genese der Stammbaum-Metapher
so jeder Hausherr seine genealogische Linie auf. Wie aber kam es zur Zusammenführung dieser Linien in einen Stammbaum?
Im antiken Rom erfolgte spätestens kurz nach der Zeitenwende eine Umdeutung des griechischen Lehnwortes stemma, das eigentlich einen „Kranz" bezeichnet: Basierend auf der Sitte, die Ahnenporträts zu bekränzen (vgl. Seneca [ca. 4 v. u. Z. — 65 u. Z.] De Beneficiis [Seneca: 3,28,1]21), kam es zu einer metonymischen Umdeutung des Wortes zu „Ahnenreihe" (vgl. Seneca Epistulae [Seneca: 44,1]22 oder Sueton [Sue-ton: 69-130] Nero [Sueton: 37]23)24. Es bleibt aber zunächst bei dem Bild der Linie, vgl. Statius Silvae [Statius: 3,3,43f.]:
Non tibi clara quidem, seniorplacidissime, gentis / linea nec proavis de-missum stemma...
,Freilich, lieber Alter, hast du keine berühmte Stammeslinie oder ein von den Ahnen hinterlassenes Stemma...'
Elemente des Stammbaumes finden sich aber bei den Satirendichtern Persius (34-62) und Juvenal (1./2. Jahrhundert): ramus ,Ast, Zweig' bzw. virga ,Zweig, Setzling'.
[Persius: 3,28-30]:
an deceat pulmonem rumpere uentis / stemmate quod Tusco ramum millesime ducis...?
,Ziemt es sich, dass du dich so aufplusterst, bloß weil du den tausendsten Zweig auf der Ahnentafel der Tusker bildest.?'
21 Qui imagines in atrio exponunt et nomina familiae suae longo ordine ac multis stemmatum inligata flexuris in parte prima aedium conlocant, non noti magis quam nobiles sunt? ,Sind diejenigen, die im Atrium Ahnenbilder in langer Reihe aufstellen und im Eingangsbereich die Namen ihrer Familie in langer Reihe und durch kurvige Linien der Stemma miteinander verbunden anbringen, nicht eher bekannt als edel?' Anmerkung: Diese und alle weiteren Übersetzungen aus dem Lateinischen stammen von der Autorin.
22 Si quid est aliud in philosophia boni, hoc est, quod stemma non inspicit; omnes, si ad originem primam revocantur, a dis sunt. ,Wenn es irgendetwas anderes Gutes in der Philosophie gibt, so das, dass kein Stemma eine Rolle spielt; alle stammen, wenn es um den ersten Ursprung geht, von den Göttern ab'.
23 Cassio Longino iuris consulto ac luminibus orbato, quod in vetere gentili stemmate C. Cassi percussoris Caesaris imagines retinuisset. ,Cassius Longinus, einem erblindeten Juristen, [wurde vorgeworfen], dass im Stemma seiner alten Familie an den Bildnissen von C. Cassius, einem der Mörder Caesars, festgehalten wurde'.
24 Wahrscheinlich als Rückentlehnung findet sich diese Bedeutung auch im Griechischen (Plutarch [45-125] Numa 1).
Juvenal macht die stemmata sogar zum Thema einer Satire [Juvenal: 8]. Hier wird zudem eine generis tabula (v. 6), eine Ahnentafel, erwähnt (8,1-10).
Stemmata quid faciunt? quid prodest, Pontice, longo sanguine censeri, pictos ostendere uultus maiorum et stantis in curribus Aemilianos et Curios iam dimidios umeroque minorem 5Coruinum et Galbam auriculis nasoque carentem, [quis fructus generis tabula iactare capaci Coruinum, posthac multa contingere uirga fumosos equitum cum dictatore magistros,] si coram Lepidis male uiuitur?
