Научная статья на тему 'Субъективная аутентичность в романе Бригитты Райманн "Франциска линкерханд"'

Субъективная аутентичность в романе Бригитты Райманн "Франциска линкерханд" Текст научной статьи по специальности «Языкознание и литературоведение»

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Ключевые слова
ЛИТЕРАТУРА ГДР / ПИСАТЕЛЬ И ПОЛИТИКА / WRITER AND POLITICIAN / ЛИЧНОСТЬ И ОБЩЕСТВО / INDIVIDUAL AND SOCIETY / АУТЕНТИЧНАЯ СУБЪЕКТИВНОСТЬ / AUTHENTIC SUBJECTIVITY / БРИГИТТА РАЙМАНН / BRIGITTE REIMANN / КРИСТА ВОЛЬФ / CHRISTA WOLF / РОМАН "ФРАНЦИСКА ЛИНКЕРХАНД" / DER ROMAN „FRANZISKA LINKERHAND" / "FRANZISKA LINKERHAND" NOVEL / DIE DDR-LITERATUR / SCHRIFTSTELLER UND POLITIK / INDIVIDUUM UND GESELLSCHAFT / SUBJEKTIVE AUTHENTIZITäT / GDR-LITERATURE

Аннотация научной статьи по языкознанию и литературоведению, автор научной работы — Мошингер Лидия

В статье представлены результаты дипломного исследования, проведённого автором в Венском университете в 2011 году на тему «Бригитта Райманн. Наброски к монографии: в аспекте отношения личности и общества». В статье рассматривается литературная и политическая позиция Райманн к началу её работы над романом, анализируются стилевые черты романа, основанного на концепции субъективной аутентичности, разработанной Кристой Вольф.

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SUBJEKTIVE AUTHENTIZITÄT IN BRIGITTE REIMANNS ROMAN "FRANZISKA LINKERHAND"

The article presents the results of the research “Brigitte Raimann: Personality and Society” which had been carried out in Vienna University in 2011. The author describes B.Raimann’s literary and political standpoint by the start of her work at the novel. The style of the novel is analyzed on the basis of Christa Wolf’s conception of subjective authenticity.

Текст научной работы на тему «Субъективная аутентичность в романе Бригитты Райманн "Франциска линкерханд"»

УДК 82-311.4»197»

СУБЪЕКТИВНАЯ АУТЕНТИЧНОСТЬ В РОМАНЕ БРИГИТТЫ РАЙМАНН «ФРАНЦИСКА ЛИНКЕРХАНД»

Лидия Мошингер

г. Вена, Австрия

В статье представлены результаты дипломного исследования, проведённого автором в Венском университете в 2011 году на тему «Бригитта Райманн. Наброски к монографии: в аспекте отношения личности и общества». В статье рассматривается литературная и политическая позиция Райманн к началу её работы над романом, анализируются стилевые черты романа, основанного на концепции субъективной аутентичности, разработанной Кристой Вольф.

Ключевые слова: литература ГДР, писатель и политика, личность и общество, аутентичная субъективность, Бригитта Райманн, КристаВольф, роман «ФранцискаЛинкерханд».

Lydia Moschinger

(Wien, Österreich)

SUBJEKTIVE AUTHENTIZITÄT IN BRIGITTE REIMANNS ROMAN «FRANZISKA LINKERHAND»

Der Artikel «Subjektive Authentizität in Brigitte Reimanns Roman "Franziska Linkerhand"« ist ein Auszug aus der 2011 an der Universität Wien eingereichten Diplomarbeit "Brigitte Reimann: Studien zu einer Monografie. Mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft". Der Artikel befasst sich mit der literaturpolitischen Position Reimanns zu Beginn ihrer Arbeit an "Franziska Linkerhand" und analysiert Merkmale des von Christa Wolf erarbeiteten Schreibkonzepts der Subjektiven Authentizität.

Stichworte: die DDR-Literatur, Schriftsteller und Politik, Individuum und Gesellschaft, subjektive Authentizität, Brigitte Reimann, Christa Wolf, der Roman „Franziska Linkerhand"

Einleitung

Brigitte Reimann war während der 1960er Jahre eine der bekanntesten Schriftstellerinnen in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Preise: 1952 die Friedensmedaille der DDR, 1961 und 1962 den Literaturpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), 1965 den HeinrichMann-Preis der Akademie der Künste der DDR sowie den Carl-Blechen-Preis des Rates des Bezirks Cottbus für Kunst, Literatur und künstlerisches Schaffen. 1956 wurde sie Mitglied des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV) und 1963 in den Vorstand gewählt. Mitglied der Jugendkommission des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei (SED) wurde Reimann ebenfalls 1963. 1933 als Kind bürgerlicher Eltern geboren, suchte und fand sie im Sozialismus eine neue ideelle wie soziale Heimat. Dieses Verhältnis war jedoch nicht ungebrochen: Stets nach der Verwirklichung eines sozialistischen Ideals strebend, war sie nicht blind für Fehler. Im Laufe ihrer schriftstellerischen Karriere stieß sie immer wieder an die von der Literaturpolitik gesetzten Grenzen. Auch ihr privates Leben glich einem stetigen Auf und Ab: Zahlreiche Wohnortwechsel, vier gescheiterte Ehen, Depressionen und ein republikflüchtiger Bruder zermürbten die Schriftstellerin. Brigitte Reimann wusste jedoch, sich jedes Mal wieder aufzurichten und neu anzufangen. Letztlich musste sie sich 1973 ihrer schweren Krebserkrankung geschlagen geben.

Bei vorliegendem Artikel handelt es sich um einen Auszug aus der am Institut für Deutsche Philologie der Universität Wien vorgelegten Diplomarbeit „Brigitte Reimann: Studien zu einer Monografie. Mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft"1. Nachfolgende Ausführungen stellen die (literaturpolitischen) Voraussetzungen für die Veröffentlichung dieses Romans sowie das von Christa Wolf erdachte Schreibkonzept „Subjektive Authentizität" dar.

