HORIZON 4 (2) 2015 : I. Research : K. Novotny : 139-153
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ETUDES PHENOMENOLOGIQUES
SELBST UND LEIB. AUSEINANDERSETZUNGEN
MIT DEM DEUTSCHEN IDEALISMUS BEI HUSSERL UND LEVINAS*
KAREL NOVOTNY
PhD, Associate Professor, Academy of Sciences of the Czech Republic, Institute of Philosophy, 11000 Prague Czech Republic. E-mail: [email protected]
SELF AND BODY. HUSSERL'S AND LEVINAS' DEBATES WITH THE GERMAN IDEALISM
The article follows some lines of thought in Husserl and Levinas, their texts namely in which the close relation between the self and body should be grasped as one of the topics where the idealistic approach to subjectivity is abandoned. Already in Husserl one can find reflections on the significant affective-bodily dimension of the transcendental subjectivity itself which is one of the ways he overcomes the classical dualistic modern philosophical tradition. Levinas went even further in his critical debate with this classical thinking and — in certain continuity with Husserl — gave a new account of the affective-bodily constitution of the singularity of human subjectivity. In both cases the singularisa-tion of the self pass through an intersubjective constitution of the own body that is an event for Levinas that precedes an egoic consciousness. But in both cases there is a problem that the theories cannot solve: the body as mine has to be presupposed. There is a certain self-preceding of the lived body that seems to function as a basis for the self-awareness in the lived experiences, a factical basis that not only relativizes an idealistic point of departure in a pure I but also destabilize any attempt to build a system upon the phenomenological accounts of the relation between the body and the self. The transcenden-tal-phenomenological reductions, the genetic ones in Husserl, and the ethical ones in Levinas, lead to more (Levinas) or less (Husserl) radical divergences with the projects of totalizing systems in the style of the German idealism.
Key words: Subjectivity, self, corporeal / Leib, body / Körper, affectivity, sensuousness, singularity.
* Dieser Text ist im Rahmen des Grantprojektes «Life and Environment. Phenomenological Relations between Subjectivity and Natural World» (GAP 15-10832S) entstanden.
© Karel Novotny, 2015
САМОСТЬ И ТЕЛО. СПОР ГУССЕРЛЯ И ЛЕВИНАСА С НЕМЕЦКИМ ИДЕАЛИЗМОМ
КАРЕЛ НОВОТНЫ
Доктор философии, профессор Института философии Академии наук Чешской республики,
11000 Прага, Чехия.
E-mail: [email protected]
В статье исследуются те направления мысли и тексты Гуссерля и Левинаса, в которых тесная взаимосвязь между самостью и телом схватывается в качестве одной из форм преодоления идеалистического понимания субъективности. Уже у Гуссерля мы можем найти размышления о существенном аффективно-телесном измерении трансцендентальной субъективности самости, благодаря чему он преодолевает классическую дуалистическую новоевропейскую философскую традицию. Левинас пошёл ещё дальше в своём критическом переосмыслении классического мышления — в определённом смысле последовательно продолжая Гуссерля — и внёс свой новый вклад в осмысление аффективно-телесной конституции сингулярности человеческой субъективности. В обоих случаях сингуляризация самости осуществляется через интерсубъективную конституцию собственного тела, которая, по Левинасу, является событием, предшествующим эгоистическому сознанию. Но в обоих случаях есть проблема, которая не находит решения в их теориях: тело должно быть предположено как моё собственное. Это известного рода само-предшествование живого тела, которое, по-видимому, функционирует как базис для само-осознания в живом опыте, и которое является фактическим основанием, т. е. не всего лишь релятивизированным идеалистическим пунктом отправления в чистое Я, но тем, что одновременно дестабилизирует любую попытку построить систему отношений между телом и самостью на феноменологических основаниях. Трансцендентально-феноменологическая редукция — генетическая в случае с Гуссерлем и этическая в случае с Левинасом — привносит слишком много (Левинас) или мало (Гуссерль) радикальных расхождений с проектом тотальной системы в стиле немецкого идеализма.
Ключевые слова: субъективность, Я, телесность / Leib, тело / Körper, аффективность, чувственность, сингулярность.
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In diesem Beitrag wird die Klassische Deutsche Philosophie durch das Prisma der Kantischen Behandlung des reinen Ich betrachtet, und zwar so wie Edmund Husserl diese in seine eigene Philosophie, zumindest zum Teil und jeweils dem Kontext entsprechend, übernommen hat. Es geht mir dabei aber nicht um die Deutung des Kantischen Ansatzes an sich noch um seine Deutung bei Husserl, sondern darum zu fragen, wie die Phänomenologie das Verhältnis zwischen Selbst und Leib auffasst, nachdem bei Husserl schon die Stelle des «eidetisch aufweisbaren Strukturelementes, das jeder einzelne Bewusstseinsakt» als leeren Ichpol hat, nur auf eine Dimension der transzendentalen Subjektivität zu beziehen ist, die als ein Feld bzw. Strömen von leiblich, bzw. affektiv bestimmten Erlebnissen aufgefasst werden muss, das «von sich aus noch keine Einheit
hat» (Lohmar, 2009, 168). Dies entspricht der durch die nach-klassische Phänomenologie inspirierten Frage, wie der Leib zu einer solchen Einheit, etwa zur Konstitution eines Selbst, beitzutragen vermag.