Was bewirken die Ahnentafeln? Was nützt es, Ponticus, für sein uraltes Blut geschätzt zu werden und die aufgemalten Gesichter der Ahnen zu
zeigen — eines Aemilianus auf seinem Wagen, einen „halben" Curius, einen Corvinus mit einer Schulter weniger, eine Galba ohne Ohren und Nase — (was bringt es, mit einem Corvinus auf der riesigen Ahnentafel zu prahlen, danach dann durch viel Gezweig die verräucherten Gehilfen mit dem Diktator abzuhandeln), wenn man in Gegenwart der Lepiden schlecht lebt?'
Auffällig ist das Fehlen weiterer Belege in der Großkorpus-Sprache Latein. Es handelt sich demnach um nicht-lexikalisierten Metapherngebrauch, vgl. für ramus auch Seneca Epistulae [Seneca: 67,10]:
ceterum illic est fortitudo, cuius patientia etperpessio et tolerantia rami sunt ,Aber dort gibt es Tatkraft, deren Zweige Geduld, Ausdauer und die Bereitschaft zum Dulden sind'
Festzuhalten bleibt aber, dass sich hier — wie im Falle der Jesse-Wur-zel oder der Gleichnisse in Matthäus — das Potential der StammbaumMetapher andeutet. Dieses beruht auf zwei kognitiven Aspekten:
1. Mit fortschreitendem Alter bilden Bäume nach oben immer neue Verästelungen aus.
2. Bäume tragen Früchte, die zur Fortpflanzung dienen.
Die römischen Stemmata wurden aber auch weiterentwickelt, wobei hier die Idee eines Hauses prägend ist (vgl. bis heute den Gebrauch der Metapher für den Adel: z. B das Haus Windsor)25.
25 Klapisch-Zuber [2004: 32] zeigt das „Stemma des Cujas" in einer Miniatur aus dem 9. Jahrhundert.
Ein anderer Vorläufer ist der Baum der Blutsverwandtschaft (mlat. arbor consanguinitatis), der sich als Bild auch erst langsam, ausgehend vom metaphorischen Gebrauch von lat. ramus ,Zweig' oder dem Diminutiv ramusculus ,Zweiglein', entwickelt, vgl. Klapisch-Zuber [Klapisch-Zuber 2004: 61f.] mit Verweis auf die Etymologiae des Isidor von Sevilla (560-636). Die Textstelle bei Isidor [Isidor von Sevilla: 9, 6, 28] lautet:
Stemmata dicuntur ramusculi, quos advocati faciunt in genere, cum gradus cognationum partiuntur, ut puta ille filius, ille pater, ille avus, ille agnatus, et ceteri.
,Stemma werden die kleine Zweige genannt, die die Juristen für eine Familie machen, wenn der Grad der Verwandtschaft aufgeteilt wird wie zum Beispiel Sohn, Vater, Großvater, nachgeborener Sohn usw.'
Diese Aufstellung ist demnach aus dem Bedürfnis entstanden, Erbansprüche zu überprüfen und Inzestehen zu vermeiden und wird daher später auch arbor iuris ,Baum des Rechts' genannt. Dass Isidor eine Art Stammbaum vor Augen hatte, zeigt der Beleg mitnichten an. Eine Miniatur aus dem 9. Jahrhundet [Klapisch-Zuber 2004: 61] zeigt den Übergang von einer geometrischen Figur zum Baum.
Zurück zur christlichen Tradition: Die biblische Wurzel Jesse (s. Kap. 2.2) malt zunächst noch nicht das Bild eines Baumes, vielmehr ist nur von der Wurzel und von einem ersten Trieb die Rede. Hinzu kommt in Jes.11,1 (und nur dort) das Bild einer Blüte. Man könnte also auch an eine Blume denken.
