Научная статья на тему 'The Christological hermeneutics of the old Testament by Dietrich Bonhoeffer'

The Christological hermeneutics of the old Testament by Dietrich Bonhoeffer Текст научной статьи по специальности «Языкознание и литературоведение»

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Ключевые слова
БОХЁФФЕР / ХРИСТОС / ПСАЛТИРЬ / ВЕТХИЙ ЗАВЕТ / ГЕРМЕНЕВТИКА / BOHEFFER / CHRIST / PSALMS / THE OLD TESTAMENT / HERMENEUTICS

Аннотация научной статьи по языкознанию и литературоведению, автор научной работы — Карттунен Томас

В статье рассматривается взгляды немецкого теолога XX в. Д. Бонхёффера на толкование ветховазетных текстов. Фигура и роль Христа является ключевой для его теологии, хотя он и отрицает реальность его присутсвия во время причастия. Для него Христос «претворяется» на страницах Св. Писания, что легко в основу его христологической герменевтики. На систему взглядов Бонхёффера, как показывает автор, оказали сильное влияние драматические события XX в.

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The article studies the views of the German XXth century theologian D. Bonhoeffer on the interpretation of the Old Testament texts. The figure and the role of Christ is the key to his theology, though he denies the reality of his presence in the Eucharist. For him, Christ reveals himself on the pages of the Holy Scripture, and that is the basis for Christological hermeneutics. Bonhoeffer, however, was strongly influenced by dramatic events of the XXth century.

Текст научной работы на тему «The Christological hermeneutics of the old Testament by Dietrich Bonhoeffer»

Die christologische Hermeneutik des Alten Testaments bei Dietrich Bonhoeffer*

1. Dietrich Bonhoeffer und die bedrohte Bibel im Dritten Reich

Wir verwerfen die Irrlehre, die die Einheit der Heiligen Schrift zerreifit, indem sie das Alte Testament verwirft oder gar durch nichtchristliche Urkunden aus der heidnischen Fruhzeit eines anderen Volkes ersetzt. Denn die Einheit der ganzen Heiligen Schrift und ihre Einheit allein ist Christus1.

Dieser Text stammt aus der sogenannten August-Fassung zum Betheler Bekenntnis, die Dietrich Bonhoeffer mitgeschrie-ben hat. Das Bekenntnis wurde 1933 nach der Machtubernah-me der Nationalsozialisten und nach der Entstehung des sogenannten Arierparagraphen, der die nichtarischen Menschen von offentlichen Diensten auszuschliefien drohte, formuliert. Das Bekenntnis konnte jedoch nicht seine volle Scharfe durchgehend beibehalten, und deswegen hat Bonhoeffer es letztlich nicht unterzeichnet. Z.B. dieser Teil der Vorversion des Bekenntnisses stammt jedoch direkt von Bonhoeffer. Admiel Kosman, Professor der Universitat Potsdam, beurteilt diesen Text laut „ Haaretz“ (3.9.2010) als „eines der wichtigsten Dokumente in der komplexen

* Ursprunglich eine Vorlesung gegeben in Versammlung von LEKKJ (Lutherische Europaische Kommission fur Kirche und Judentum) in Helsinki Mai 2011. Sprachlich korrigiert von Pfr., Liz.Theol. Hans-Christian Daniel. Erschienen auf Finnisch in Lahetysteologinen aikakauskirja 2011 (finnische Missionstheologische Zeitschrift 2011).

1 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 12: Berlin 1932-1933 / Hrsg. von C. Nico-laisen, E.-A. Scharffenorth. Munchen, 1997. S. 367.

Beziehung zwischen Christentum und Judentum“. Obwohl Kos-man noch Probleme in der Position des Bekenntnisses sieht, halt er es fur einen wichtigen Schritt vorwarts.

Es ist in diesem Kontext bemerkenswert, dass Bonhoeffer mit dieser Stellungnahme eindeutig in der Linie der klassischen christlichen christologischen Deutung der Schrift zu stehen scheint. In der fruhen Kirche haben die antignostischen Vater, wie Irenaeus, die Einheit der Schrift und dadurch den trinitarischen, heilbringenden Glauben gegen jene Gnostiker verteidigt, die den Schopfergott und den Gott Jesu Christi voneinander unterschei-den wollten. Der Demiurg solle eine niedrigere Gottheit als der neutestamentliche Gott sein.

Eine ziemlich ahnliche Position hat der manichaische Lehrer Marcion vertreten, der argumentierte, dass der bose Gott ver-antwortlich fur die hebraische Bibel sei und der gute Gott fur das humane Neue Testament. Marcion wurde als Irrlehrer verurteilt, aber seine Gedanken sind nicht verschwunden. Wie auch Kosman hervorhebt, hatten die sogenannten Deutschen Christen die Lehre Marcions ubernommen und wollten das Alte Testament und alles Alttestamentliche im Neuen Testament ausmerzen. Die Deut-schen Christen sind in ihrer Argumentation auch exegetisch ver-fahren und z.B. die Stellungnahmen des liberalprotestantischen Dogmenhistorikers Adolf von Harnack, ein Lehrer Bonhoeffers, der davon ausgegangen war, dass obwohl die Kirche einen richti-gen Beschlufi gefasst hatte indem sie Marcions Position als Irrlehre beurteilte, die Zeit jetzt reif ware fur die Separation von Judentum und Christentum2. In der Exegetik hatte man damals nicht selten argumentiert, dass es im Alten Testament keine Theologie gabe oder wenigstens war man unsicher uber die Bedeutung des Alten Testaments. Neben Bonhoeffer haben von den Deutschen prote-stantischen Theologen z.B. Karl Barth und Wilhelm Vischer das Alte Testament als Wort Gottes verteidigt3.

2 Zu Harnack ahnlich wie Kosnan siehe: Kuske M. Das Alte Testament als Buch von Christus. Dietrich Bonhoeffers Wertung und Auslegung des Alten Testaments: Dissertation Rostock 1967. Gottingen, 1971. S. 14-15.

3 Zu Barth und Vischer vgl.: Kuske M. Das Alte Testament als Buch von Christus. S. 18-21. Kuske problematisiert nicht die Unterschiede im Offenbarungs-

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Bonhoeffer hat jedoch die Bekennende Kirche und sogar Karl Barth daran kritisiert, dass sie sich zu sehr um die kirche-ninnere Angelegenheiten kummerten und zu wenig Mut zeig-ten, fur andere einzutreten. Vor seinen Studenten formulierte er nach der Kristallnacht das beruhmte Schlagwort: „Nur wer fur die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“4. Das heifit, Christsein ist Teilnahme am Sein Jesu fur die andere. Im Hinter-grund dieser Formulierung stand auf der einen Seite die konkre-te Lebenswelt des Alten Testaments, das Bonhoeffer im Gefang-nis intensiver als je las5. Die Wurzeln dieses Gedankens waren jedoch schon in den fruhen Werken Bonhoeffers prasent: Dass die Kirche „Christus als Gemeinde existierend“ ist, in der kei-ner eine Insel ist, sondern sein Menschsein als gottgewollte Person immer Person und Gemeinschaft verbindet. Ubrigens hat

verstandnis und in der Worttheologie Barths und Bonhoeffers. Hilfreich ist die Beobachtung von Kuske (Kuske M. Das Alte Testament als Buch von Christus. S. 111), dass Bonhoeffer wie G. v. Rad, H.W. Wolff, W. Zimmerli u.a. die beiden Testamente als gleichwertig verstand, weil sowohl das Alte als auch das Neue Testament Jesus Christus bezeugen. Diese Position bedarf jedoch mehr Diffe-renzierung um die Diskussion und das Verstandnis weiterzufuhren.