Um die Richtung der klassischen Fragestellung nach den Verhältnissen zwischen Subjektivität und Leiblichkeit, in der Begriffe wie Körper, Leib und Affektivität (Fleisch) die erste Differenzierung und Richtung hin zur Subjektivität markieren, anzudeuten, kann man bei Husserl vom Verhältnis zwischen dem körperlichen Leib als Objekt, als objektive noematische Einheit und dem sinnlichen Erleben als ihrem noeti-schen Korrelat, ausgehen, um danach zu suchen, wie in dem, was dieser Korrelation im Erleben vorhergeht, die Subjektivität und die Leiblichkeit aufeinander bezogen sind und das Selbst sich im Verhältnis zum Leib konstituiert. Das hieße in diesem Kontext also, dass man mit Husserl, und nach ihm dann bei Henry und Levinas etwa, den Schritt zu dem zu gehen versuchte, was diesseits der Korrelation zwischen dem an meinem LeibKörper Sichtbaren, Tastbaren, bzw. Riechbaren und den sinnlichen Erlebnissen mit ihren immanenten, aber auf diese Eigenschaften des Leib-Körpers bezogenen Inhalten ausgemacht werden kann, um zuzusehen, was die Subjektivität als ein sinnliches Erlebnis vom Selbst bestimmt, von dem allein ja auch die Jemeinigkeit meines Leib-Körpers spürbar sein kann. Und in dieser Fragerichtung sollen einerseits Alternativen zum Kantischen Ansatz am reinen Ich als Einheits- oder sogar Seinsprinzip für einen bestimmten transzendentalen Idealismus, andererseits aber auch phänomenologische Radikalisierungen des transzendentalen Gedankens selbst angedeutet werden, der systematisch einen Kern des Idealismus bildete, darin aber nicht unbedingt münden muss.
1. Husserl
Die Frage, die mich hier interessiert, scheint bereits ansatzweise im Projekt der Ideen zur reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie formuliert worden zu sein, in dem sowohl das «reine Ich» als auch der Befund, dass der Leib «nicht nur bei allem Wahrnehmen und Erfahren», sondern «auch bei allen anderen Bewusstseinsfunktionen» «dabei» ist (Husserl, 1952, 152), eine wichtige Rolle spielt. Die Frage nach dem Verhältnis von Ich und Leib kann in diesem Kontext folgendermaßen gestellt werden: Was bedeutet das fungierende «ich tue» in mir in Bezug auf mein «ich bewege» und «ich fühle», durch welche die Leiblichkeit wirkt, vor allem im Falle der passiven, unwillkürlichen Bewegungen etwa oder der unmittelbaren Lust am Vollzug der Akte, bzw. des Tuns, sei es willkürlich oder nicht, aktiv oder passiv? Inwiefern sind solche Bewegungen subjektiv, sofern ich sie vollziehe? Dieses Problem wird durch folgende Formulierungen zum Ausdruck gebracht: Erstens finden wir die These, wonach «alles in das "ich tue" Wandelbare ursprünglich subjektiv ist», an, wobei aber dieses Tun sowohl willkürlich,
sozusagen durch die Akte des Ich veranlasst ist, als auch unwillkürlich sein kann. Welches Tun und welches Ich sind hierin ursprünglich subjektiv?
Einen Gedanken würde ich bei Husserl als einen klassischen bezeichnen, der sich durch folgende Zitate belegen lässt: «der Leib ist in einem ausgezeichneten Sinne "subjektiv" <...> von Gnaden der ursprünglichen Ichlichkeiten». Die Subjektivität des Leibes kommt «von des Ich (bzw. von der ichlichen originären Anschauung) Gnaden»: «[S]o ist auch dieser Leib mein Leib, und zwar auch in dem fühlbaren besonderen Sinne mein, weil ich schon bin und ihm die besonderen Tugenden gewissermaßen verleihe» (Husserl, 1952, 213).
Das Fundament der Subjektivität ist laut der erwähnten Bestimmung in dem zu situieren, was in ein «ich tue» verwandelt werden kann:
Immer haben wir da das «von etwas leiden», passiv durch etwas bestimmt sein, und aktiv darauf reagieren, zu einem Tun übergehen, und dieses Tun hat ein Ziel. Hierher gehört alles Machen, Umgestalten physischer Objekte, aber auch jedes «ich bewege» (meine Hand, meinen Fuß etc.) und ebenso «ich stoße», ich schiebe, ich ziehe, ich leiste Widerstand einem Ding usw. (Husserl, 1952, 217).
Das Fundament der Subjektivität scheint also nach diesen Ausführungen das «Ich» der Akte, die «ich tue», zu sein. Die Meinigkeit, die Subjektivität des Leibes und ihrer sinnlichen Gegebenheitsweisen wäre dann in der unvermittelten Selbstgegebenheit des Ich, das daher als ein reines Ich zu bezeichnen wäre, in der Erlebtheit des Erlebens der Akte gegründet, abgesehen von ihrer Bedingtheit und Vermittlung durch ihre Inhalte. Es gibt auch unwillkürliche Bewegungen, ein Tun etwa, das kein Ziel hat, und auch wenn es also unabsichtlich vollzogen wird, hat es dennoch insofern einen Subjektivitätscharakter, als es als meine Bewegung doch unmittelbar erlebt wird.
Was Husserl aber von den gerade zitierten Stellen der Ideen II ausgehend schon damals befragt hat, ist ein leiblicher Vollzugscharakter des «Ich tue», dem dann im Nachlass, vor allem im Kontext der genetischen Rückfragen, zahlreiche Reflexionen gewidmet sind, die allerdings in unterschiedlichen Kontexten stehen. Um an konkrete Überlegungen Husserls anzuknüpfen, wende ich mich hier einigen wenigen Textpassagen zu, und zwar zunächst aus einem Manuskript aus dem Jahre 1931, das im Text Nr. 18 im Band XV der Husserliana zur Intersubjektivität veröffentlicht wurde:
Mein Leib immerfort, aber sehr verschieden erfahren. Zunächst körperlich: 1) (in einigem) erscheinungsmäßig unmittelbar konstituiert wie ein anderes Ding durch Selbstbetastung, durch Sehen, visuelle Perspektivierung, obschon beschränkt, 2) indirekt von der ichlichen Seite her, durch Berührung, durch Kinästhesen, die für anderer Dinge Wahrnehmung fungieren, appräsentierend die Vermöglichkeiten der erscheinungsmäßigen Selbsterfahrung, 3) der Leib aber dabei als Stätte der Ichsubjektivität erfahren, in ihm in verschiedener Weise lokalisiert Ich, Ich-walten,
Kinästhesen und kinästhetisch verlaufende Erscheinungen etc. Alles Subjektive auf ihn bezogen, in ihm zentriert — das Menschen-Ich (Husserl, 1973b, 315-316).