Als erster Beleg für den Stammbaum-Gedanken findet sich bei Euge-nius von Toledo, Erzbischof ab 647 und 657 in Toledo gestorben, eine Stelle aus einem Brief [TLL s. v. arbor: VIGIL.TOLET.epist. (Migne 13, 554) 5]: qui securem ab infecunda gentilitatis arbore defendat ,der die Axt vom unfruchtbaren Baum der Verwandtschaft fernhalten soll'
Trotz der Referenz auf Matth. 3,10 (s. Kap. 2.2) liegt eine Besonderheit vor, indem explizit durch das Genitivobjekt der Stammbaum benannt wird. Aus kognitiver Sicht ist festzuhalten, dass sich hier beide der oben genannten kognitiven Aspekte finden. Allerdings erweist sich auch dieser Beleg als isoliert — trotz der zeitlichen Nähe zu Isidor.
Alle diese und weitere Quellen26 ergeben einen reichen Fundus an Bildern. „Zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert wurden zwar alle
26 Klapisch-Zuber führt noch an: das Bild vom Körper [Klapisch-Zuber 2004: 38-43], antikes und christliches Rankenwerk [Klapisch-Zuber 2004: 50-55], Lebensbäume [Klapisch-Zuber 2004: 116-121].
Abb. 4. Die Darstellung der Wurzel Jesse im Codex Vyssegradensis
diese Varianten erprobt, man hatte sich jedoch noch nicht für eine bestimmte entschieden. Die Motive wurden sogar miteinander kombiniert, um möglichst viele Bedeutungsebenen zu schaffen" [Klapisch-Zuber 2004: 73]. Hierhier gehört auch der Ausbau des Bildes von der Wurzel Jesse im Kontext des Metaphernfeldes BAUM. Und so kommt es endlich zu einer bildlichen Darstellung in der frühmittelalterlichen Buchmalerei: Die älteste Illustration findet sich im Codex Vyssegradensis (ca. 1085) (Abb. 4)27.
Das Spruchband, das der Prophet Jesaja (blau) hält, zitiert Jes.11,1 in der Fassung der Vulgata. Jesse ergreift es, auf der Wurzel sitzend. Aus der Wurzel entwickelt sich ein Baum mit drei Ästen, die sich weiter zur Zahl
27 http://www.manuscriptorium.com/apps/index.php?direct=record&pid= AIPDIG-NKCR_XIV_A_13__2DJQ2U1-cs#search (gesehen am 30.12.2021).
7 verzweigen. Auf den Spitzen sitzen Vögel, genauer Tauben als Verkörperung des Geistes28.
„Zwischen dem 12. und dem 13. Jahrhundert begann man schließlich, sich auf das pflanzliche Bild zu konzentrieren und legte sich schließlich darauf fest" [Klapisch-Zuber 2004: 37]. Zu den ältesten Stammbäumen von Herrscherhäusern gehört ein Stammbaum der Karolinger aus der Chronik des Ekkehard von Aura (Ende 12. Jahrhunderts) und ein Stammbaum der Welfen aus der „Historia Welforum" (um 1185). Bei diesen und anderen bildlichen Darstellungen drängt sich die Frage der geographischen Verortung geradezu auf: In vielen Fällen handelt es sich um Provenienz aus dem deutschsprachigen Raum oder aus angrenzenden Gebieten. Zieht man ferner in Betracht, dass es sich um die Zeit der Christianisierung von Sachsen (unter Karl dem Großen von etwa 772 bis 804) und Slawen (10. bis 12. Jahrhundert) handelt, so ist auch daran zu denken, dass neben den genannten römischen und christlichen Quellen altgermanische und altslawische Vorstellungen (s. Kap. 2.3) mit aufgegriffen wurden. Hinweise darauf könnte auch die Sprache liefern, wie das folgende Kap. 4 zeigt.