Reimanns literaturpolitische Position

Um Reimanns literaturpolitische Position zu Beginn ihrer Arbeit an „Franziska Linkerhand" zu klären, bezieht sich die Literaturwissenschaftlerin Maria Brosig u. a. auf Pierre Bourdieus Feldtheorie [Brosig, 2010, S. 88] und Gregor Ohlerichs Arbeit über Erik Neutschs Ästhetikkonzept. Demnach sei das literarische Feld der DDR von zwei Polen bestimmt: Auf der einen Seite stünden diejenigen Schriftsteller, „die zwar nicht den prinzipiellen Zusammenhang von Politik und Literatur infrage stellen, jedoch das Politische zum Ausgangspunkt eigener Überlegungen ansahen" („autonomes Ordnungsprinzip"). Auf der anderen Seite stünden Autoren, „die eine starke inhaltliche und formale Nähe ihrer Literatur zur kulturpolitischen Linie der SED vertraten" („heteronomes Ordnungsprinzip") [Brosig, 2010, S. 89]. Innerhalb dieser beiden Pole hätten die Autoren auf unterschiedliche Weise „kulturelles Kapital" in „politisches Kapital" umgemünzt, um „Einflussnahme auf soziale und politische Prozesse" zu nehmen. Brosig verortet Reimann in erster Linie im heteronomen Ordnungsprinzip, sie gesteht ihr damit „politisches Autoritätskapital" [Brosig, 2010, S. 90] zu. Weiters führt sie aus, was das für die Entstehung von „Franziska Linkerhand" bedeutet. Anfang der 60er Jahre hätte sich Reimann in einer Phase „ansteigenden (kultur)politischen Kapitalbesitzes" befunden, was auf ihre Werke „Ankunft im Alltag" und „Die Geschwister" zurückzuführen sei. Auch „außerliterarische bzw. (kultur)politische Stellungnahmen" hätten dazu beigetragen. Als Beispiel nennt Brosig Reimanns Artikel „Entdeckung einer schlichten Wahrheit" im „Neuen Deutschland" 1962, in dem sie über ihre Erfahrungen „an der Basis" schrieb, und zu dem Walter Ulbricht nur einen Tag später mit „Die Lektion der Brigitte Reimann" Stellung bezog: Ulbricht lobte und erhob sie zum Exempel der beiderseitigen Annäherung von Schriftstellern und Arbeitern bzw. Parteifunktionären. Denn obwohl die

1 Die Diplomarbeit „Studien zu einer Monografie. Mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft" (Univ. Wien 2011) ist im Internet als PDF erhältlich: http://othes.univie.ac.at/15745/

Autorin Konflikte mit Parteifunktionären des Kombinats nicht verschwiegen hatte, stellte ihr Bericht den Bitterfelder Weg doch nicht infrage, sondern bestätigte ihn: Indem Reimann die Auseinandersetzungen auf auflösbare „Mißverständnis" [sic!] zurückführte und den positiven Einfluss der neuen Arbeitssphäre auf ihr gewandeltes Berufsverständnis hervorhob, bescheinigte sie den Beschlüssen der ersten Bitterfelder Konferenz 1959 Erfolg [Brosig, 2010, S. 93].

Infolgedessen wurde Reimann laut Brosig politisch vereinnahmt. Dieses Verhältnis kippte mit dem 11. Plenum des ZK der SED 1965, Reimann verweigerte nach und nach politische Stellungnahmen. Als die Mitglieder des DSVBezirksverbandes Cottbus eine Zustimmungserklärung zum Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR („Prager Frühling") unterschrieben, verweigerte Reimann ihre Unterschrift. Auch den Glückwunschbekundungen des Verbandes zum 75. Geburtstag Ulbrichts schloss sie sich nicht an. Die Abkapselung vom politischen Feld erfolgte mit und während der Arbeit an „Franziska Linkerhand". Brosig zufolge plädierte Reimann für „individuelle und nicht kulturpolitisch reglementierte Schreibantriebe", sie „artikuliert [...] ihren Willen nach schriftstellerischer Unabhängigkeit". Das kollidiere mit dem Erwartungshorizont, der sich aus ihrem „politischen Kapitalbesitz" ergeben hatte und der sie auf „das Genre der Ankunfts- und Produktionsliteratur festlegt" [Brosig, 2010, S. 94-95]. Der sich daraus ergebende Loyalitätskonflikt und der mit den „politischen Zäsuren der Jahre 1965 und 1968" beginnende Desillusionierungspro-zess habe dazu geführt, dass sich Reimann vom „politischen Pol des Feldes" zurückzog. Auf dem VI. Schriftstellerkon-gress fühlte sie sich bereits als Außenseiterin, als „schwarzes Schaf. Von ihren ersten schriftstellerischen Arbeiten grenzte sich Reimann vollständig ab. Am 1. November 1968 schrieb sie in ihr Tagebuch:

Finde schrecklich, was ich da früher geschrieben habe, sprachlich und politisch. Ich war ein gutgläubiger Narr. Seit der CSSR-Affäre [sic!] hat sich mein Verhältnis zum Land, zu seiner Regierung sehr geändert. Verzweiflung, manchmal Anfälle von Haß. Daß ich mich geweigert habe, die Erklärung zu unterschreiben, hat einige Folgen (vielleicht ist das erst der Anfang) [...] [Reimann, 1998, S. 217].

Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T." als Voraussetzung für Reimanns „Franziska Linkerhand"

Das 11. Plenum stellte auch für die 1929 geborene Schriftstellerin Christa Wolf eine Zäsur dar. Unmittelbar danach begann sie mit ihrer Arbeit an „Nachdenken über Christa T." Laut Jörg Magenaus Biografie über Christa Wolf markiert dieses Buch den Anfang einer Entwicklung:

Die Zuversicht, auf der richtigen Seite zu stehen und des historischen Fortschritts sicher sein zu können, war im „Geteilten Himmel" noch dominierend. Jetzt wurde sie brüchig, ohne dass sich neue Gewissheiten angeboten hätten. Ohne Sicherheit denken und leben zu müssen - darin bestand der intellektuelle Gewinn und die krisenhafte Herausforderung nach dem 11. Plenum [Magenau, 2002, S. 192].

Wolf brach mit „Nachdenken über Christa T." mit den damaligen literaturpolitischen Konventionen: Es gab keinen positiven Helden und keine nacherzählbare Handlung. „Inspiriert" wurde Wolf vom Nachlass aus Briefen und Tagebüchern ihrer Freundin Christa Tabbert, sie befasste sich mit dem Genre Tagebuch und verarbeitete dieses literarisch. „Nicht belehrt - unterrichtet wünscht man zu sein" [Magenau, 2002, S. 197]: Wolf begründet ihre Beschäftigung mit den Tagebüchern Tabberts (und ihren eigenen) mit dem „immer stärkeren Misstrauen gegen die romanhaften Erfindungen über das Innenleben unserer Mitmenschen" [Magenau, 2002, S. 197]. Mit Briefen, Tagebüchern und Biografien werde das Bedürfnis nach „Authentizität" gestillt [Magenau, 2002, S. 197]. „Christa T. trägt dabei keinerlei Vorbildfunktion. Sie verweigert die Anpassung an die sie umgebende Gesellschaft, stellt konsequent die Frage nach der eigenen Identität und geht letztlich daran zugrunde. Es ist der Anspruch auf Selbstverwirklichung, welcher sich hier manifestiert" [Flasar, 2003, S. 25].

Der Entstehungs- bzw. Publikationsprozess von „Nachdenken über Christa T." gibt einen Einblick in den Zensurapparat der DDR. In einem Brief Christa Wolfs an Herbert Wiesner anlässlich der Ausstellung „Zensur in der DDR" [Drescher, 1992, S. 25-28] 1991 schildert Wolf den Weg von der Fertigstellung des Manuskripts bis zur Veröffentlichung. Demnach lag im März 1967 das fertige Manuskript vor. Für das Druckgenehmigungsverfahren waren zwei Arbeitsgutachten notwendig, die im Juni dem Mitteldeutschen Verlag vorlagen. Das erste schlug wegen der möglichen „Gefahr einer ideologischen Desorientierung" Änderungen vor, das zweite warnte vor einer Veröffentlichung. Nach einem persönlichen Gespräch zwischen Wolf und dem Leiter des Fachgebiets Deutsche Gegenwartsliteratur, der Hinzufügung des 19. Kapitels und zwei befürwortenden Außengutachten ging das Buch in Druck. Zu diesem Zeitpunkt waren eine Auflage von 15.000 Exemplaren und der 31. März 1969 als Veröffentlichungsdatum geplant. Im Dezember 1968 wurde allerdings der Druck unterbrochen. Offenbar hatten „Personen aus dem Parteiapparat" Einwände. In Gremien wurde unter Ausschluss Wolfs über das Buch diskutiert. Unterdessen erschien im Mai 1969 eine wohlwollende Rezension über „Christa T." von Marcel Reich-Ranicki in der westdeutschen „Zeit", die den Ruhm Wolfs in der BRD begründete. In der DDR wurde die Besprechung zum Anlass genommen, Christa Wolf aufzufordern, ihre Kandidatur für den Vorstand des Schriftstellerverbandes zurückzuziehen, was sie jedoch verweigerte. Währenddessen erschien das Buch fristgemäß im Luchterhand Verlag, der Mitteldeutsche Verlag durfte schließlich im Mai 1969 die Bücher ausliefern. Eine zweite Auflage erschien 1972, wurde aber auf 1968 rückdatiert. Rezensionen in der DDR durften nur in den Literaturzeitschriften „Sinn und Form" und „Neue Deutsche Literatur" erscheinen. Gegen eine positive Beurteilung sprach laut Flasar die dominante Ich-Problematik, der Rückzug ins Private und Innerliche, die Abkehr vom schlichten Erzählen einer Fabel aus Sicht eines allwissenden Erzählers und das Unparteiische im Hinblick auf den Sozialismus [Flasar, 2003, S. 26].

Dem Buch voran stellte Wolf ein Zitat Johannes R. Bechers: „Was ist das: Dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?" Die Erzählerin, die Nachdenkende, freundet sich mit Christa T. gegen Ende des Zweiten Weltkrieges an, als diese neu in die Klasse hinzustößt. Von Anfang an ist klar, dass Christa T. die Erzählerin innerlich aufwühlt und