Der letzte, dritte Punkt bezgl. des Ansatzes beim Menschen-Ich ist sehr wichtig. Alles Subjektive ist auf den Leib bezogen, in ihm zentriert; er wird auf der Ebene des konstituerten Menschen-Ich, «als Stätte der Ichsubjektivität erfahren». Wir befinden uns im Rahmen einer genetisch-phänomenologischen Betrachtung, die vom konstituierten Menschen-Ich, also von der Verkörperung der Subjektivität ausgeht, und für welche die Leiblichkeit der Subjektivität unhintergehbar ist, so wie es die folgende Stelle zum Ausdruck bringt:
Die raumkörperliche Erfahrung vom Leib, mit ihren Mannigfaltigkeiten von Erscheinungsverläufen und Kinästhesen, ist wie alle solche Erfahrung wieder zurückbezogen auf den Leib als fungierenden, so dass die Wahrnehmung vom Leiblichen und vom ganzen Leib schon den Leib, also psychophysische Erfahrung voraussetzt (Husserl, 1973b, 326).
Der Leib wird nun aber nicht nur als «Stätte der Subjektivität» erfahren, sondern damit wir Leib-Körperliches und auch den eigenen Leib überhaupt erfahren können, muss er, der eigene Leib, als «psychophysische Erfahrung» immer schon fungieren. Wird damit das reine oder minimale Ich, die unmittelbare Selbstgegebenheit des Erlebens, in der fungierenden Leiblichkeit aufgelöst? Nein, so einfach ist es nicht. Es folgt auch aus dieser, genetischen Perspektive und Einsicht nicht, dass das Ich mit dem fungierenden Leib eins wäre. Solange wir auf dem Niveau der konstituierten Menschen-Ich-Subjektivität stehen, bleibt es bei einer Dualität zwischen meinem Leib und Ich, trotz ihrer stets betonten Einheit.
Davon zeugen viele Stellen. Ich erwähne zunächst nur zwei Texte zur Leiblichkeit aus dem Lebenswelt-Band XXXIX der Husserliana. Im Text Nr. 54 lesen wir:
Frage ich, was dieses Fungieren besagt, also wie ich merke, was das Spezifische der Leiblichkeit als solcher ist, und zwar der Leiblichkeit als sich mir selbstdarstellender, so sehe ich, dass ich in der Tat auf ein neuartiges «Subjektives» komme, das die Selbstdarstellungen wahrer Körperlichkeiten und auch derjenigen meiner eigenen Körperlichkeit überschreitet. Das Fungieren des Leibes, und was hier in Frage ist, sein Fungieren als Organ aller körperlichen Wahrnehmung, ist mein fungierendes Tätigsein und Affiziertwerden (Husserl, 2008, 632).
Einerseits ist also das Fungieren des Leibes mein fungierendes Tätigsein und Affi-ziertwerden, andererseits geht das Ich dabei nicht auf dieses leiblich-fungierende «Ich tue» zurück, wie es die Fortsetzung dieser Stelle klar herausstellt:
Sondern «ich» bin als etwas Unterschiedenes von jedem Körper und auch von diesem Körper (meinem Leib) gegeben, aber als eins mit diesem Körper, als mit dem bleibenden selbigen Körper bleibend einiges Ich. Aber in besonderer Weise bin ich, wenn dieser Leib als wahrnehmend fungierender gegeben ist — und er ist, wo immer ich irgendeinen Körper rein als erfahrenen gegeben habe, notwendig mit dabei als für ihn wahrnehmend fungierender —, Ich dieses Leibes, ich selbst, der «in» ihm wahrnehmend Fungierende (Husserl, 2008, 632).
Die Distanz zwischen meinem fungierenden Leib und dem Ich vermindert sich progressiv, je weiter in anderen Kontexten genetisch vom konstituierten Ich-Menschen zu tieferen Schichten des Erlebens zurückgeschritten wird. Besonders gilt es dort, wo die genetisch rückfragende Analyse zur zutiefst liegenden instinktiven Triebintentionalität vordringt, wie etwa an einer gleich zu zitierenden Stelle aus demselben Husserliana-Band zur Lebenswelt. «Die Kinästhese als Urform des Aktus» — mit diesen Worten ist eine Reflexion eingeführt, die auf ein zunächst zielloses Tun, also auf ein unwillkürliches «ich bewege» als Ursprung oder Grundlage für das eigentliche Tun des Ich hinweist:
Die Kinästhese als Urform des Aktus — eine Materie als Reiz, Reiz zum Aktus, zur Kinästhese, auf die Reizmaterie gerichtet, aber zunächst ist noch kein Aktionsziel entwickelt und kein handelndes Hinstreben auf das Ziel (kein Wille im eigentlichen Sinne). Die Kinästhese verläuft, obschon ichlich so noch nicht auf ein vorgestelltes «Ende» und noch nicht in der Form der Erzielung bzw. des Verfehlens <.. > Der Reiz «setzt mich in Bewegung», ich lebe mich aus im strömenden Wandel des Ichbewege <.. .> Der Reiz motiviert mich — als Tuenden. Genauer: Der Reiz motiviert als «sinnlicher» Reiz mich als kinästhetisch Tuenden, setzt mich kinästhetisch in Bewegung. «Ursprünglich instinktiv» hat jede nun eintretende Wandlung der Reizmaterie, an die ich gebunden bleibe im Hinmerken, den Charakter des «durch mich gewandelt», des «durch mein Tun, mein Ich-bewege bewegt». Ich bin darauf gerichtet bewegend. Zu jedem Ich-tue gehört das Hinmerken auf die Einheit, womit ich es zu tun habe. Aber Hinmerken ist nicht Eines und das Tun ein Zweites, Hinzutretendes, sondern: Ich bin konkret Tuender, bewegend, etwas bewegend; das Ich in Bewegung ist nicht bewegtes Etwas, sondern in Bewegung auf das und jenes. (Husserl, 2008, 433 f.)