4. Die Entwicklung der Stammbaum-Metapher im Deutschen
Gegenüber anderen Sprachen weist das Deutsche insofern eine Besonderheit auf, als hier die Pflanze-Mensch-Metapher schon früh zu einer Bedeutungsentwicklung ahd. stam ,Baumstamm'29 > Geschlecht' geführt hat. Problemlos wurden auch die Bibelstellen mit PflanzeMensch-Metapher ins Deutsche übertragen bzw. eingebunden und interpretiert, so Matth. 3,10 (s. Kap. 2.2) [AhdWb s. v. boum]:
harto nemet gouma, thaz ir ni sit thie bouma ,prägt euch das ein, damit
ihr nicht die Bäume seid' (die keine guten Früchte tragen und deshalb ins
Feuer geworfen werden) (O 1,23,56)
vuanda ih an gote uuolta uuurzellon . be diu bin ih pirig poum ,wenn ich
in Gott wurzeln möchte, dann bin ich ein fruchbarer Baum' (Np 51,10)
Für die Übersetzung von lat. stemma (s. Kap. 3) werden gislahti Geschlecht' (Glossen 10./11. Jh.) und kunnizala ,Stammesreihe' (Glossen 9.
28 Zum Bildtypus vgl. G. Schiller [Schiller 1966: 26-31].
29 Dafür, dass diese Bedeutung ursprünglich ist, spricht die Etymologie: urgerm. *stamna- lässt sich toch. B stam ,Baum' und air. taman ,Baumstamm' [Orel 2003: s. v. *stamnaz] vergleichen.
Jh.) herangezogen [Köbler 2014: s. vv.], in beiden Fällen fehlt jedoch das Bild des Stammbaumes30. Diese Beleglage passt genau zu den Erkenntnissen von Klapisch-Zuber (s. Kap. 3), wonach das 9. bis 12. Jahrhundert, also die Zeit des Althochdeutschen (mit Übergang zum Mittelhochdeutschen), die Phase des Ausprobierens war, wie eine Ahnenreihe bzw. ein Geschlecht am besten visualisiert wird.
Im Mittelhochdeutschen findet sich der (Stamm-)Baum auch noch nicht. Hier scheint die Sprache dem Bild hinterherzuhinken, zumindest gibt es keinen überlieferten sprachlichen Beleg. Und auch im Mittellateinischen findet sich nach dem Mittellateinischen Wörterbuch (s. v. con-sanguinitas) arbor consanguinitatis ,Baum der Verwandstschaft' erst bei Albertus Magnus (um 1200-1280), also kurz nach der Zeit, als sich der Stammbaum als solcher fest etablierte. Dass Albertus Magnus ein deutscher Gelehrter war, stützt die These von der Entstehung der festen Form des Stammbaums im deutschsprachigen Raum. Eine erste Übertragung von dt. boum im Sinne von .Stammbaum' ist für 1480, d.h. fürs Frühneuhochdeutsche, bezeugt [DRW s. v. boum], und zwar als ,Baum der Sippe':
dat jeen, deer onaefftlick teyn sint... schel ma naet mey reckina in da baem des sibbes (1480/81 JurFris. II 92)
Erst fast 100 Jahre nach dem baem des sibbes, nämlich 1572, findet sich die lexikalisierte Metapher Stammbaum [DRW s. v. Stammbaum]:
darmit den ein jder gewisse narichtinge hebben möge, jn wat lede ein jder sy, hebben wy tho der behoff nauolgenden stambom laten anhefften... na deme sick ock de staller vnde rede jm rechten vnde rechtsproken vorholden schalen (EiderstLR. 1572 Art. 29)
Das im Frühneuhochdeutschen sehr produktive Wortbildungsmittel der Komposition ist dabei zum Einsatz gekommen, indem das schon lange für .Geschlecht' in Gebrauch stehende Wort Stamm zum Bestimmungswort wird. Zugleich ermöglicht die Wahl dieses Bestimmungswortes einen Anklang an das (griechisch-)lateinische stemma. Dass dieses bei der Wortbildung eine Rolle gespielt hat, wird durch die Glossierung von stem(m)a mit ,mageschaft, geschlecht u. a.' [Diefenbach 1997 (1857): s. v. stem-a] nahegelegt.