4 Bethge E. Dietrich Bonhoeffer. Theologe-Christ-Zeitgenosse. Eine Biogra-phie / 7., korrigierte Auflage. Gutersloh, 2001. S. 685. Vgl.: Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 8: Widerstand und Ergebung / Hrsg. von E. Bethge. Munchen, 1998. S. 557-558: „BK.: Offenbarungstheologie; ein dos moipou sto gegenuber der Welt; um sie herum ein ,sachliches‘ Interesse am Christentum. Kunst, Wissenschaft auf der Suche nach ihrem Ursprung. Allgemein in der BK.: Eintreten fur die ’Sache’ der Kirche etc., aber wenig personlicher Christusglaube. ,Jesus‘ entschwindet dem Blick. Soziologisch: keine Wirkung auf die breiten Massen; Sache der Klein-und Grofiburger. Starke Belastung mit schweren, tradierten Gedanken. Entschei-dend: Kirche in der Selbstverteidigung. Kein Wagnis fur andere.“

5 Siehe dazu: Kuske M. Das Alte Testament als Buch von Christus. S. 111132. M. Kuske sagt: „Bonhoeffers christologische Konzeption — Menschge-wordener, Gekreuzigter und Auferstandener — erweist sich als fruchtbar fur ein Verstehen des Alten Testaments von Jesus Christus her“ (Kuske M. Das Alte Testament als Buch von Christus. S. 132). Den Umgang Bonhoeffers mit der Bibel als Ganzheit beschreibt Kuske am Ende mit Hilfe eines Briefes von Bonhoeffer an R. Schleicher: „Die ganze Bibel will also der Ort sein, in dem Gott sich von uns finden lassen will ... Es mag sein, dafi das eine sehr primitive Sache ist. Aber Du glaubst gar nicht, wie froh man ist, wenn man von den Holzwegen so mancher Theologie wieder zuruckgefunden hat zu diesen pri-mitiven Sachen“ (GS III, 28, 30).

man auch auf den potentiellen Einflufi von Leo Baeck und seine gemeinschaftliche Ethik auf Dietrich Bonhoeffer hingewiesen.

Also, es scheint, dass es fur Bonhoeffer, wie auch fur die anti-gnostischen Vater, Augustin oder Luther aufierst wichtig war, dass die Bibel theologisch gesehen eine kanonische Einheit darstellt und dass christlich gesehen schon im Alten Testament der Gott eigentlich der Trinitarische Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist ist. Nur dadurch kann Gott als Schopfer, Erloser und Heiligender angesehen werden und der Mensch als eine leibseelische Ganz-heit. Nur dadurch kann ein Christ das Alte Testament als Wort Gottes fur sich lesen. Nur dadurch ist eigentlich auch biblisches Gebetsleben im christlichen Gottesdienstleben moglich, weil der Psalter der Grund dafur ist. Weil auch das Alte Testament als Got-tes Wort angesehen wird, kann man letzten Endes auch eine enge Beziehung zwischen Juden und Christen bauen und haben.

Der Alttestamentler Timo Veijola erwagt, dass die Entschei-dung gegen Marcion die Kirche vor zwei Herausforderungen gestellt hat: 1) wie eine gleichzeitig kritische und loyale Beziehung zur heiligen Tradition moglich sei und 2) dass fur die Christen der Dialog mit einer anderen Religion notwendig wurde. Veijola fragt: „Ware es so, dass man erst jetzt, zweitausend Jahre spater, den eigentlichen Charakter und die Moglichkeiten, die diese Herausforderungen beinhalten werden, zu sehen beginnt?“6

Das sind jedoch nur allgemeine Schlussfolgerungen, und um ein detaillierteres Bild von Bonhoeffer und seinem Beitrag zur fruheren und heutigen Diskussion uber die Hermeneutik der Schrift zu prazisieren, muss man jedoch eingehender sehen, wel-che Beziehung zur Tradition Bonhoeffer hatte und wie er diese Beziehung vor allem theologisch begrundete und was fur mog-liche kreative neue Einsichten er dazu beigetragen hat. Nicht unwesentlich ist es auch zu sehen, was fur mogliche Konse-quenzen verschiedene Positionen in der Vergangenheit erbracht

6 Veijola T. Kaanonin synty ja teologinen merkitys. Teoksessa Raamattu ja kirkon usko tanaan // Synodaalikirja 2004. Kirkon tutkimuskeskuksen julkai-suja 87. Toim. Maarit Hytonen. Kirkon tutkimuskeskus Tampere. S. 66.

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haben und was man davon heute lernen konnte — auch in der okumenischen Perspektive, wenn wir uns auf das Jahr 2017 vorbereiten. Zuerst zur biblisch-theologischen Argumentation Bonhoeffers in seinem Werk und dann eine kritische Wurdigung der Diskussion uber seinen innovativen theologischen Weg zur positiven Wertung des Alten Testaments und die moglicherwei-se noch antijudischen Elemente in seiner Bibeltheologie.

2. Das Betheler Bek enntnis — eine Verteidigung des biblischen Kanons gegen das Heidentum

Die Formulierung Bonhoeffers in der August-Fassung des oben genannten Betheler Bekenntnisses ist ein knapper aber profunder Text und bietet sich als gangiger Ausgangspunkt unserer Analyse bevor wir eingehender zu Bonhoeffers Bibel-theologie schreiten.

Im Kapitel „Von der Heiligen Schrift“ steht im Betheler Bekenntis: „Das Alte Testament ist Gottes Wort, weil es der eine Gott ist, der Israel zur Kirche beruft, der von Israel verworfen wird und der die Kirche des neuen Bundes stiftet“7. Eindeutig hat Bonhoeffer das Alte Testament als Gottes Wort klassifiziert. Gott beruft Israel zur Kirche, aber Israel verwirft sie und deswe-gen wird die Kirche des neuen Bundes gestiftet. Also, Bonhoeffer geht nicht davon aus, dass Israel ganz verworfen wird, obwohl es den Ruf zur Kirche allgemein gesehen verwirft. Es gibt jedoch einen qualitativen Unterschied im Vergleich zum Alten, weil es christlich gesehen um den neuen Bund geht.

Die Einheit der Schrift ist fur Bonhoeffer Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene. Deswegen schreibt er: „Vollgul-tiges Verstehen dieser Geschichte gibt es erst vom Neuen Testament her, in dem die Vollendung des gottlichen Heilsplans in der Menschwerdung, Worten, Werken und Wundern, Tod und Auf-erstehung Jesu Christi und in der Stiftung der Kirche bezeugt wird.“8 Das heifit, es gibt doch Verstehen, Theologie, schon im

7 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 12. S. 364.

8 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 12. S. 364.

Alten Testament, aber das Neue Testament gibt „vollgultiges Verstehen“. Das impliziert auch, dass das Alte Testament fur die Christen auch selbstandige Bedeutung hat. Was bedeutet jedoch „vollgultiges Verstehen“? Das klingt ja ein wenig hochmutig. Wie kann ein Mensch so etwas vollgultig Verstehen?