herausfordert, sich selbst zu hinterfragen. Den Verlust der Freundin beweint die Erzählerin wie „ein unwiederholbares, unerfülltes Versprechen" [Wolf, 2007, S. 23]. Nachdem Christa T. an Leukämie stirbt, bekommt die Erzählerin deren Briefe und Tagebücher in die Hände und beginnt, über das Leben Christa T.s nachzudenken. Barbara Dröscher nennt „fünf Schichten", die die Struktur des Buches bestimmen: In der ersten Schicht wird demnach die Lebensgeschichte rückblickend und „in Kenntnis des frühen Todes" Christa T.s erzählt. Das Verhältnis zwischen Christa T. und der Erzählerin sowie die Entwicklung dieser Beziehung bilden die zweite Schicht. Das Erzählte ist historisch in die Ereignisse der 50er und 60er Jahre eingebunden: Die dabei geäußerte Kritik am Stalinismus in der DDR ist laut Dröscher jedoch entschärft, „da sie rückblickend und im Glauben, in den sechziger Jahren sei dieser Zustand überwunden gewesen, geäußert wird" (dritte Schicht). In einer vierten Schicht reflektiert die Erzählerin über sich selbst, sie denkt über den Schreibakt nach und geht selbst den Weg des „Zu-sich-selber-Kommens". Die fünfte und letzte Schicht wird von „essayistische[n] Gedanken zur Problematik des Schreibens als Akt individueller Produktivität, in dem das Subjekt Selbstverwirklichung und Entfaltung einer intensiven, bewußten und moralischen Existenz erlangen soll", gebildet [Dröscher, 1993, S. 15]. Genauso wie bei „Franziska Linkerhand" fungierte das Schreiben als eine Art „Selbsttherapie bzw. als Versuch einer Bändigung von Trauer und Schmerz" [Flasar , 2003, S. 27]: „Dem Versuch, sich schreibend der Wirklichkeit zu nähern, schreibend Subjekt zu werden, hat Christa Wolf den Namen der subjektiven Authentizität gegeben. Nachdenken, Erinnern und Selbsterforschung sind dabei die vorrangigsten Parameter, denen es in der Prosa zu folgen gilt" [Flasar, 2003, S. 28]. Theoretisch fundiert hat Christa Wolf ihren Schreibansatz in ihrem Essay „Lesen und Schreiben" (1974). Bei Reimann löste der Aufsatz „zustimmende Bewunderung und tiefe Selbstzweifel aus" [McPher-son, 1997, S. 343-558], da Reimann mit ihrem Stoff („Franziska Linkerhand") rang, während Wolf zu einer bedeutenden Schriftstellerin reifte, analysiert Karin McPherson in ihrem Aufsatz über den Briefwechsel der beiden Autorinnen. Auch als Reimann Wolf aus „Nachdenken über Christa T." lesen hört, ist sie skeptisch: „[...] es ist wieder der Stil [...] Nur Deine Stimme war noch bekannt [...] Wenn es stimmt, daß sich Wesen und Haltung eines Menschen in seinem Stil widerspiegeln, dann muß sich ungeheuer viel in Deinem Wesen, Deiner Haltung geändert haben" [Drescher, 1993, S. 12]. Reimann brauchte laut McPherson zwei Jahre, um schließlich doch „Wolfs Stil und Thematik ihre überschwenglich geäußerte Zustimmung" [McPherson, 1997, S. 550] zu geben - vermutlich „aus der Erfahrung eigener erzähltechnischer Schwierigkeiten" [McPherson, 1997, S. 550]. McPherson führt weiters aus, bei Reimann hätte sich die neue Schreibpraxis erst entwickeln müssen: „Als Schriftstellerinnen bestärken die beiden Frauen einander in der Absicht, sich nicht länger von dogmatischen ästhetischen Prinzipien einengen zu lassen" [McPherson, 1997, S. 552]/ Diesem Vorhaben wurde Reimann mit ihrem letzten Roman, der unvollendet blieb, gerecht, wie im nächsten Kapitel aufgezeigt wird.

„Franziska Linkerhand"

„Franziska Linkerhand" ist Reimanns letzter und nicht vollendeter Roman, der erst 1998 unzensiert erscheinen konnte. Das Buch handelt von einer jungen Architektin gleichen Namens, die während einer persönlichen Krise auf ihr bisheriges Leben in Form eines Briefes an einen abwesenden Geliebten zurückblickt. Ihre Erinnerungen umfassen dabei die Zeit ihrer Kindheit bis zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes: Franziska Linkerhand wächst als eines von zwei Kindern in einer gutbürgerlichen Dresdner Verlegerfamilie auf. Die Erziehung bezeichnet sie rückblickend als „preußisch", auf gute Manieren und humanistische Bildung wird viel Wert gelegt. Bei Kriegsende ist Franziska acht, ihr Bruder Wilhelm 16. Zu ihm hat sie später ein inniges Verhältnis, obwohl beide in ihrer Jugend sehr unterschiedlich sozialisiert wurden: Wilhelm in der HJ, Franziska in der FDJ. Nach ihrem Schulabschluss lernt Franziska den Arbeiter Wolfgang Exß kennen, den sie gegen den Willen ihrer Eltern heiratet, auch, um ihre Herkunft „Sonstige" im neu errichteten „Arbeiter- und Bauernstaat" hinter sich zu lassen. Sie entschließt sich zu einem Architekturstudium in Dresden bei Professor Reger, der sie jedoch auch mit einer kräftigen Portion Idealismus und großen Ideen, wie eine Stadt auszusehen hat, ausstattet. Die Ehe mit Wolfgang füllt sie nicht aus, sie fühlt sich geistig unterfordert und lässt sich scheiden. Nachdem sie von der Familie Wolfgangs im wahrsten Sinne des Wortes enteignet wird, entschließt sie sich zu einem Neuanfang in Neustadt, wo eine riesige Wohnstadt für Arbeiter entstehen soll. Sie wird dem Stadtarchitekten Schaf-heutlin zugeteilt, mit dem sie schon bald in Streit über ihre Aufgaben und die Stadtansichten in Neustadt gerät. Schaf-heutlin will schnell und billig bauen, um möglichst vielen Menschen ein Dach über den Kopf zu geben. Franziska stören das Retortenhafte und der Typenbau, die dem Individuum keinerlei Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Sie kämpft außerdem für ein Stadtzentrum mit einem Theater, Kino und einem Veranstaltungszentrum - für mehr Entfaltungsmöglichkeiten der Stadtbewohner. Ihre ganze Energie steckt sie in den Entwurf eines Stadtzentrums, der bei einem Wettbewerb eingereicht werden soll. Als der Bau des Stadtzentrums abgesagt wird, bricht Franziska zusammen - auch, weil sich die Sekretärin Schafheutlins, Gertrud, das Leben nimmt, wofür Franziska u. a. der Architektur - und damit den Architekten, auch sich selbst - die Schuld gibt. Nach einem neuerlichen „Desaster" bei einer Baukonferenz in Berlin beschließt Franziska, Neustadt zu verlassen. Sie heuert auf einer anderen Baustelle als Arbeiterin an. Sie geht jedoch nicht allein, sondern mit dem Traktorfahrer Wolfgang Trojanowicz, früher politischer Häftling in Bautzen und davor Historiker an der Universität, den sie schon in Neustadt kennenlernt. Trojanowicz ist im Roman in zwei Personen aufgeteilt: zum einen Ben, den Franziska in ihrem Brief anspricht und der einer Wunschvorstellung eines Geliebten entspricht, und Trojanowicz, der mit dieser Wunschvorstellung ganz und gar nichts gemein hat, was Franziska schließlich veranlasst, ihn zu verlassen. Am Ende wird angedeutet, dass Franziska alleine wieder nach Neustadt zurückkehrt.