Auf diesem Niveau der Analyse scheint das Ich nichts anderes zu sein als mein leiblich fungierendes Ich mit dem «Charakter des "durch mich gewandelt", des "durch mein Tun, mein Ich-bewege bewegt"» (Husserl, 2008, 434). Das Ich scheint der bewegt bewegende Leib zu sein. Nur so kann ein Reiz mich als einen Tuenden motivieren, der Leib, nicht das Ich des Bewusstseins, bewegt sich und richtet somit meine Bewegung auf ein Ziel, und zwar so, dass dies zunächst ohne ein Aktionsziel oder ein handelndes Hinstreben darauf und in dem Sinne passiv, vor-ichlich, unwillkürlich geschieht. Und man kann von diesem Geschehen aus mit Husserl noch tiefer gehen, so wie davon ja
genügend andere späte Reflexionen Husserls, etwa zur lebendigen Gegenwart, zeugen. Dies gilt z. B. für die folgende Stelle aus einem bereits zitierten Manuskript, das im dritten Band zur Intersubjektivität publiziert wurde:
In der Ursphäre der lebendig perzeptiven Gegenwart: Hier ist das an sich Frühere das Vermissen, das Bewusstsein einer Ungenüge und das Begehren. Soll ich nun sagen: Instinktiv geht lebhaftes Begehren oder Begehren sich steigernd in ein erstes «Wollen» über, es bleibt nicht bei der Passivität des Strebens, es wird «aktives Streben» = Wollen daraus (obschon eines und das andere «Akt» ist)? Soll ich sagen, dieses ursprüngliche Wollen hat die Form einer sich entladenden Totalkinästhese, sich entladend in den Kinästhesen, die noch unbeherrscht, also in ihren Partialkinästhesen ungeschieden durcheinandergehen, wobei sich Felddaten abwandeln und gelegentlich, auch mehrfach das Vermisste «näher» kommt oder wiederkommt? (Husserl, 1973b, 329)
Zahlreiche Forschungen folgen Husserl und helfen uns in diesen genetischen Rückfragen, den klassischen Ansatz der Phänomenologie am reinen Ich grundsätzlich zu revidieren. Paradigmatisch gehört dazu die Intersubjektivitätsproblematik bei Husserl. Wir können bei ihm zwar andere Linien verfolgen und z. B. in eine der angedeuteten Richtungen immer tiefer in das eindringen, was er selbst einmal als «das unterichliche Leibesleben, das als subjektives Leben in strömenden Erlebnissen fortläuft ohne aktive Beteiligung des Ich, das es doch immer voraussetzt» (Husserl, 1973 a, 89), charakterisiert hat. So werden wir dabei mit Husserl auf Erlebnisströme stoßen, in denen «stets <.. > zum ichlichen Fungieren die ichliche Kinästhese» gehört, die auf «einer sich entladenden Totalkinästhese» des Begehrens beruht. Es ist aber zu bedenken, dass man auf diesem Weg zur Trieb- und Instinktintentionalität als dem Ursprung der Einheit der Subjektivität und der Leiblichkeit nicht das Selbst aufklären kann, insofern jenes Begehren und die dahinter wirkenden Triebe und Instinkte nicht ursprünglich meine sind, obwohl sie sicherlich leibliche und nicht bloß äußerlich körperliche sind.
Es gibt auf diesem Niveau des vorichlichen subjektiven Lebens, zu dem die rückfragende Analyse vordringen kann, noch kein Leib und kein Selbst als konstituierte Einheiten. Also muss zwischen dem konstituierten Ich-Mensch, von dem wir ausgegangen sind, wo der Leib ausdrücklich schon als fungierend vorausgesetzt wird, und dem Strömen der noch blinden Bewegung des hyletisch-kinästhetischen Lebens, des instinktiv-triebhaften Begehrens, etwas oder gar vieles passiert sein, bevor sich ein leibliches Selbst bzw. ein subjektiv erlebter Leib als Einheit konstituiert haben kann. Das kann in der Tat erst aufgrund der gleichzeitigen Konstitution des eigenen Körpers geschehen, was wiederum den Bezug auf andere Menschen, lebendige Leib-Körper impliziert. Hus-serl hat sich wiederholt dazu geäußert, dass mein Körper für mich nur durch den Bezug auf den Leib-Körper des anderen Menschen konstituiert wird. Und ohne diesen meinen Körper zu haben, wird auch der Leib nicht als eine Einheit erlebt, der erlebte Leib, der
ursprünglich meiner ist, und als fungierender allen meinen Erfahrungen und Erlebnissen zugrundeliegt. Genauso klar hat Husserl jedoch eingesehen, dass auch in diesem Bezug auf den anderen Menschen bereits mein Leib fungiert, also vorausgesetzt wird. Dieses Paradox ist es, dem sich Levinas vom Anfang seines Denkens bis hin zu seinen letzten Schriften gestellt hat.