Bonhoeffer bemerkt dieses Dilemma schon selbst. Er will nicht den Verstand des Menschen oder des Christen unkritisch beweihrauchern oder das eigenmachtige Besitzen der hoheren Wahrheit durch ihn behaupten, sondern die im Kreuz und in der Auferstehung Christi verhullte Ehre Gottes preisen:

Nicht wir sind Richter uber Gottes Wort in der Bibel, sondern die Bibel ist uns dazu gegeben, dass wir uns von ihr durch Christus richten lassen. Allein durch den Heiligen Geist horen wir das Wort Gottes aus der Bibel; aber dieser Geist kommt allein durch das Wort der ganzen Heiligen Schrift zu uns und kann deshalb ohne Schwarmerei nie von diesem Worte getrennt werden9.

Weil Gott somit durch den Heiligen Geist, und somit durch die Schrift, Christus, seine Richtung und Gnade, bezeugt, ist die Bibel Gottes Wort. Es geht nicht um ideologische Machtpolitik und gerade das Verstehen der Schrift als eine Ganzheit bewahrt vor falscher Machtubernahme und Ideologisierung. Die Schrift als Wort Gottes ist eine demutige Wahrheit, die zuerst den Inter-preten selbst herausfordert, richtet und durch den Heiligen Geist Christus und seine Gnade ausstrahlt.

Um eine falsche Ideologisierung der Schrift zu vermeiden, wie es in der Verwerfung des Alten Testaments durch die Deut-schen Christen geschieht, will Bonhoeffer auch unterstrei-chen, dass die Heilige Schrift keine nur geschichtliche Text-sammlung ist und dass sie keine nur allgemeinreligiosen und sittlichen Standpunkte reprasentiert. Es geht um die konkrete Heilsgeschichte in der Geschichte Gottes mit dem Volk Israels, dessen Erwahlung nicht gleichnishaft verstanden werden

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darf. Es gibt keine anderen im selben Sinne erwahlten Volker, nicht in Deutschland oder anderswo. Im Hintergrund steht das Offenbarungsverstandnis Bonhoeffers: Die Offenbarung Got-tes ist einmalig und geschichtlich im konkretesten Sinne, keine spekulativ-idealistische Wahrheit. Am eindeutigsten wird das in Jesus Christus.

Diese Prazisierung war aufierst wichtig in diesem Kontext und bedeutungsvoll fur jede christliche religionstheologische Position. Eine neue Perspektive zur allgemeinen Diskussion bringt auch diese Feststellung, die jeden religiosen Antisemitis-mus uberwinden will: „Wir verwerfen ... die Irrlehre, die das Alte Testament nur als Bibel Jesu bezw. der urchristlichen Gemeinde und nur soweit anerkennt, als es dort benutzt wird...“10.

Bonhoeffer kritisierte speziell in seinem Buch „Nachfol-ge“ (1937) eine automatisierte Gnadenlehre, die den Glauben mechanisierte und vom Leben trennte und dadurch auch die Realitat der Prasenz Christi leugnete. Treu zu diesem Ansatz schreibt er jetzt:

Wir verwerfen jeden Versuch, nach willkurlichen Grun-den der eigenen Vernunft oder des eigenen frommen Erlebens Gottes Wort und Menschenwort in der Heiligen Schrift zu son-dern. Luthers Satz, dass die Heilige Schrift Gottes Wort sei, wo sie Christum treibet, gibt keineswegs einem willkurlichen Wahlen in der Schrift Raum. Die ganze Schrift, wie sie im Kanon zusammengefafit ist, treibt Christum. Aber der heilige Geist offenbart uns Christus in der Schrift, wo und wann er will. Der heilige Geist, der durch ein Wort der heiligen Schrift zu uns spricht, ist immer der Geist der ganzen heiligen Schrift und kann darum nie mit dem frommen Erleben, das aus der Schrift nach eigenem Gefallen auswahlt, verwech-selt werden. Vielmehr geht es darum, den Herrn der Schrift, Christus, dort gegen die Schrift zu treiben, wo die Schrift in der Gefahr ist, gegen Christus getrieben zu werden. Aber diese Freiheit gegen die heilige Schrift entsteht allein durch

die Beugung unter das ganze Schriftwort. Diese demutige Beugung ist der Ausdruck der Erkenntnis, dass Gottes Wort nie in meiner Gewalt steht, sondern von Gott her Gewalt uber mich bekommt, dass Gottes Wort immer wieder fur mich das fremde Wort ist. (Vgl.: Vorrede zum Jakobusbrief. 1522.)11

Laut Bonhoeffer ist es also verboten, willkurlich subjektivistisch zwischen Gottes Wort und Menschenwort in der Bibel zu sondern. Er scheint dabei die ihm auch sonst so wichtige Logik des christologischen Dogmas, das Paradox des Chalcedonense, anzuwenden. Das Kanon im Kanon ist auch fur ihn jedoch das Lutherwort „was Christum treibet“, aber dieser Satz schliefit keineswegs aus, dass die Schrift als Ganzheit Wort Gottes ist. „Der Geist offenbart uns Christus in der Schrift, wo und wann er will“ — keinen Ort fur einen willkurlichen religiosen Individualismus. Atomismus bedeutet Haresie, und deswegen betont Bonhoeffer: „Vielmehr geht es darum, den Herrn der Schrift, Christus, dort gegen die Schrift zu treiben, wo die Schrift in der Gefahr ist, gegen Christus getrieben zu werden.“ Die Ganzheit ist ja mehr als eine Summe der Teile.

Schlussfolgernd konnte also gesagt werden, dass Freiheit in der Schriftauslegung also eine Freiheit bedeutet, die durch den Kanon gebunden ist und als letztes Kriterium immer das „Christum treibet“ braucht. Vielheit und Einheit gehoren also polyphonisch zueinander, aber Tone, die die Beziehung zu anderen Akzenten zerbrechen, sind nicht biblisch. Weil das Betheler Bekenntnis jedoch nicht explizit zu den Werken Bonhoeffers gehort, ist es notwendig auch einige andere Texte von ihm zu analysieren. Wir wahlen diesmal die reprasentativen Werke die Bibelarbeit „Konig David, Das Gebetbuch der Bibel“ und die postumen Werke „Ethik“ und „Widerstand und Ergebung“.

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3. Die Christologische Hermeneutik Bonhoeffers in SEINER BlBELTHEoLoGIE

3.1. Die Realprasenz Jesu Christi in den Worten des Psalters Davids

Bonhoeffer betont mit dem Neuen Testament, dass Christus „der Sohn und Same Davids nach dem Fleisch und nach der Verheifiung (R 1[,3] Mt 1[,1] Joh 7,42 2 Tim 2,8: Mt 22,42)“ ist. Er bemerkt naturlich, dass Joseph kein leiblicher Vater Jesu war. Laut Bonhoeffer betonen die Genealogien Mt 1 und Luk 3 folglich den „Verheifiungscharakter der Sohnschaft“. Er will dadurch jede falsche Mythologisierung und Vergotzung von Fleisch — Materialisierung — vermeiden aber gleichzeitig auch den geschichtlichen und realen Charakter der Sohnschaft unterstreichen und jede falsche, abstrakte Spiritualisierung vermeiden. Bonhoeffer schreibt:

Gott hat dem fleischlichen Samen Davids die Verheifiung gegeben, aber damit nicht da Fleisch sich daraus eigenen Ruhm bereite, sondern die Gnade des Verheifienden allein gepriesen werde, bekundet sich die Treue Gottes gerade seiner dem fleischlichen Samen gegebenen Verheifiung darin, dass die Kette der leiblichen Vater Jesu mit Joseph abbricht und Jesus als der Sohn der unbefleckten Verheifiung verkundet wird12.