Reimann hat ihren Roman als eine Art Briefroman konzipiert. Er beginnt mit der Anrufung eines offenbar abwesenden Geliebten: „Ach Ben, Ben, wo bist du vor einem Jahr gewesen, wo vor drei Jahren?" Im Laufe des Romans wird immer klarer, dass Franziska nach dem Verlassen Neustadts ihr bisheriges Leben Revue passieren lässt, bevor sie sich

entschließt, wieder zurückzukehren. Dabei gehen Autorentext, Erinnerung und Kommentar der Hauptperson fließend ineinander über.

Helen Jones macht drei „narrative Stimmen" [Jones, 1998, S. 383-397] im Buch aus. Brosig spricht von verschiedenen Erzählinstanzen, die mit verschiedenen zeitlichen Ebenen in enger Verbindung stehen und „auf das zentrale Problem Identität" [Brosig, 2002, S. 83] verweisen würden. Demnach würde die Ich-Erzählerin am Ort der Flucht reflektieren und im Nachhinein ihr Handeln aus der Außenperspektive beurteilen, was einer Erzählerin autobiografischen Typs entsprechen würde. Weit zurückliegende Ereignisse würden absolut gewertet oder korrigiert, Urteile über aktuelle Ereignisse sind dabei kaum möglich. Weiters macht Brosig eine Erzählinstanz in der dritten Person aus, die das Geschehen auf der Handlungsebene wiedergibt. Jones sieht Linkerhand in zwei Personen aufgeilt, die in unterschiedlichen Zeitformen sprechen: Zum einen erzähle Linkerhand in der Vergangenheitsform ihre Lebenschronik, zum anderen gebe es eine zweite, eine besinnliche Franziska, die ein Buch schreibt und versucht, sich selbst zu analysieren. Die dritte Stimme spricht laut Jones in der dritten Person, wobei das die Autorin, die Erzählerin, aber auch Franziskas Kollegen und Freunde sein können. „Sprachlos bleiben oder in der dritten Person leben, das scheint zur Wahl zu stehen", schreibt Christa Wolf in „Kindheitsmuster", was sich laut Brosig auch auf „Franziska Linkerhand" übertragen lässt: Dessen erzählerisches „Dilemma" bestünde dann im grammatischen Wechselspiel zwischen der Sprecherin der ersten und den Erzählinstanzen in der dritten Person. Zusammen mit den wechselnden Zeitebenen und Figurenperspektiven wird so einer zersplitterten Identität Ausdruck verliehen, deren Brüche die Struktur des Textes abbildet [sic!] und die mit den Aussagen auf der inhaltlichen Ebene des Textes korrespondiert [sic!] [Brosig, 2002, S. 86]/ Franziska spielt mit ihren möglichen Identitäten, Brosig fühlt sich an Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein" erinnert, dem verschiedene Identitäten zur Probe bereitstünden. Dabei spiele die Erinnerungsarbeit eine große Rolle: „Der Erinnerungsdiskurs des Romans steht im Dienst der Rekonstruktion der Lebensgeschichte Franziskas, bei der die Authentizität des Erlebten eine wichtige Rolle spielt" [Brosig, 2002, S. 93]. Franziska stellt ihre Erinnerungen dabei jedoch permanent in Frage -„Vergangenes ausgraben, und Stück um Stück zusammensetzen - trotzdem ergibt sich nur ein schadhaftes, stellenweise unkenntliches Relief [Reimann, 2004, S. 313]. Der Wechsel zwischen den einzelnen Figurenperspektiven und Zeitebenen erfolgt stets abrupt, zuweilen mitten in einem Satz. Einzige Konstante: Jedes Kapitel öffnet mit der Ich-Erzählerin -allerdings nicht automatisch auf der Reflexionsebene, sondern auch auf der Handlungsebene zum Zeitpunkt der Reflexion. Auffällig im Schriftbild sind die vielen Auslassungspunkte und Gedankenstriche, die entweder den Übergang von Reflexions- zu Handlungszeit markieren oder Lücken und Nachdenkpausen im Brief anzeigen. Bereits in früheren Werken stechen Reimanns atmosphärische Schilderungen hervor. In „Franziska Linkerhand" sind es vorwiegend Hochsee-und Schifffahrtsmetaphern, die laut Withold Bonner [Bonner, 2005, S. 82-95] auf das Nomadentum und die Heimatlosigkeit Franziskas hinweisen: „In der Metaphernsprache des Romans werden der Protagonistin Häuser in stets wiederkehrenden Bildern zu Segelschiffen, die auf dem Meer in ihrem Element sind" [Bonner, 2005, S. 87].