30 Ahd. gislahtigehört zur Wortfamilie von schlagen [Pfeifer 1993: s. v. Geschlecht]. Ahd. kunnizala ist ein Determinativkompositum aus kunni- .Geschlecht' (letztlich eine Ableitung zur Wurzel uridg. *genhI- .erzeugen', vgl. EWA [EWA s. v. kunni]) + zala ,Zahl, Reihe'.
5. Die Übertragung der Stammbaum-Metapher auf andere Bereiche
Im Umfeld des menschlichen Stammbaumes entstanden schon im Mittelalter weitere Stammbäume: ein „historischer" Stammbaum bei Joachim von Fiore [Klapisch-Zuber 2004: 72f.] oder ein Stammbaum der Laster und Tugenden im „Speculum Virginum" (Spiegel der Jungfrauen) (1130-1140 [Klapisch-Zuber 2004: 74f.]), vgl. aber auch schon das Zitat von Seneca Epistulae [Seneca: 67,1] (Kap. 3), einem vielgelesenen Philosophen im Mittelalter. Mit der Frühen Neuzeit kamen weitere Stammbäume in Mode wie der Baum des Wissens [Klapisch-Zuber 2004: 182f.].
Im 17. Jahrhundert wurde dann die Stammbaum-Metapher auf die Sprachen ausgedient. Kaspar Stieler aus Erfurt betitelte 1691 sein Wörterbuch als Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teut-scher Sprachschatz, vgl. Abb. 5.
Abb. 5. Titelblatt des Wörterbuchs von Kaspar Stieler [Stieler 1968]
Im 19. Jahrhundert entwarf Ernst Haeckel seinen Stammbaum des Menschen [Klapisch-Zuber 2004: 194f.]. Die Idee eines Sprachenstammbaums im eigentlichen Sinne war auch dem Zeitgenossen August Schleicher gekommen (siehe Abb. 1).
6. Zusammenfassung
Die Beobachtung der Pflanzen mit der Abfolge Säen — Aufgehen — Entwickeln — Blüte — Absterben sowie die Ähnlichkeit von stehenden Bäumen mit ihren armgleichen Ästen oder umgedrehten Astgabeln mit Menschen hat schon in vorhistorischer Zeit zur Entstehung von Pflanze-Mensch-Metaphern geführt. Für das europäische Mittelalter waren römische und christliche Ideen mit verschiedenen Vorläufern prägend. Am Übergang von der Antike zum Mittelalter stehen Isidor von Sevilla und sein Zeitgenosse und Landsmann Eugenius von Toledo, wobei letzterer den frühesten Beleg für „Baum der Verwandtschaft" liefert. Kunsthistorische Quellen (die Stammbäume der Karolinger und der Welfen) und sprachliche Belege (arbor consanguinitatis bei Albertus Magnus) legen nahe, dass die Festlegung auf den Stammbaum in der heute bekannten Form im deutschsprachigen Raum oder angrenzend dazu erfolgte und dass dies mit Bezugnahme auf die altgermanischen und altslawischen Vorstellungen erfolgte. Dafür spricht auch die Umdeutung von ahd. stam ,Stamm' zu .Geschlecht'. Das deutsche Wort Stammbaum erscheint jedoch erst spät im Frühneuhochdeutschen. Die Festlegung auf das Bestimmungswort Stamm ermöglicht dabei einen Anklang an das griechisch-lateinische Wort stemma, das im antiken Rom für Ahnenreihen im Gebrauch war. Stammbaum ist damit ein Musterbeispiel für eine multimodale Wortgeschichte: ein Zusammenspiel von sprachlich-konzeptuellen Aspekten, Bildern und Klang.
Quellen
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Bettina Bock
Lehrbeauftragte, Seminar für Indogermanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Doctor philosophiae
Adresse: Deutschland, D-07743, Jena, Zwätzengasse, 12a Bettina Bock
Lecturer, Seminar of Indo-European Studies, Friedrich-Schiller-University Jena, Doctor of Philosophy
Address: 12a, Zwätzengasse, Jena, D-07743, Germany E-mail: [email protected]
Received: January 25, 2022 Accepted: April 26, 2022