Diese Verheifiung war nach dem Neuen Testament auch fur David bekannt. Bonhoeffer zitiert Akta 2,30: „da er ein Prophet war und wusste, dass ihm Gott verheifien hatte mit dem Eide, dass die Frucht seiner Lenden sollte auf seinem Stuhl sitzen...“. Durch die Verheifiung sei also Christus die Frucht der Lenden Davids. Durch diese Verheifiung, durch den prophetischen Glau-ben im Heiligen Geist: „Als der, in dem Christus schon ist, ist er zugleich sein Prophet und Zeuge“. Christus ist nach Bonhoeffer also durch die Verheifiung real gegenwartig in David. Durch

12 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 14: Illegale Theologenausbildung Fin-kenwalde 1935-193 / Hrsg. von O. Dudzus, J. Henkys in Zusammenarbeit mit S. Bobert-Stutzel, D. Schulz und I. Tod. Munchen, 1996. S. 879.

die Verheifiung sei David „Zeuge Christi und Auferstehung“, wie Akta 2,31 von David verkundigt: „hat geredet von der Auferste-hung Christi, dass seine Seele nicht dem Tod gelassen ist und sein Fleisch die Verwesung nicht gesehen hat“. David ist sui generis, weil er Christus „in seinen Lenden tragt“. Dadurch kommt Bonhoeffer zum Ergebnis: „Christus war realiter, nach Fleisch und Verheifiung in David — und David war sein Zeuge“13.

Aber, Bonhoeffer zufolge, „nicht nur in Person, sondern auch in seinem Amt ist Christus nach dem Zeugnis des Neuen Testaments der Erbe Davids“. Bonhoeffer zitiert Lk 1,32.69; 2 Sam 7[,13] und Jes. 55,3 um dafur zu argumentieren, dass Davids Thron, Konigtum und Reich, dem ewigen Thron und Gottes ewiger Treue in Christus gehoren. Deswegen schrie das Volk beim Einzug Jesu in Jerusalem: „Gelobt sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt im Namen des Herrn“. Bonhoeffer folgert: „In David ist Amt und Reich Christi vorgebildet“14.

Also, es ist aufierst wichtig die Beziehung zwischen David und Christus aus der Perspektive des konkreten Weges der Heilsoffenbarung Gottes zu verstehen um die Logik der christo-logischen Deutung der Bibel bei Bonhoeffer zu verstehen. Bonhoeffer schreibt:

So versteht es sich, dass das Neue Testament die Worte der PsalmenDavids als Christuswortehort: Hebr2,12 (Ps22[,23]. Hebr 10,5 (Ps 40,7 ff[-9]) heifit es sogar, dass Christus in diesem Psalm in die Welt gekommen sei. Christus war real in den Worten Davidsprasent, wie ja auch Jesus das Zeugnis des Alten Testaments bestatigt, David habe im Geist gesprochen (Mt22,43.2. Sam23,2).... Christusnenntsichselbstdie Wurzel des Geschlechts, den Stamm David (Offbg 22,16 5,5). Er ist vor David, er tragt David und er ist selbst der Stamm Davids15.

Bonhoeffer geht davon aus, dass die Propheten und das Neue Testament einlinig David fur eine messianische Figur halten.

13 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 14. S. 879.

14 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 14. S. 880.

15 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 14. S. 880.

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Das ist aus der Perspektive der christlichen Theologie so zu ver-stehen, dass wie der Opferkult so auch David „Vorbild und Schat-ten“ des Messias sei. David als Schatten bedeutet in diesem Kon-text, dass es Schatten gibt, „weil es Inkarnation, Fleischwerdung des Wortes Gottes gibt. David ist der Schatten des fleischgewor-denen Messias. ... Um der Inkarnation willen und von der Inkarnation her ist David messianischer Konig“16. Konig David bekommt eine ganz neue und einmalige Bedeutung durch Christus. Sein Weg war nicht misslungen, sondern bereitete den Weg fur Gottes eingeborenen Sohn vor. Personlich war David am Innigsten mit Christus in Verbindung als Prophet und Zeuge. Obwohl diese Perspektive mit der judischen Deutung nicht ubereinstimmt, ist die Intention konstruktiv und unterstreicht die Nahe der Christen zum Volk Israels durch die Personen Davids und Christi.

Bonhoeffer expliziert auch selber die Bedeutung dieser ein-zigartigen heilsgeschichtlichen Beziehung von David und Christus und sieht dabei „eine andere Schicht der Beziehung von Altem Testament und Neuem Testament aufgedeckt. Hinter der Schicht des Wortzeugnisses steht die Schicht des Bildzeugnis-ses. Nach der Unterscheidung der alten Dogmatik ist David ein Personaltypus Christi“17. Bonhoeffer will die alte typologische Methode in seiner theologischen Auslegung nutzlich machen und die Wurzel dieses Ausgangspunktes explizieren auf eine theologisch konsequente, geistlich bildende und heilsgeschicht-lich bedeutsame Weise. Wie auch die anderen Menschen in der Kette der christlichen Heilsgeschichte bekommt David seine eigentliche Bedeutung, weil er im Alten Testament ein einzigar-tiger Zeuge Christi als sein Personaltypus ist. Bonhoeffer war der Uberzeugung, dass nicht nur der eindeutige Schriftsinn moglich sei, sondern moglicherweise auch die allegorische, symbolische oder typologische Auslegung, wenn damit nur Christus bezeugt werde. Entscheidend ist also der „Inhalt“18.

16 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 14. S. 881.

17 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 14. S. 882.

18 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 14. S. 416.

In seinem Werk „Das Gebetbuch der Bibel“ (1940) explizier-te Bonhoeffer dann diese Gedanken, als er die Theologie und die geistliche Benutzung der Psalmen auslegte. David bleibt die Schlusselfigur. Bonhoeffer konstatiert, dass es aus der Zeit vor der Salbung des Konigs Israels noch keine Psalmen gibt. „Erst der zum messianischen Konig Berufene, aus dem der verheifie-ne Konig Jesus Christus entstammen sollte, betete die Lieder, die spater in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen werden“19.

3.2. Die Psalmen als Gebetbuch der Bibel — Gotteswort und Menschenwort durch Christus

Bonhoeffer war keineswegs der erste, der die Psalmen in der christlichen Tradition von Christus her betrachtete und betete. Das tut schon das Neue Testament, in dem die Psalmen 22,31 und 69 uber das Leiden und den Tod Christi berichten. Jesus zitierte Psalm 22 am Kreuz und Petrus benutzt Psalm 16 um die Auferstehung Christi zu bezeugen. Psalm 2 spricht uber die Auf-erstehung und Psalm 110 uber die Himmelfahrt, Psalm 45 uber die himmlische Stellung Jesu uber die Engel. Athanasios sieht den Zusammenhang zwischen den Christus-Prophetien und dem Gottesdienstleben. Ihm zufolge zeigen die Psalmen, dass Gottes Sohn Mensch wurde.20 Die Psalmen bekamen als Teil der judisch-christlichen Tradition einen festen Platz im liturgischen Leben. Ubrigens, auch in der heutigen Finnischen lutherischen Gottesdienstordnung haben die Psalmen im Zuge der Einfuh-rung des neuen Gottesdienstbuches (2000) jetzt einen starkeren Sitz im Leben gefunden.

19 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 5: Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel / Hrsg. von G. L. Muller, A. Schonherr. Munchen, 1987. S. 110.