Maria Brosig untersucht in ihrer Arbeit u. a. die Wirkungsgeschichte des Romanfragments hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Lesarten in der DDR, der BRD und im wiedervereinigten Deutschland anhand der erschienenen Rezensionen. Laut Brosig standen die in der DDR erschienen Kritiken „unter dem Eindruck des Todes" [Brosig, 2010, S. 21] von Brigitte Reimann. In Bezug auf Mängel übten sich laut Brosig die Rezensenten in Nachsicht: „Es [der frühe Tod Reimanns, Anm.] mildert nicht nur die Kritik gegenüber kompositorischen und stilistischen Mängeln, sondern überdeckt auch seinen gesellschaftlichen Gehalt." [Brosig, 2010, S. 22] Vor allem der fehlende Schluss habe viele Kritiker veranlasst, in den Roman eine positive Schlussperspektive hineinzulegen: „Die Rezensenten legen nahe, dass die Umkehr der Protagonistin logisch aus der Handlung hervorgehe und nur durch den Tod der Autorin verhindert worden sei" [Brosig, 2010, S. 23]. Hermann Henselmann, mit dem Reimann für Recherchen in Briefkontakt stand, erklärte einerseits die „,Unvollendung' für folgerichtig [...], weil sie die ,Unvollendung' der Geschichte widerspiegle" und Vollendung keine marxistische Kategorie sei. Andererseits versuchte Henselmann laut Brosig das Fragment zu vollenden, „wozu er sich als Kenner der geistigen Architektenphysiognomie [...] berechtigt fühlt" [Brosig, 2010, S. 24]. Brosig konstatiert, dass die Argumentationsmuster der Rezensenten auf den „Erwartungshorizont, den die Schriftstellerin bis Franziska Linkerhand erfüllt hatte", gründeten. Die zum „Autorenstatement erhobene Absichtserklärung" habe die Möglichkeit eröffnet, „an eine Leerstelle Ankunft zu setzen, wo das Manuskript mit der verzweifelten Beschwörung der Protagonistinnenrede abbrach" [Brosig, 2010, S. 20-27]. Die Kritik in Westdeutschland habe insgesamt mehr Distanz zum Romanfragment geübt, was laut Brosig aus der „Störung der Erwartungshorizontes gegenüber der Literatur aus der DDR" resultiert. Die BRD-Kritiker hätten die Herausgabe als ein „(kulturpolitisches Signal" bewertet. „Franziska Linkerhand" sei einerseits als Nachrichtenquelle „über das andere Deutschland rezipiert" worden, andererseits habe die Kritik den darin dargestellten gesellschaftlichen Problemen auch „systemübergreifende Relevanz" bescheinigt. „Daneben indizieren sie aber schon die beginnende Auflösung ihrer festen Merkmale und die Annäherung der beiden deutschen Literaturen." Ein Großteil der BRD-Rezensenten bescheinige der Hauptfigur, eine unpolitische Person zu sein, in dem Buch habe man es nicht mit ideologischen Konflikten zu tun [Brosig, 2010, S. 27-31]. Die ungekürzte Neuausgabe 1998 sei von jenen Rezensenten, die einst in der DDR lebten, mit „schwärmerischem Ton" aufgenommen und mit dem Schlagwort „Kultbuch" ausgestattet worden, was einen neuen Lektürehorizont eröffnet habe. Eine „kollektive, gemeinschaftsstiftende Wirkung" sei von den Rezensenten für sich reklamiert worden, was von einer „enge[n] Verbindung zwischen Leserbiographie und Roman" zeugen würde. Besonderes Augenmerk sei auf die Kürzungen gelegt worden, die für die Erstausgabe vorgenommen worden waren. Von Nachsicht und Verständnis sei ein Teil der Kritiken geprägt, der andere Teil sei mit Zuschreibungen wie „ein Lehrstück über die Zensur" und „eine ,auf ein sozialistisches Maß' zurechtgestutzte Heldin" charakterisiert. Der fehlende Schluss habe in den Rezen-

sionen wieder eine tragende Rolle gespielt, wobei laut Brosig nahezu alle Rezensenten den Schluss als ultimativen Romanschluss deuteten und damit die von der DDR-Kritik zugeschriebene Romanperspektive annullierten. Dabei würden viele Kritiker ihr Wissen über das Ende der DDR auf den Roman projizieren und dabei der Autorin unterstellen, die „Verhältnisse durchschaut und die Realitäten beim Namen genannt" zu haben. Zusammenfassend konstatiert Brosig, dass in allen literaturkritischen Feldern der offene Schluss eine besondere Rolle gespielt habe: Die DDRKritik habe sich dadurch herausgefordert gefühlt, das „gesellschaftskritische Konfliktpotenzial nach dem Ankunftsschema zu harmonisieren". In der BRD sei das „Ende" zwar diskutiert worden, aber ohne es „auf eine Linie" gebracht zu haben. Im wiedervereinigten Deutschland sei „Franziska Linkerhand" in erster Linie über die „Identifikationsangebote" gelesen worden und als die „Geschichte des Abschieds". Dem Roman sei überdies das Prädikat „haltbar" ausgestellt worden. Brosig kritisiert in dem Zusammenhang, dass „Franziska Linkerhand" in verschiedene Richtungen gelesen werden könne: „Bei selektiver Wahrnehmung seines Inhalts lässt er sich an sein jeweiliges Bezugssystem anpassen. Die in jedem Teilfeld vorrangig gesellschaftspolitische Lesart konnte dabei mit ganz unterschiedlichen Zitaten des Romans belegt und in die gewünschte Richtung gebracht werden" [Brosig, 2010, S. 37].