Ich möchte von der kritischen Darstellung der Problematik der Leib-Körper-Differenz bei Husserl ausgehen, so wie Didier Franck sie in seinem Buch Leib und Körper geliefert hat: «Indem er immer und wesentlich alles original Gegebene begleitet, ist der Leib, in der Sphäre des Eigenen, das, was am Eigensten ist, das am meisten Meine» (Franck, 1981, 95). An Belegen zu dieser These mangelt es nicht, im Text Nr. 3 der Husserliana XIV wird z. B. eine ganze Reihe von Bestimmungen aufgezählt, die in diese Richtung gehen:
Unter allen räumlichen Dingen meiner universalen praktischen Sphäre ist «mein» Leib das ursprünglichst Meine, das ursprünglich mir Eigene, beständig in meiner Verfügung und das Ursprünglichste und das einzig Unmittelbare, das mir zur Verfügung steht (Husserl, 1973b, 58).
Mein Leib ist mir unter allen Dingen das Nächste, das Nächste der Wahrnehmung, das Nächste meinem Gefühl und Willen (Husserl, 1973b, 58).
Das ist, wenn man noch einmal die Reduktion auf die primordiale Sphäre nach-zuvollziehen versucht, überhaupt nicht selbstverständlich. Und hier folge ich den ausgezeichneten Hinweisen von D. Franck, die den folgenden wichtigen Punkt enthüllen: «Mein Leib, als Organ jeder Wahrnehmung, als ihr Millieu und Mittel, ist der eigenen Welt ko-extensiv, und ohne die Verkörperung des Leibes ist es wohl schwierig den Sinn des Außerleiblichen zu verstehen». Und er betont diese «unmögliche Verkörperung» im eigentlich subjektiven Bereich des Eigenen, also vom Bezug auf andere Subjekte abstrahierend, einerseits, um andererseits daran zu erinnern, dass die Verkörperung des Leibes zugleich die Voraussetzung für jede Einfühlung ist, in der sich der ursprüngliche Bezug der Subjekte zueinander realisiert. Worauf die Abstraktion in Bezug auf den Leib ohne Körper hinausläuft, zeigt eine von Franck zitierte Stelle, an deren Rand Husserl selbst später ein Fragezeichen hinzugefügt hat:
Ist unter Abblendung von Anderen überhaupt denkbar, dass sich im vollen Sinn Raum als Form der Körperlichkeit konstituiert, und zwar so, dass mein Leib die Eigenschaften der Körperlichkeit hat, dieselben wie die Außenkörper? Ist nicht, was ohne schon fungierende Einfühlung konstituiert ist, also die Schichte der primordialen Leistung, von einer eigentümlichen Art? Scheidung von Leib und Außenkörpern, und der Leib selbst in seiner Weise beweglich nach Drehung, nach Gliederbewegung, die nur relativ Raumbewegung ist an dem unbeweglichen Leib. Die «Unbeweglichkeit» ist aber nicht
wie bei Außenkörpern eine «Ruhe», die in Bewegung als Ortsveränderung übergehen kann. <...> Mein Leibkörper in der Primordialität ist so konstituiert (und hat danach ausschliesslich Sinn), dass für ihn Ortsveränderung, also auch Ort im Raum keinen Sinn hat (Husserl, 1973b, 659).
Dieser Stelle zufolge hätte also der Leib, der unter Abblendung der Anderen kein konstituierter Körper ist, weder eine Beweglichkeit noch einen Ort im Raum, weil auch der Raum unter Abblendung der Anderen anders aussieht als der objektiv-weltliche Raum, in dem die konstituierten Körper einen bestimmten Ort einnehmen und in bestimmten Weisen und Richtungen bewegt werden können. Ich werde nun im zweiten Teil zu zeigen versuchen, dass und wie Emmanuel Levinas auf seine Weise auf diese unmögliche und trotzdem gegebene Verkörperung des Leibes im primordial Subjektiven zu sprechen kommt.
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Bei Husserl ist zugleich schon eine Überwindung des Idealismus (eines geistigen Prinzips der Einheit) angelegt, die jedoch nicht eine psychophysische Dualität zugunsten des Geistes auflöst. Die transzendentale Subjektivität ist leiblich, der klassische Ansatz des bestimmten Idealismus ist überwunden, nicht aber die Dualität selbst im unendlichen Geist oder in der unendlichen Vernunft aufgelöst. Daher kann auch bei Husserl das Teleologische der Geschichte zum selbstaufgesetzten Ziel für die transzendentale Subjektivität und dann eben eine solche geistige Einheit werden, was sicherlich ein Erbe des Idealismus bei Husserl bleibt, mit dem wir aber nicht einverstanden sein müssen und können. Was wir eher schätzen bezgl. des idealistischen Erbes bei Husserl, ist seine radikale Durchführung der transzendentalen Reflexion, die vor der genetischen Rückfrage auf die leiblich-körperliche Faktizität nicht zurückscheut und sie in die transzendentale Reflexion aufnimmt, anstatt der Naturalisierung des Bewusstseins das Wort zu reden. Da scheint mir eine fruchtbare und schöpferische Kontinuität zwischen dem Idealismus und der Phänomenologie gegeben, nämlich eine solche zwischen dem transzendatalen Gedanken und der transzendentalen Phänomenologie. An eine subversive Version dieses Erbes der transzendentalen Reflexion knüpft auch Levinas an, indem er eine radikalisier-te phänomenologische Reduktion auf die Subjektivität ansetzt. Das versuche ich nun im zweiten Teil meines Vortrags aufzuzeigen.
2. Levinas
Laszlo Tengelyi hat in seinem Buch Experience de la singularite eine kritische Frage an Emmanuel Levinas gerichtet, nämlich «ob die ursprünglich passive Affektivität wirklich fähig ist, die Selbstheit zu fundieren» (Tengelyi, 2014, 174). Von dieser Frage
möchte ich ausgehen, um den Ansatz von Levinas bezgl. des Problems des Verhältnisses vom Selbst zum Leib zu skizzieren.