20 Laato A. Auf Finnisch: Kristuksen kirkko Jerusalemin temppelin var-josta maailmanlaajuiseksi kirkoksi. Esitelma Suomen evankelis-luterilaisen kirkon ja Venajan ortodoksisen kirkon 15. oppikeskusteluissa Siikaniemessa (Church of Christ from the Shadow of the Temple ofJerusalem to a Universal Church // Documents of the Evangelical Lutheran Church of Finland. Bd 13 / Ed. T. Karttunen. Sinappi; St. Petersburg; Siikaniemi: Church council, 2013. S. 16.

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Bonhoeffer will den theologischen Kern dieser Art Bibelaus-legung explizieren, und die Einleitungsthese lautet:

Wenn wir daher die Gebete der Bibel und besonders die Psal-men lesen undbeten wollen, so mussen wir nichtzuerst danach fragen, was sie mit uns, sondern was sie mit Jesus Christus zu tun haben. Wir mussen fragen, wie wir die Psalmen als Gottes Wort verstehen konne, und dann erst konnen wir sie mitbeten21.

Bonhoeffer unterstreicht wieder die Inkarnation als Schlus-sel der Bibelauslegung. Von Christus her zu lesen bedeutet, die Realitat der Inkarnation ernst zu nehmen: Gott wurde Mensch. Nur dadurch ist man offen fur die geschichtliche Wirklichkeit, offen fur die Realitat der Offenbarung Gottes. Das christolo-gische Paradoxon von Chalcedon will ja gleichzeitig die volle Menschheit und die wahre Gottheit zur paradoxalen Einheit bringen ohne die kreative Spannung auf falsche Weise zu losen. Bonhoeffer schreibt:

Jesus Christus hat alle Not, alle Freude, allen Dank und alle Hoffnung der Menschen vor Gott gebracht. In seinem Munde wird das Menschenwort zum Gotteswort, und wenn wir sein Gebet mitbeten, wird wiederum das Gotteswort zum Menschenwort. So sind alle Gebete der Bibel solche Gebete, die wir mit Jesus Christus zusammen beten, in die er uns hineinnimmt und durch die er uns vor Gottes Angesicht tragt, oder es werden keine rechten Gebete; denn nur in und mit Jesus Christus konnen wir recht beten22.

Eine Schlufifolgerung von diesem Ausgangspunkt ist, dass nicht nur Gottes Worte an uns seine eigenen Worte sind, sondern auch die Gebete, die mit Christus gebeten werden: „...das Wort, das er von uns horen will, weil es das Wort seines lieben Sohnes ist“23. Die Beziehung zu Christus ist also keine aufierliche sondern eine reale. Auch hier benutzt Bonhoeffer offensichtlich

21 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 5. S. 108-109.

22 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 5. S. 108.

23 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 5. S. 109.

die lutherische Realprasenzlehre als Ausgangspunkt. Das Wort wird sakramental durch Christus. Deswegen ist die Bibel nicht nur Zeugnis, sondern Gottes Wort an uns und durch Christus ein Gebet an den Vater Gott im Heiligen Geist.

Die Psalmen sind fur Bonhoeffer sehr wichtig und lieb, aber er hebt auch hervor, dass Jesus das Vaterunser personlich den Jungern gegeben hat. So Bonhoeffer: „In ihm ist alles Beten enthalten. ... Alle Gebete der Heiligen Schrift sind im Vaterunser zusammengefafit“24. Die anderen Gebete werden dadurch nicht uberflussig gemacht sondern zeigen den Reichtum des Vaterunsers. Es ist „ihre Kronung und Einheit“. Bonhoeffer zitiert Luther uber die Beziehung zwischen dem Psalter und dem Vaterunser: „Er ist durchs Vaterunser und das Vaterunser durch ihn also gezogen, dass man eins aus dem anderen sehr fein verstehen kann und lustig zusammenstimmen.“ Wesentlich fur das christliche Gebet ist beten im Namen Jesu Christi: im Geist von Vaterunser, Psalmen und anderen biblischen Gebeten. Bonhoeffer zieht den Schlufi: „... der Psalter. ist das Gebet der Gemeinde Jesu Christi, er gehort zum Vaterunser“25. Naturlich ist das nicht exklusiv gemeint sondern eine ziemlich traditionelle christliche und lutherische Perspektive zur Deutung des Psalters. Dies bedeutet, was besonders vermerkt sei, dass das Vaterunser auch den Psalter eigentlich kurz zusammenfasst, obwohl auf der anderen Seite das Gottesbild christlich gepragt wird durch das Wort „Vater“, Abba.

Die Beziehung durch Christus zu David und zur Welt des Alten Testaments und zum judischen Volk ist nicht nur geistlich und theologisch, sondern hat im Dritten Reich fur einige, wie Dietrich Bonhoeffer, eine ungeheuer konkrete Bedeutung bekommen als Motivationsgeber, unsere gemeinsame

24 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 5. S. 109.

25 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 5. S. 109. Das Luther-Zitat: Martin Luther. Vorrede zur Neuburger Psalterausgabe 1545 // D. Martin Luthers Werke: Deutsche Bibel. Bd 10/2: Drucktext der Lutherbibel 1546 und fruher: Spruche Salomonis bis Hohelied Salomonis. Revidierte Ausgabe des lateinischen Psalters (1529 und 1537). Weimar, 1957. S. 155.

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Menschheit zu bewahren und die letzten Konsequenzen der Zusammengehorigkeit zu ziehen. Das tat Bonhoeffer schriftlich in einer kreativen Weise, besonders in den nachgelassenen Werken „Ethik“ und „Widerstand und Ergebung“.

3.3. Die Wehrlosesten Bruder Jesu Christi — Zwischen Segen und Kreuz

Im Kontext der am 16. und 17. Oktober 1941 begonnenen Massendeportationen von Juden aus Berliner Wohnungen, woruber Friedrich Justus Perels zusammen mit Bonhoeffer der Abwehr in ihrem Bericht rapportierten, schrieb Dietrich Bonhoeffer in seinem Manuskript der Ethik : “Eine Verstofiung d. Juden aus dem Abendland mufi die Verstofiung Christi nach sich ziehen; denn Jesus Christus war Jude.“26 Bonhoeffer unterstreicht also die bleibende Zusammengehorigkeit von Christen und Juden durch Christus. Im Hintergrund dieser Feststellung kann biblisch betrachtet Matthaus 25 gesehen werden: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brudern, das habt ihr mir getan.“ Bonhoeffer will es also moglichst stark explizieren, wie unchristlich und gegen alle Menschen gestellt der Menschenhass und Nihilismus der Nazis war. Weil der Nationalsozialismus einer von den modernen Ideologien war, verbindet Bonhoeffer die Situation in seiner Analyse mit der aggressiven abendlandischen Gottlosigkeit und sieht im Hintergrund wesentlich die Franzosische Revolution als Wendepunkt. Er schreibt:

Die Franzosische Revolution hat die neue geistige Einheit des Abendlandes geschaffen. Sie besteht in der Befreiung des Menschen als ratio, als Masse, als Volk. ... Die Befreiung des Menschen als absolutes Ideal fuhrt zur Selbstzerstorung des Menschen. Am Ende des Weges, der mit der franzosischen Revolution beschritten wurde, steht der Nihilismus. ... die abendlandische Gottlosigkeit.

26 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 6: Ethik / Hrsg. von I. Todt, H. E. Todt, E. Feil und C, Green. Munchen, 1993. S. 95.

. ob sie nun nationalistisch, sozialistisch, rationalistisch oder mystisch seien gegen den lebendigen Gott der Bibel, gegen Christus. Ihr Gott ist der neue Mensch, ob die ,Fabrik des neuen Menschen bolschewistisch oder christlich ist27.