In Bezug auf die Bewertung „haltbar" wäre nicht nur die Wirkungsgeschichte im vereinten Deutschland von Interesse, sondern die außerhalb - beispielsweise in Österreich. Die Spurensuche in österreichischen Medien ist nicht ergiebig. Lediglich die „Presse" [Schübler, 1998, Beilage „Spectrum] widmete im November 1998 der Neuausgabe von „Franziska Linkerhand" einen längeren Beitrag in der Wochenend-Beilage „Spectrum". Im „Album", der WochenendBeilage des „Standard" [Grünzweig, 2000, Beilage „Album"], fand sich 2000 ein längerer Beitrag zu Stefan Heyms Roman „Die Architekten", am Ende wurde auf „Franziska Linkerhand" verwiesen. 2007 widmete der Radiosender Ö1 Brigitte Reimann einen Beitrag innerhalb der achtteiligen Sendereihe „Literarische Außenseiter" [Schmidt-Dengler, 2007, Radiobeitrag für Ö1], die vom österreichischen Literatur- und Sprachwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler gestaltet wurde. Drei Beiträge sind nicht besonders ergiebig, dennoch soll im Folgenden kurz dargestellt werden, worauf die österreichischen Medien in ihrer Darstellung Wert legen. Walter Schübler stellte in der „Presse" die Streichungen und den offenen Schluss des Romans in den Mittelpunkt des Interesses. Der Rezensent ging davon aus, dass Reimann „das Spiel der Kulturbürokratie" so weit mitgespielt habe, „daß sie sich weitgehend unbehelligt alle Optionen offenhalten konnte". Schübler meinte, offiziell hätte es ein „Ankunftsroman" werden sollen, was seiner Meinung nach aus den Arbeitsberichten des Parteisekretärs an den DSV hervorgeht. Auffällig ist an dieser Stelle, dass das Genre Ankunftsroman eine sehr negative Wertung erhält. Er sei eine „DDR-Abart des Entwicklungsromans". Die Rezension hält durchwegs Distanz zum Roman und bezeichnet „Franziska Linkerhand" als „Kultbuch einer ganzen Generation in der DDR Heranwachsender", wobei sich Schübler dabei auf den „Zeit"-Artikel von Christoph Dieckmann1 bezog. Weitaus mehr Gewicht in der Rezension haben die Streichungen, die in der Erstausgabe vorgenommen worden waren. Schübler zitierte aus Reimanns Tagebuch, wonach Reimann ein „böses Buch" schreiben wollte. Schübler zählte in seiner Rezension auf, was demnach alles „böse" war in der DDR und deshalb im Roman zensuriert werden musste. Der Lesart des österreichischen Publikums wurde damit eine eindeutige Richtung gegeben. Wendelin Schmidt-Denglers Ö1-Sendung über Brigitte Reimann schlug eine ganz andere Richtung ein und versuchte, eine etwas breiter angelegte Lesart zu finden. Das wurde bereits in der Aussendung zur Sendereihe klar: „[D]ie Unmöglichkeit jeglicher Hörigkeit"2 stand im Mittelpunkt des Interesses, was bereits die Richtung einer möglicherweise zeitlosen Lesart vorgab. Von Schmidt-Dengler besonders hervorgehoben wurde die Erzähltechnik: „Meisterhaft erweist sich Reimann damit schon zu Beginn als eine Erzählerin, die die Notwendigkeit des Erzählens demonstriert. Das heißt, es muss erzählt werden. Wie aber erzählen?" [Schmidt-Dengler, 2007, Ö1-Radiobeitrag]. Schmidt-Dengler hielt das Buch für ein wichtiges Buch, weil sich „die gesellschaftliche Problematik dieses Buches [.] in der Erzählstruktur ohne jegliches Pathos gespiegelt findet [.] Wer heute das Buch liest, der weiß, dass indirekt Brigitte Reimann natürlich sehr stark auch mit der Vergangenheit abrechnete, also nicht nur mit der faschistischen Vergangenheit, sondern sehr wohl auch mit dem, was in der DDR in den 50er Jahren in Folge des Stalinismus geschah." Bemerkenswert sind der Zeitpunkt und der Standpunkt, von dem aus Reimann mit der DDR und dem Nationalsozialismus abrechnet. Eine Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit fand innerhalb der DDR faktisch nicht statt, diese Verantwortung wurde der BRD als das „kapitalistische Pendant" zugeschoben. Reimann muss sich nicht rechtfertigen, wie es beispielsweise Christa Wolf nach dem Fall der Mauer wegen ihrer ehemaligen Stasi-Tätigkeit tun musste. „Ich kann mit dir leben, sagtest du, aber ich kann nicht mit dir und deiner Vorstellung von mir leben" [Reimann, 2007, S. 492], erinnert sich Franziska an die Worte Bens. Nach Ed Taverne [Taverne, 2005, S. 122-142] symbolisiert der fiktive Geliebte Ben Franziskas Wunschvorstellung einer Stadt, Trojanowicz als realer Geliebter die Neustadt. Die Handlungen und Gedanken Franziskas als Alter ego Reimanns verweisen auf die Autorin selbst, die sich mit blühenden Illusionen dem Abenteuer Sozialismus stellte, im Laufe ihres Lebens aber herausfinden musste, dass ihre Vorstellungen mit der Realität nicht übereinstimmten. „Franziska Linkerhand" könnte angesichts des bevorstehenden Krebstodes zur Zeit der Abfassung des Romans als Reimanns Abschiedsbrief gewertet werden.

Literaturhinweise

Primärliteratur

1. Reimann, Brigitte: Franziska Linkerhand. 7. Auflage. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2004.

2. Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T. Frankfurt: Suhrkamp, 2007.

Autobiografische Werke

1 Christoph Dieckmann schrieb 1996 in der „Zeit": „Wir verschlangen ,Franziska Linkerhand', weil man sonst auf DDR-Papier höchst selten lesen konnte, daß es im Lande Suff und Totschlag gab, Selbstmord und sonstwie parteifernes Verhalten. Wir applaudierten den Anti-Spießer-Klischees."

2 Ö1: „Literarische Außenseiter" von Christoph Martin Wieland bis Else Lasker-Schüler. OTS von Ö1 am 14.6.2007.

1. Reimann, Brigitte und Christa Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973. Hg. von Angela Drescher. Berlin: Aufbau Verlag, 1993.

2. Reimann, Brigitte: Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963. Hg. von Angela Drescher. Berlin: Aufbau Verlag, 1997.