Das anonyme und sinnlose Gemurmel des Seins, le bruissement anonyme et insense de l'etre, ist im Entsetzen und im Schrecken anwesend, welche beide «entpersonalisierend» wirken und zur Auflösung der Selbstheit führen. Darauf weist die Kritik bei Ten-gelyi hin und dem stimme ich auch zu. Wie ist jedoch dieser Verlust der Subjektivität bei Levinas eingeführt? Er ist bereits im Frühwerk Vom Sein zum Seienden als eine Grenze der Subjektivität angelegt, die mit ihrer Bedingtheit zusammenhängt. Es musste bereits hier ein Bewusstsein und seine Subjektivität dank der Materialität des Körpers gesetzt werden, damit es zu einer solchen «Entsubjektivierung» kommen konnte, in der «sogar das, was man das Ich nennt, <...> von der Nacht überflutet, überfallen, entpersönlicht, von ihr erstickt» ist (Levinas, 1997, 70).
Hierin, in dieser Position des materiellen oder faktischen Körpers, bestünde eine andere Art und Weise, das klassische philosophische Verhältnis umzukehren, in dem das Erleben letztlich vom reinen Geist, bzw. dem reinem Ego cogito getragen wird. So wie bei Husserl der Leib-Körper immer schon impliziert ist, so steht — in einer anderen Philosophie, also hier beim frühen Levinas — der Körper als faktische Bedingung da, ohne die kein Leib und keine Affektivität fungieren kann, und zwar nicht kausal, sondern vom Innen aus und erlebnissmäßig.
Die Affektivität, der Schrecken des Fleisches trägt in sich selbst dieses Verhältnis zum «es gibt», und zwar als Verhältnis zum Außen ohne ein Inneres, das ein Verhältnis ohne Ich, ohne Boden, nirgendwo ist. Ein Inneres, ein Subjektives — die Unterscheidung vom Leib und vom Körper — taucht dagegen erst in einem «hier» auf, welches zusammen mit dem Körper gesetzt wurde. Hierin besteht eine Bedingung der Möglichkeit, eine Bedingung, die körperlich ist und von den Körpern abhängt. Das Bewusstsein kommt zu sich selbst, es wird subjektiv und ist selbstgegeben aufgrund einer Setzung (position), die dem Bewusstsein prinzipiell vorausgeht. Das heißt, es handelt sich dabei nicht um eine Setzung, die vom Ich des Bewusstseins, vom reinen Ich des Erlebens oder vom Fleisch des Leibes geleistet wäre. Die Setzung geht nicht auf eine Aktivität des Erlebens zurück; ganz im Gegenteil wird das Erleben erst durch diese Setzung ermöglicht. Diese position kommt gewissermaßen auch der Passivität des Erlebens selbst zuvor. Und diese Setzung eines Grundes des Bewusstseins, des selbstgegebenen Erlebens, ist eben der materielle Körper, so wie Levinas ihn in Vom Sein zum Seienden auffasst, d.h. als den Körper, der kein Ding und keine Substanz, sondern ein Ereignis, die Setzung eines «hier» ist.
«[D]iesem Ereignis wird man nicht dadurch gerecht, dass man über die äußere Erfahrung des Körpers hinaus auf seiner inneren Erfahrung, auf der Synästhesie, besteht», so Levinas im Abschnitt «Der Schlaf und der Ort» (Levinas, 1997, 87).
Worauf es Levinas hier ankommt, ist, darauf hinzuweisen, dass auch die Materialität des eigenen Körpers, die es dem Bewusstsein erlaubt, hier zu sein und sich selbst zu erleben, ein Ereignis ist, etwas, wodurch das Bewusstsein ermöglicht wird — in einer
gewissen faktischen Hinsicht, die aber durchaus wesentlich ist. Der Körper ist — in seiner Materialität — der faktische Grund der leiblichen Existenz, und in diesem Sinne eine Bedingung der Möglichkeit der leiblichen Existenz. So gesehen ist Levinas' Überlegung keine besonders neue und ungewöhnliche Idee. Denn keinesfalls ist es ungewöhnlich zu sagen, dass wir Körper sind, auch wenn wir von diesem nicht alles erleben können. Es gibt eine Grenze zwischen Leib und Körper in puncto des Erlebens. Levinas deutet diese Grenze aber auf eine durchaus originelle Art und Weise, indem er den Körper als eine unhintergehbare position betrachtet. Der Körper markiert die Grenze zum Leib der subjektiven Erfahrung, und als position geschieht er als die faktische Bedingung der Subjektivität und der Leiblichkeit der Existenz.
Der Schlaf stellt die Beziehung zum Ort als Grundlage wieder her. Indem wir uns schlafen legen, indem wir uns in eine Ecke kauern, um zu schlafen, überlassen wir uns einem Ort — als Grundlage wird er unser Zufluchtsort. Unser ganzes Werk besteht nun darin, zu ruhen <.. > Diese Hingabe an die Grundlage, die zugleich einen Zufluchtsort darstellt, macht den Schlaf aus, durch den das Sein ausgesetzt bleibt, ohne sich zu zerstören. Das Bewusstsein kommt zustande im Ausgang von dem Ruhen, im Ausgang von dieser einzigartigen Beziehung (Levinas, 1997, 84 f.).
In seiner späten Philosophie rückt Levinas diese drei Motive in einer neuen Konstellation enger zueinander, in der die ethische Intrige, bzw. Verstrickung die Oberhand gewinnt.