Bonhoeffer will folglich keineswegs die theozentrische Denk-weise des Alten Testaments fur die Probleme verantwortlich machen, sondern umgekehrt die absolute Idealisierung des Men-schen, die zum Nihilismus gefuhrt hat und im Nationalsozialis-mus unubersehbar geworden ist. Deswegen will er erneut von den Grundlagen des Lebens ausgehen und einen festen Grund fur eine gleichzeitig theo- und anthropozentrische Orientierung durch Christus finden. Das bedeutet, dass auch die Kirche Bufie tun muss, um eine wirkliche Reformation durch Gottes Wort in Christus als wahre und wirkliche Autoritat zu finden. Bonhoef-fer schreibt:

DieKirche bekennt, an dem Zusammenbruch derelterlicher Autoritat schuldig zu sein. ... schuldig an der Zerstorung unzahliger Familien, an dem Verrat der Kinder an ihren Vatern, an der Selbstvergotterung der Jugend und damit an ihrerPreisgabe an den Abfall von Christus.... So ist sie schuldig geworden am Leben der Schwachsten und Wehrlosesten Bruder Jesu Christi. ... Die Kirche bekennt sich schuldig aller 10 Gebote, sie bekennt darin ihren Abfall von Christus28.

Dieses Schuldbekenntnis aus dem Jahr 1940 hat Eberhard Bethge ein „erstaunliches Schuldbekenntnis der Kirche“ genannt und Bertold Klappert zufolge wirkt es „sachlich wie eine Vorwegnahme nicht nur des Stuttgarter okumenischen Schuldbekenntnisses, sondern auch des Darmstadter Wortes und des rheinischen Synodalbeschlusses“29.

27 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 6. S. 112-113.

28 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 6. S. 130-131.

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29 Klappert B. Weg und Wende Dietrich Bonhoeffers in der Israelfrage — Bonhoeffer und die theologischen Grundentscheidungen des Rheinischen Synodalbeschlusses 1980 // Ethik im Ernstfall. Dietrich Bonhoeffers Stellung zu den Juden und ihre Aktualitat. Internationales Bonhoeffer Forum (IBF).

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Wichtig ist nicht nur das Beispielhafte, obwohl es im Fall Bonhoeffers beeindruckend ist. Wichtig und Bonhoeffer gerecht werdend ist es auch, nach den theologischen Grunden zu fragen. Weil namlich die Mythologisierung der Geschichte in den grofien Ideologien des 20. Jahrhunderts, nicht nur in Alfred Rosenbergs „My thus des 20. Jahrhunderts“, im Kontext der aufgeruttelten alten Strukturen und Autoritaten, zu verhangnisvollen und brutalen Konsequenzen gefuhrt hatte, will Bonhoeffer erneut zuruckkehren zu den Quellen, zur wirklichen Bibel, zum wirklichen Luther und zu den Kirchenvatern und daruber hinaus neue Inspiration z.B. auch bei Gandhis Erfolg finden. Der rote Faden jedoch heifit:

Der geschichtliche Jesus Christus ist die Kontinuitat unserer Geschichte. Weil aber Jesus Christus der

verheifiene Messias des israelitisch-judischen Volkes

war, darum geht die Reihe unserer Vater hinter die Erscheinung Jesu Christi zuruck in das Volk Israel30.

Wie schon erwahnt, sieht Bonhoeffer bleibende

theologische Relevanz in der Schicksalsgemeinschaft mit dem Volk Israel, nicht nur schopfungs — oder gesetztheologisch. Er formuliert: „Die abendlandische Geschichte ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unloslich verbunden, nicht nur genetisch, sondern in echter unaufhorlicher Begegnung. Der Jude halt die Christusfrage offen. Er ist das Zeichen der freien Gnadenwahl und des verwerfenden Zornes Gottes“31. Das judische Volk also zeigt durch seine Existenz die Wurzel und den Kern des Evangeliums als Gottes Gnade in Christus. Nach seiner Verhaftung im Marz 1943 schrieb Dietrich Bonhoeffer aus der Tegeler Haft am 18. November 1943: „...ich habe 2 V mal das Alte Testament gelesen und viel gelernt...“32.

Forschung und Praxis 4 / Hrsg. von W. Huber und I. Todt. Munchen: Chr. Kaiser Verlag, 1982. S. 81.

30 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 6. S. 95.

31 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 6. S. 95.

32 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 8. S. 188.

Er begann immer tiefer zu sehen, was die Bindung mit dem Judentum durch die Schrift auch fur das sachgemafie Verstandnis des Christentums bedeutet. Spater hat Bonhoeffer im Gefangnis das Alte Testament sehr hoch geachtet:

Ich spure ubrigens immer mehr, wie alttestamentlich ich denke und empfinde; so habe ich in den vergangenenMonaten auch viel mehr Altes Testament als Neues Testament gelesen. Nur wenn man die Unaussprechlichkeit des Namens Gottes kennt, darf man auch einmal den Namen Jesus Christus aus-sprechen; nur wenn man das Leben und die Erde so liebt, dafi mit ihr alles verloren und zu Ende zu sein scheint, darf man an die Auferstehung der Toten und eine neue Welt glauben; nur wenn man das Gesetz Gottes uber sich gelten lafit, darf man wohl auch einmal von Gnade sprechen, und nur wenn der Zorn und dieRache Gottes uber seineFeinde alsgultige Wirklichkei-ten stehen bleiben, kann von Vergebung und von Feindesliebe etwas unser Herz beruhren. Wer zu schnell und zu direkt neu-testamentlich sein und empfinden will, ist m.E. kein Christ33.

Die fundamentaltheologische Orientierung Bonhoeffers dabei stammt wesentlich schon aus seinen fruhen akademischen Werken Sanctorum Communio, Akt und Sein und Christolo-gie. Seine Gedanken finden jedoch neue Formulierungen und Konsequenzen auf der Basis des gelebten Lebens, durch tiefe geschichtliche Analysen und durch das Gesprach mit den Theo-logen und Philosophen, aber nicht zuletzt gerade durch das Alte Testament: „Das Diesseits darf nicht vorzeitig aufgehoben wer-den. Darin bleiben N.T. und A.T. verbunden. Erlosungsmythen entstehen aus den menschlichen Grenzerfahrungen. Christus aber fafit den Menschen in der Mitte seines Lebens“34.

Im Hintergrund dieser Formulierungen kann auch die Absicht gestanden haben, zu zeigen, dass das Christentum kein „Opium fur das Volk“ und Weltflucht ist oder lebens-feindliche „Sklavenmoral“ vertrete. Der christliche Glaube

33 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 8. S. 226.

34 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 8. S. 501.

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bedeutet namlich nicht Flucht sondern zeigt, wie Bonhoeffer betonen will, die Mehrdimensionalitat des Lebens und den Weg zur inneren Freiheit, von der Sklaverei des Ichs, den Weg in die Mitte des Lebens durch Christi Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung. Im Hintergrund zu diesem ganzheitlichen Wirk-lichkeitsverstandnis stehen fundamental auch das Alte Testament und die Schopfung Gottes. Nur durch die unlosbare Bezie-hung von Schopfung und Erlosung kann man echt sowohl die Bedeutung der Schopfung als auch die Bedeutung der Erlosung „wie im Himmel so auf der Erde“ verstehen. Deswegen wollte man in der spateren Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg auch die trinitarische Basis des christlichen Glaubens neu beto-nen und biblisch fundieren.