3. Reimann, Brigitte: Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970. Hg. Von Angela Drescher. Berlin: Aufbau Verlag, 1998.

Sekundärliteratur

1. Bonner, Withold: Die Spur der Steine von einem Haus am Rande der Stadt zu Franziska Linkerhand. In: Bircken, Margrid und Heide Hampel (Hg.): Architektur und Literatur in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Beiträge zu einer wissenschaftlichen Konferenz in Neubrandenburg, 2003. Neubrandenburg: federchen Verlag, 2005. S. 82-95.

2. Brosig, Maria: „Immer schwebend zwischen Erinnerung, Erlebnis und Gespräch." Zu Form und Struktur des Romas „Franziska Linkerhand" von Brigitte Reimann. In: Bircken, Margrid und Heide Hampel (Hg.): Lesarten. „Franziska Linkerhand" Kultbuch einer Generation? Beiträge zu einer wissenschaftlichen Konferenz in Neubrandenburg 2001. Neubrandenburg: federchen Verlag, 2002. S. 78-102.

3. Brosig, Maria: „Es ist ein Experiment". Traditionsbildung in der DDR-Literatur anhand von Brigitte Reimanns Roman „Franziska Linkerhand". Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010.

4. Drescher, Angela (Hg.): Dokumentation zu Christa Wolf „Nachdenken über Christa T.". Hamburg: Luchterhand Literaturverlag, 1992.

5. Dröscher, Barbara: Subjektive Authentizität. Zur Poetik Christa Wolfs zwischen 1964 und 1975. Königshausen & Neumann: 1993.

6. Flasar, Milena Michiko: Soviel Vertrautheit mit dem Tod. Das Motiv des Todes in Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand". Diplomarbeit. Univ. Wien, 2003.

7. Grünzweig, Walter: Baumeister der Macht. In: Der Standard 2.9.2000, Beilage „Album"

8. Jones, Helen L.: Narrativ Structure an the Search for the Self in Brigitte Reimann's „Franziska Linkerhand". In: German Life and Letterst, 51, 3, 1998, S. 383-397.

9. McPherson, Karin: „Kann man sich auf irgendeinen Briefpartner verlassen?" Brigitte Reimann - Christa Wolf. Eine Freundschaft in Briefen. In: Zeitschrift für Germanistik 3/1997. S. 343-558.

10. Magenau, Jörg: Christa Wolf. Eine Biographie. 2. Auflag. Berlin: Kindler, 2002.

11. Ö1: „Literarische Außenseiter" von Christoph Martin Wieland bis Else Lasker-Schüler. OTS von Ö1 am 14.6.2007.

12. Schübler, Walter: Greif zur Feder, Kumpel! In: Die Presse 7.11.1998, Beilage „Spectrum".

13. Ohlerich, Gregor: Sozialistische Denkwelten. Modell eines literarischen Feldes der SBZ/DDR 1945 bis 1953. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2005.

14. Taverne, Ed: „Eine Stadt ohne Zäune": Neustadt/Hoyerswerda. In: Bircken, Margrid und Heide Hampel (Hg.): Architektur und Literatur in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Beiträge zu einer wissenschaftlichen Konferenz in Neubrandenburg, 2003. Neubrandenburg: federchen Verlag, 2005. S. 122-142.

Audioquelle

1. Schmidt-Dengler, Wendelin: Brigitte Reimann. In: Ö1: „Literarische Außenseiter" von Christoph Martin Wieland bis Else Lasker-Schüler. Sendung vom 29.7.2007.

© Moschinger L., 2013 УДК 811.512153:81'37

СЕМАНТИКА ЛЕКСЕМЫ «ЧОХ» ('НЕТ') В ВЫСКАЗЫВАНИЯХ, ЯВЛЯЮЩИХСЯ ВТОРОЙ РЕПЛИКОЙ ДИАЛОГИЧЕСКОГО ЕДИНСТВА В ХАКАССКОМ ЯЗЫКЕ

Л. И. Чебодаева

Хакасский государственный университет им. Н. Ф. Катанова

Статья посвящена семантическому описанию лексемы ЧОХ ('нет') в высказываниях, являющихся второй репликой диалогического единства в хакасском языке. Внутри этой позиции выделяются четыре вида данной лексемы: ЧОХ в утверждениях, являющихся реакциями на утверждения; ЧОХ в вопросительных реакциях на утверждения; ЧОХ в ответах на вопросы; ЧОХ в реакциях на побуждения.

Ключевые слова: семантика, лексема, реплика, реплика-стимул, реплика-реакция, диалогическое единство, утверждение, отрицательная частица, функция.

В современном хакасском языке лексема ЧОХ 'нет' является словом с очень сложным для трактовки значением. В Грамматике хакасского языка она рассматривается как отрицательная частица, соответствующая русскому 'нет', 'не', 'без' [1, с. 251] и как слово-предложение, используемое для отрицания содержания предшествующего высказывания [1, с. 327]. В. Г. Карпов слово ЧОХ рассматривает как лексическое средство выражения отрицания в хакасском языке [2, с. 65-74]. В Хакасско-русском словаре у лексемы ЧОХ выделяются следующие значения: 1) бедный, неимущий, полный лишений; 2) нет, отсутствует, не имеется; 3) частица нет [3, с. 992].

В данной работе предпринята попытка показать семантику лексемы ЧОХ в высказываниях, являющихся второй репликой диалогического единства в хакасском языке.

При описании значения слова ЧОХ мы исходили из того, что о значении слова нельзя говорить без учёта его взаимодействия с контекстом. Мы рассматривали особенности использования ЧОХ в изолированной позиции, где ЧОХ на письме оформляется как отдельное предложение или отделяется запятыми (- Ол сарнапча? - Чох. '- Он поёт? - Нет').

Контексты с лексемой ЧОХ в высказываниях, являющихся второй репликой диалогического единства, мы разбили на следующие четыре группы:

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