Der späte Levinas hat eine durchaus ungewöhnliche Idee des Körpers. So kommt er in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Levinas, 1998) auf die Idee der Materialität und des Ortes des Körpers auf eine Weise zu sprechen, die insofern einen Bruch mit der soeben skizzierten Auffassung vom Ende der 40er Jahre mit sich bringt, als der Körper nun keine unhintergehbare position mehr ist, die dem Sinn, dem ethischen Bedeuten, vorangehen würde. Gerade in seiner Materialität ist der Körper vollkommen in einem ethischen Bedeuten gefangen und darin aufgelöst. Auf diese Weise ließe sich etwa auch die folgende Stelle lesen, an der diese Begriffe — Materialität, «hier» oder Ort des Körpers — in einer neuen Konstellation auftreten:
Das sogenannte inkarnierte Subjekt resultiert nicht aus einer Materialisierung, einem Eintritt in den Raum... Vielmehr weil die Subjektivität Sensibilität ist — Ausgesetztheit gegenüber den Anderen, Verwundbarkeit und Verantwortung in der Nähe des Anderen, der-Eine-für-den-Anderen, das heißt Bedeutung — und weil die Materie genau der Ort dieses Für-den-Anderen ist, die Art und Weise, in der die Bedeutung bedeutet, bevor sie sich als Gesagtes im System der Diachronie, im linguistischen System, zeigt [hvh. von K. Ж] — deshalb ist das Subjekt aus Fleisch und Blut, ein Mensch, der Hunger hat und der isst, Eingeweide in einer Haut, und so fähig, das Brot zu geben, das er gerade verzehrt, oder seine Haut zu geben (Levinas, 1998, 174 f.).
Das erste, was in die Augen springt, ist eine gewisse «Auflösung» der physischen Materialität im ethischen Bedeuten «für den Anderen», die auch den ganzen Ort des Körpers «einzunehmen» und somit auch seine «position» zu unterlaufen scheint. Hierin kommt die höchst ungewöhnliche Idee des Körpers in der Spätphilosophie Levinas' zum Ausdruck. Es bleibt nichts vom Körper als Grenze bestehen, so wie wir sie etwa noch beim frühen Levinas angefunden haben; vielmehr bricht diese Grenze zusammen, sie wird keinesfalls mehr als unhintergehbar angesetzt; und als Setzung des Körpers stellt sie keinen Halt und Boden mehr dar.
Es gibt nun nach wie vor jene Grenze, die beim frühen Levinas den Körper (als Grenze, als «position») mit ausmachte: das il y a selbst. Das Fremde, die Materialität im Sinne des Fremden in uns wird im Spätwerk insofern aus dem Körper ausgeschlossen, als keine physische Materialität des Körpers mehr seiner Ausgeliefertheit an den Anspruch des Anderen vorhergeht: Der Körper wird vollständig zum «für-den-Ande-ren», seine Materialität ergibt sich aus der ursprünglichen Subjektivität, die letztlich die Diachronie selbst darstellt, der zufolge ich gegenüber dem Anderen immer schon in einen ethischen Anspruch eingebunden bin, wie wir weiter unten noch ausführlicher sehen werden. Doch das ethische Bedeuten des «Einen», jenes ursprünglichen Subjekts «für den Anderen», geht noch immer von der Spannung des drohenden bloßen sinnlosen Seins, dem il y a aus. Keine Lebendigkeit der Sensibilität ist letztlich ohne diese Ausgesetztheit denkbar. Die Beunruhigung durch den ethischen Anspruch immer schon verantwortlich zu sein, ohne jemals wählen zu können, verweist auf die Beunruhigung durch den Non-sens des bloßen Seins im Sinne des il y a, dem unmöglich zu entkommen ist. Diese Grenze wird nicht verwischt oder gar in das ethische Bedeuten hineingenommen — das ja ganz im Gegenteil von dieser Grenze vorausgesetzt wird und als Sinn den einzigen Ausweg aus dem Nicht-Sinn darstellt, ohne diesen allerdings je vollends eliminieren oder aufheben zu können. Diese Grenze zwischen dem ethischen Bedeuten oder dem Sinn einerseits und dem Nicht-Sinn des il y a andererseits wird im Spätwerk verschoben, so dass sie nicht mehr jene Differenz vom Leib zum Körper markiert, die ja noch für das Frühwerk Levinas' charakteristisch war. Nunmehr kann durchaus von einem affektiven Leibkörper des ethischen Bedeutens gesprochen werden. Diese Tendenz geht aus folgender Stelle, in der zugleich auch indirekt die affektiv gegebene Grenze des il y a zu Tage tritt, deutlich hervor:
Das Sinnliche — Mutterschaft, Verwundbarkeit, Befürchtung — knüpft den Knoten der Inkarnation in einer Verstrickung, die weiter reicht als die Selbstapperzeption; in einer Verstrickung, in der ich an den anderen gebunden bin, schon bevor ich an meinen eigenen Leib gebunden bin. ... Gordischer Knoten des Leibes! Die Extremitäten, in denen er beginnt und endet, sind auf ewig in dem unauflösbaren Knoten verborgen, der in der unfassbaren Noese seinen eigenen transzendentalen Ursprung beherrscht. Die sinnliche Erfahrung als Obsession durch den Anderen — oder die Mutterschaft — ist bereits die Leiblichkeit, die die Philosophie des Bewusstseins von der sinnlichen
Erfahrung her konstituieren will. Leiblichkeit des eigenen Leibes, die, wie die Sensibilität selbst, eine Verknüpfung oder eine Auflösung der Verknüpfung des Seins bedeutet, die jedoch Übergang zur physikalisch-chemisch-physiologischen Bedeutung des Leibes enthalten muss. Zu ihr führt wahrscheinlich die Sensibilität als Nähe, als Bedeutung, als der-eine-für-den-Anderen — die im Geben bedeutet, wenn das Geben nicht den Über-fluß des Überflüssigen anbietet, sondern das dem eigenen-Munde-abgerungene-Brot. Bedeutung, die also im Nahrung-, Kleidung- und Wohnunggeben bedeutet — in den mütterlichen Beziehungen, in denen die Materie sich allererst in ihrer Materialität zeigt (Levinas, 1998, 173 f.).