Die Reflexionen Bonhoeffers uber die Einheit des Kanons der Schrift kulminieren in dem Gedanken uber die enge Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament, die in der Anwendung der theologischen Konzepte „Segen“ und „Kreuz“ offenbar wird. Er schreibt:

Der theologische Zwischenbegriff im AT zwischen Gott und dem Gluck etc. des Menschen ist, soweit ich sehe, der des Segens.... UbrigensmufijaauchimAT. der Gesegnetevielleiden (Abraham, Isaak, Jacob, Joseph), aber nirgends fuhrt dies (ebensowenigwieimN.T.) dazu, GluckundLeiden, bzw. Segen und Kreuz in einen ausschliefilichen Gegensatz zueinander zu bringen. Der Unterschied zwischen AT und NT. liegt wohl in dieser Hinsicht nur darin, dafi im AT. der Segen auch das Kreuz, im NT das Kreuz auch den Segen in sich schliefit35.

Der Horizont Bonhoeffers dafur liegt terminologisch am direktesten bei Luther, der die Kreuzestheologie gegen falsche Herrlichkeitstheologie setzen wollte. Vor Gott und Christus wird der sundige Mensch zu Nichts gemacht, so dass er oder sie eine neue Kreatur im Glauben werden kann. Die Art und Wei-se wie Gott schopft ist ja die Schopfung aus dem Nichts (creatio

ex nihilo), wie die christliche Theologie gegen die platonische und neuplatonische Lehre von der Ewigkeit der Welt betont. Trotzdem ist die Welt als Schopfung Gottes gut. Deswegen hat auch Bonhoeffer in seiner Theologie, im Sinne der luthe-rischen Realprasenzlehre, betont, dass Gott nicht frei von uns sondern frei fur uns ist und dass das christliche Leben Teilha-be an der Proexistenz Jesu Christi als Mensch fur andere ist. Er will dynamisch und offen die Wirklichkeit Gottes denken und betont deswegen, gegen Kierkegaard, dass der Segen und das Kreuz nicht systematisch gegeneinander auszuspielen sind. Sonst geht der reale geschichtliche Charakter des Wirkens Gottes und des Lebens, sein mehrdimensionaler Charakter, verloren.

Es ist doch klar, dass das „Kreuz“ zur judischen Theologie nicht im selben Sinne gehort wie zur christlichen Theologie. Ohne Zweifel nahert sich die christliche Theologie im Dialog-verhaltnis dadurch jedoch den judischen Wurzeln, wenn die Christen das Alte Testament konkret als fundamental wich-tig fur das Verstandnis der Offenbarung Gottes betrachten, anstatt im Fahrwasser Marcions das Alte Testament zu ver-werfen. Mit seiner Liebe zum Alten Testament gehort Dietrich Bonhoeffer mit guten Grunden in die Reihe derer, die die Neuorientierung der Bibelwissenschaft und Jesus-Forschung inspiriert haben, so dass jetzt besser verstanden wird, dass Jesus als Mensch und als Verkunder naher gesehen und ver-standen wird, wenn man nicht die Augen vor seinem judi-schen Kontext und Abstammen schliefit. Wie schon Martin Kuske es in seiner Dissertation „Das Alte Testament als Buch von Christus. Dietrich Bonhoeffers Wertung und Auslegung des Alten Testaments" (1971) formuliert hat: „Seine Aussa-gen zum Alten Testament in WE fuhren uberzeugend zu dem Urteil: Um Christus erkennen zu konnen, bedarf es notwen-dig des Alten Testaments“36.

36 Kuske M. Das Alte Testament als Buch von Christus. S. 110, Anm. 362. Vgl. : Klappert B. Weg und Wende Dietrich Bonhoeffers... S. 91.

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4. Die Relevanz der Bibeltheologie Bonhoeffers „nach Auschwitz“

Bonhoeffer wollte die Bibel als Ganzheit als Wort Gottes, als Zeugnis des Trinitarischen Gottes in Christus ernst nehmen als fremdes Wort Gottes, als „fremdes Evangelium“, auslegen und verkundigen mit Wort und Tat. Deswegen ware es gegen seine Intentionen, ihn zu leicht als Reprasentant einer veralteten anti-judischen christlichen Theologie zu klassifizieren, obwohl er nicht immer modernes „politically correct“ Vokabular benutzte. Er wollte tiefer gehen, um der Wahrheit und Wirklichkeit willen. Und — er schrieb, sprach und wirkte fur seine judischen Bruder und Schwestern im Dritten Reich wie fast kein anderer Theo-loge, argumentierte theologisch fur die Zusammengehorigkeit von Christen und Juden und diagnostizierte den Ursprung des Wahnsinns in der Selbstvergotzung des Menschen als Anfang des aufiersten Nihilismus. Trotzdem hat er ohne Zweifel auch Fehler gemacht wie jeder. Zum Schlufi will ich jetzt reflektie-ren, wie er im Laufe der Jahre seine Theologie in Beziehung zum Alten Testament und zu den Juden vielleicht verandert und kor-rigiert hat.

Bertold Klappert hat im Bonhoeffer-Kongress 1980 zum The-ma „Dietrich Bonhoeffers Stellung zu den Juden und ihre Aktua-litat“ geaufiert, dass der fruhe Bonhoeffer noch teilweise „in der antijudaischen Tradition seiner Zeit“ stand. Er nimmt Beispiele von a) Verwerfungs-, b) Fluch- und Gerichts-, c) Substitution-und d) Integrationstheorie in der Theologie Bonhoeffers. Die meisten Beispiele von Klappert uber Bonhoeffers „antijudische Tradition“ stammen aus der sonst einzigartig mutigen und fruhen Stellungnahme fur die Rechte der Judenchristen im Vortrag „Die Kirche vor der Judenfrage“ aus dem Jahr 193337.

Als Beispiel fur die Verwerfungstheorie bei Bonhoeffer, der zufolge Jesus durch das ganze judische Volk verworfen und ans Kreuz geschlagen worden ist, laut Klappert, „kann gelesen

werden“: „Der Hohe Rat und das Volk der Juden haben den ... Christus Jesus Verworfen.“ Also, es „kann gelesen werden“. Das bedeutet nicht, dass damit letzten Endes tatsachlich gemeint sei, dass das ganze judische Volk Jesus verwirft. Es werden nur die Ereignisse berichtet, so wie sie in der Bibel stehen. Der Hohe Rat und das Volk haben nach den Evangelien Jesus ver-worfen. Eine andere Sache ist, dass die Gefahr einer falschen Anwendung besteht und man eindeutig mehr das unterstrei-chen sollte, wie es auch der Papst Benedictus XVI in seinem Jesus-Buch II tut, dass es auch in den Evangelien nicht darum geht, das Volk Israels als Ganzheit anzuklagen, sondern um eine ziemlich kleine Gruppe und letzten Endes es um uns alle als Menschen. Im heutigen Finnland ist es meines Erachtens in der allgemeinen kirchlichen lutherischen Verkundigung evident, dass wir alle als Menschen, ich und du, schuldig an der Todesstrafe Jesu sind, nicht nur die Juden und Pontius Pilatus vor 2000 Jahren.

Zweitens, im Beispiel fur die Fluch- und Gerichtstheorie, der zufolge der Fluch und das Gericht Gottes die Verwerfung und Kreuzigung Jesu durch das judische Volk in der Leidens-geschichte der Juden vollzieht, man wiederum „kann sehen“: „dass das ’auserwahlte Volk’, das den Erloser der Welt ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Tuns tragen mufi“. Nach Klappert hatte Bonhoeffer dann seine Position verandert. Ein Schuler Bonhoeffers, Gottfried Maltusch, erzahlt namlich, dass Bonhoeffer 1938 wahrend des Brandes der Synagoge in der Nahe des von ihm geleiteten Predigerseminars in Koslin, Pommern folgendermafien rea-gierte:

Unter uns entstand nun eine grofie Diskussion, wie diese Tat zu werten sei... Einige sprachen von dem Fluch, der seit dem Kreuzestod Jesu Christi auf dem Volk der Juden lage. Hiergegen wandte sich Bonhoeffer auf das allerscharfste... Bonhoeffer lehnte die Auslegung, dass sich in der Zerstorung der Synagogen durch die Nazis der Fluch

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uber die Juden erfulle, auf das scharfste ab. Hier sei reine Gewalt geschehen... Mit dieser Tat habe sich aufs Neue das gottlose Geschicht des Nationalsozialismus gezeigt38.

Die zwei Positionen stehen jedoch nicht unbedingt im Widerspruch zu einander. Wenn namlich die Begriffe „Fluch“ und „Gericht“ nur als deskriptive Beschreibung der Situation seit dem Kreuzestod Jesu betrachtet werden und nicht als Zustim-mung, Gewalt zu uben oder sich selber fur besser zu halten als die anderen, konnen die Begriffe sogar mehr bewufites Mitleid erwecken. Das war m.E. gerade die Situation bei Bonhoeffer. Er wollte nicht Gewalt fordern. Es ist jedoch wahr, dass diese Begriffe als Prinzipien einer spekulativen Theologie gefahrlich sein konnen. Sie konnen leicht zu bosen Zwecken gebraucht werden. Als metaphysische Kategorien verstanden fordern sie kein gemeinsames Schuldgefuhl, sondern drohen eher selbster-fullende Prophetien zu werden. Auf der anderen Seite, konnen sie implizieren, dass das Volk Israels in positivem Sinne in den Planen Gottes die bleibende spezielle Position als auserwahltes Volk hat. Bonhoeffer schreibt ja in seinem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“: „Jeder neue Versuch, die Judenfrage’ zu ’losen’, scheitert an der heilsgeschichtlichen Bedeutung dieses Volkes”39.

Drittens, als Beispiel fur die Substitutionstheorie, der zufolge die Kirche als das wahre Israel an die Stelle des alten Israel tritt, „kann gelten“: „An die Stelle des alttestamentlichen Bundesvol-kes tritt. die christliche Kirche aus und in allen Volkern“. Die-se Position ist aber keine volkische Stellungnahme sondern eine theologische, religiose Stellungnahme. Wenn „Israel“ das Volk Gottes bedeutet und Jesus der „Immanuel“ — Gott mit uns — ist, sind die in Jesus Christus Getauften in der christlichen Theologie dem Heil Gottes am nachsten. Gott hat sein Heil fur die Welt in Jesus Christus geoffenbart. Das bedeutet nicht, dass das judische

38 Klappert B. Weg und Wende Dietrich Bonhoeffers... S. 93, zitiert: Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer / 4. Aufl; Hrsg. von W.-D. Zimmer-mann. Munchen, 1969. S. 142.

39 Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd 12. S. 355.

Volk nicht mehr auch das auserwahlte Volk Gottes ware. Es ist wahrscheinlich, dass Bonhoeffer auch hier wie Paulus im Sinne von Romerbrief Kapitel 9-11 denkt. Christliche Liebe und der Gedanke von tiefer Zusammengehorigkeit hat in dieser Deutung ihre Basis in der christlichen Identitat. Rassismus dagegen hat seine Basis in einer ideologischen Pseudowissenschaft, in Hass, Vorurteilen und Angst.

Viertens, der Integrationstheorie zu folge „ist es das Ziel der kirchlichen Verkundigung in Gestalt der heidenchristlichen Juden-mission, die Juden in die Kirche zu integrieren“40. Klappert zitiert Bonhoeffer: „Aber die Leidensgeschichte des von Gott... gestraften Volkes steht unter dem Zeichen der letzten Heimkehr des Volkes Israel zu seinem Gott. Und diese Heimkehr geschieht in der Bekehrung Israels zu Christus.“ Wie auch Klappert her-vorhebt, hat Bonhoeffer Rom 11,25 als „Bekehrung“ Israels zum Evangelium der Kirche interpretiert41. Diese Deutung Klap-perts scheint uberzeugend zu sein. Es gehort ja zum allgemei-nen Selbstverstandnis des Christentums, dass in Jesus Christus die Liebe Gottes fur uns am klarsten offenbar wird und dass Herr Jesus Christus seinen Nachfolgern den Auftrag gegeben hat, das Evangelium allen Volkern der Welt zu verkundigen. Es gehort zur Religionsfreiheit, dass man frei die Religion wahlen und praktizieren kann. Proselytenmacherei als Menschenwerk gehort nicht zu den sachgemafien Arbeitsweisen in der Missions-arbeit, obwohl man gleichzeitig berechtigt christliches Zeugnis geben kann, Gottes eigenes Werk durch seinen Geist und Reli-gionsfreiheit respektieren kann. Es gehort ja heutzutage zu den gemeinsamen Interessen der Religionen, die positive Deutung der Religionsfreiheit als Menschenrecht, gegen einen aggressi-ven Sakularismus zu bewahren.

Bonhoeffer hatte bestimmt seine Position etwas anders, wenigstens vorsichtiger und die negativen Folgen bestimm-ter traditioneller Argumente nach seiner Erfahrungen genauer beobachtend, formuliert. Auf der anderen Seite war er kein all-

40 Klappert B. Weg und Wende Dietrich Bonhoeffers... S. 93.

41 Klappert B. Weg und Wende Dietrich Bonhoeffers... S. 93.

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zu vorsichtiger, sondern eher mutiger Mann. In der Entwick-lung seiner Theologie hat er in den spateren Werken starker und konkreter die Schlusse von seinen Ausgangspunkten gezogen als fruher. Deswegen kommt er zu den weiterfuhrenden Gedan-ken, die das Potential fur die nahere Begegnung zwischen Christen und Juden moglich macht und auch fur die Theologie und Exegetik Inspiration gibt. Ein wichtiger Hinweis liegt darin, das Neue Testament und die christliche Tradition mehr aus der Perspektive des Alten Testaments zu lesen. Bonhoeffer hat die Religionsfreiheit und die Menschenrechte seiner judischen Mit-menschen mutig verteidigt, als er zugleich fur den Frieden, fur die Menschheit und fur das Volk, fur das christliche Zeugnis in der Nachfolge Christi eintreten wollte.

Als Letztes sei beachtet, was Bertold Klappert in seiner kri-tisch solidarischen Analyse hervorhebt: dass Bonhoeffer die sogenannte Diskontinuitatsthese umgekehrt auf die Kirche anwendet. Klappert zitiert Bonhoeffer: „Was kann eine Kirche noch sein, wenn mit der Verstofiung der Juden auch Christus das Abendland verlassen hat?“. Wer namlich den Bruder oder die Schwester beleidigt, der beleidigt Christus selbst42. Bonhoeffer betont die frei Gnade Gottes und dass Jesus Christus als Erloser zugleich der Richter ist. Die Gnade Gottes sei keine billige son-dern teure Gnade, die zur Nachfolge in der Kraft Christi ruft. Von dieser Position ausgehend kann auch echte Begegnung zwi-schen Christen und Juden, zwischen Christen und andere Reli-gionen wachsen, weil sie die besten Traditionen des Christen-tums, Jesus Christus selbst, hervorhebt.

Quellen und Literatur

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