Ursprünglicher als das Selbst des separierenden sinnlichen Lebens, le moi, ist für den späten Levinas offensichtlich «der Eine» oder le soi. Die Untersuchung der Sensibilität (und der Subjektivität sowie der Leiblichkeit des Erlebens) muss zwar immer vom Leben, d.h. «vom Auskosten und vom Genießen», ausgehen — in dem sich darin die erste Identität des Augenblicks, das erste Selbst konstituiert — aber sie muss reduktiv zu demjenigen fortschreiten, der selbst sinnlich ist und der die Sinnlichkeit des Lebens selbst noch ermöglicht: dem Einen. Seine Einzigkeit wird auf folgende Weise charakterisiert:
Einzigkeit, die, gegenläufig zu der auf sich zurückkommenden Gewißheit, aufgrund der Nichtübereinstimmung mit sich bedeutet, aufgrund der Un-ruhe, aufgrund der Be-un-ruhigung — die keine Identität gewinnt und nicht für das Wissen erscheint — defizitär, Schmerzstelle, aber — genau wie die Einheit des Kantschen «ich denke» — undeklinierbar in dieser Passivität ohne Spiel <...>. Einzigkeit bedeutet hier Unmöglichkeit, sich zu entziehen und sich ersetzen zu lassen <...>. Das Subjekt, um es so adäquat wie möglich auszudrücken <.. > ist nicht in der Zeit, es ist die Diachronie selbst (Levinas, 1998, 125-137).
Sind wir mit dieser Undeklinierbarkeit und Notwendigkeit einer Einheit, die nicht in der Zeit ist, nicht wiederum in die Nähe zum Deutschen Idealismus geraten, hier wiederum durch das reine Ich repräsentiert? Ich glaube es nicht, da Levinas ja von einer Idee des Systems eines transzendentalen oder gar absoluten Idealismus weit entfernt ist. Mit der Reduktion vom Ich auf das Selbst hat er aber doch etwas vom Projekt der transzendentalen Phänomenologie beibehalten und es in gewisser Weise radikalisiert.
Das Selbst ist leib-körperlicher Natur, aber der Leib-Körper bietet nach dieser Spätschrift nicht mehr die unproblematische Basis wie in den früheren Schriften aus den 40er und 50er Jahren. Die Inkarnation ist für den späten Levinas die «Rekkurenz der Ipseität <...>, unwahrscheinlicher Rückzug ins Volle des Punktuellen, in die Inextension des Einen» (Levinas, 1998, 173). Es ist schwer in einer solchen Inextension, in einem solchen Nicht-Ort auch nur die Spur einer körperlichen Dimension des Selbst zu finden, die uns aber intuitiv für dessen Singularität unerlässlich zu sein scheint.
Man kann sich fragen, ob es je eine Singularität vom Selbst geben könne, die nicht eine leib-körperliche Basis hätte. In dieser Hinsicht scheint mir die Rückkehr zum frühen Levinas interessant zu sein, zurück zum Körper als Nullpunkt «hier», zu einem Ort noch diesseits des konstituierten Raumes. Ein Weg kann zu dem zurückführen, was mit dem konstituierten Körper im Raum fest verbunden ist, was jedoch auf die Konstitution des Raums selbst nicht zurückgeführt werden kann. Eine Faktizität, die jede Korrelation vom Subjektiven und Objektiven bedingt, eine Faktizität als Bedingung der Möglichkeit des Cogito.
Schlussbemerkung
Es geht Levinas darum, gegen die Universalität der Strukturen, gegen das unpersönliche Wesen des Seins und gegen die wechselseitige Relativität der Punkte in einem System «den Menschen ... wiederzufinden» (Levinas, 1989, 67). An diesem Punkt bemerkt Levinas, warum Husserls Philosophie «humanistisch» und er mit ihm einig ist, «in einer radikalen Opposition» zu Heideggers Philosophie: All die Momente, die man als Momente der objektiven Strukturen verstehen kann, müssen nämlich für Husserl in einer lebendigen Subjektivität reaktiviert werden, die selbst «kein Moment in einer nicht-menschlichen oder idealen Ordnung» ist (Levinas, 1989, 67, Fußnote 4). Levi-nas sucht hiermit beim nicht-klassischen Husserl, in seinen späten Reflexionen, deren Umrisse wir im ersten Teil kurz angedeutet haben, die «Konkretheit der Subjektivität <...> jenseits des Thematisierbaren und des Letzten» ((Levinas, 1989, 67), so wie der Sinn vom Sein für Heidegger das Letzte ist), um die Bedingungen des Subjekts, die Bedingtheit seiner scheinbaren Autonomie zu ergründen. Somit geht es Levinas ebenso wie Husserl nicht darum, das Abgeleitetsein und die Obsolenz der Subjektivität, sondern ganz im Gegenteil ihre nicht-reduzierbare Relevanz, bzw. Unvertretbarkeit aufzuzeigen. Dadurch distanziert sich Levinas ganz absichtlich und frontal, und auf eine weniger plakative Weise aber auch Husserl selbst, vom Systemgedanken des deutschen Idealismus, sofern dieser den Einzelnen, den «einen» Menschen von der Totalität des letztlich unpersönlichen Seins aus deutet. Das genuin philosophische Mittel, um eine solche Distanz zu erreichen, war für beide Denker eine Radikalisierung der transzen-dental-phänomenologischen Reduktion, einer genetischen bei Husserl, einer ethischen bei Levinas.
REFERENCES
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Levinas, E. (1989). Humanismus des anderen Menschen. Hamburg: Felix Meiner.
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