HORIZON 12 (2) 2023 : I. Research : J. G. Ferrer Ortega : 382-397
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ÉTUDES PHÉNOMÉNOLOGIQUES
https://doi.org/10.21638/2226-5260-2023-12-2-382-397
JUAN DAVID GARCÍA BACCAS LEKTÜRE DER TRANSZENDENTALEN PHÄNOMENOLOGIE. VOM INTENTIONALEN BEWUSSTSEIN ZUM TODESKÄMPFENDEN BEWUSSTSEIN
JESÚS GUILLERMO FERRER ORTEGA
PhD, Research Project Manager.
Philosophical Seminar/Cultural Philosophy, University of Wuppertal. 42119 Wuppertal, Germany. E-mail: ferrer@uni-wuppertal.de
JUAN DAVID GARCÍA BACCA'S READING OF TRANSCENDENTAL PHENOMENOLOGY. FROM INTENTIONAL CONSCIOUSNESS TO DEATH-FIGHTING CONSCIOUSNESS
The Navarre-Venezuelan philosopher Juan David García Bacca is one of the most notable and original figures of Spanish-speaking thought, although his work has not yet received the attention it deserves. One of the pillars of his philosophy consists of what he calls a transfinite anthropology that considers man as an entity that strives to enhance his being. This anthropological approach is based on a phenomenology of nature that emphasizes the becoming and the transformations that man effects in the world. In this philosophical context, García Bacca soon became interested in the work of Husserl, Scheler y Heidegger. This article deals with the way in which García Bacca describes and values Hus-serl's descriptions of intentional consciousness. The problem that García Bacca poses to transcendental phenomenology concerns neither the reality of pure consciousness nor its objective scope. García Bacca is interested in finding out if there is a potentiation of the being of consciousness superior to or deeper than the self-reflection proper to the transcendental attitude. He discovers this potentiation in the notion of an "agonic consciousness" that resists the representation of its annihilation, and whose philosophical antecedent is found in the work of Miguel de Unamuno. Without sharing all of García Bacca's interpretation of Husserlian phenomenology, the author of the article considers that it nevertheless raises relevant questions concerning the facticity and necessity proper to the transcendental subject.
Keywords: consciousness, intentionality, reflexion, agony, death, potentiality, subject, transcendentality, facticity.
© JESÚS GUILLERMO FERRER ORTEGA, 2023
ХУАН ДАВИД ГАРСИА БАККА И ЕГО ИСТОЛКОВАНИЕ ТРАНСЦЕНДЕНТАЛЬНОЙ ФЕНОМЕНОЛОГИИ. ОТ ИНТЕНЦИОНАЛЬНОГО СОЗНАНИЯ К СОЗНАНИЮ В БОРЬБЕ СО СМЕРТЬЮ
ХЕСУС ГИЛЬЕРМО ФЕРРЕР ОРТЕГА
PhD, научный сотрудник.
Философский семинар/Отделение философии культуры, Бергский университет Вупперталя. 42119 Вупперталь, Германия. E-mail: ferrer@uni-wuppertal.de
Наваррско-венесуэльский философ Хуан Давид Гарсиа Бакка — одна из наиболее заметных и самобытных фигур испаноязычной философии, хотя его работы пока не привлекли того внимания, которого они заслуживают. Один из основополагающих элементов его философии состоит в том, что Бакка называет трансфинитной антропологией, рассматривающей человека как единство, стремящееся охватить своё бытие. Такой антропологический подход опирается на феноменологию природы, на первый план выводится то становление и те трансформации, которые человек приносит в мир. В этом философском контексте Гарсиа Бакка достаточно рано обратился к работам Гуссерля, Шелера и Хайдеггера. В статье обсуждается то, как Гарсиа Бакка описывает и оценивает Гуссерлевскую тематизацию интенционального сознания. Проблема, которую в контексте трансцендентальной феноменологии ставит Гарсиа Бакка, касается не реальности чистого сознания, не его объективного содержания. Гарсиа Бакка заинтересован в поиске возможного потенциала бытия сознания, более глубокого или более высокого, чем рефлексия, характерная для трансцендентальной установки. Он обозначает такой потенциал термином «агонизирующее сознание»; речь идёт о таком сознании, которое сопротивляется представлению о собственном уничтожении; философских предшественников такого понятия сознания можно найти в работах Мигеля де Унамуно. Не во всём разделяя ту интерпретацию феноменологии Гуссерля, которую приводит Гарсиа Бакка, автор статьи, тем не менее, видит в этой интерпретации важные вопросы, касающиеся фактичности и необходимости трансцендентального субъекта.
Ключевые слова: сознание, интенциональность, рефлексия, агония, смерть, потенциальность, субъект, трансцендентальность, фактичность.
Juan David García Bacca (1901-1992) setzt sich mit der Husserl'schen Phänomenologie in seinen Werken Nueve grandes filósofos contemporáneos y sus temas (García Bacca, 1990), Siete modelos de filosofar (García Bacca, 1963b) und Introducción literaria a la filosofía (2003) auseinander. Diese Bücher vor allem stellen García Baccas philosophiegeschichtliches Erbe dar. Seine Interpretation der Phänomenologie ist Teil eines umfassenderen Projekts der Geschichtsschreibung der Philosophie, das einer kurzen Bemerkung zu seinem Verständnis von Husserl bedarf: Die Unkenntnis von vielen damals unveröffentlichten Manuskripte des Husserl-Nachlasses hatte freilich
Auswirkungen auf García Baccas Lektüre der transzendentalen Phänomenologie. Ich teile jedoch nicht den Ansatz einiger namhafter Historiker der frühen Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Lateinamerika, die insbesondere tatsächliche (oder angebliche) Missverständnisse hinsichtlich des Werkes des Begründers der phäno-menologischen Bewegung betonen. Es kommt leider oft vor, dass sie die kritisierten Textstellen aus ihrem philosophischen Zusammenhang reißen und ihren Sinn aus den Augen verlieren. (Die Idee einer ganz genauen Interpretation des Werkes Hus-serls durch orthodoxe Schülerschaft ist des Weiteren eine Illusion, die für eine vom ihm inspirierte phänomenologisch-wissenschaftliche Arbeitsphilosophie kontraproduktiv ist).
García Baccas Interpretation der Phänomenologie, genauso wie ihre Aufnahme bei anderen spanischen und lateinamerikanischen Autoren und Autorinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, fließt in ein originelles Denken ein, das tief genug ist, um philosophische Grundfragen an eine von Husserl inspirierte Phänomenologie zu stellen. Seine Überlegungen auf die Grenzen eines phänomenologischen Ansatzes, der die Reflexion über das reine intentionale Bewusstsein überbetont, behandelt ein für die gegenwärtige Phänomenologie bedeutendes Thema. Er stützt sich auf eine Analyse der Reflexionstendenz zur Potenzierung des realen transzendentalen Subjektes und auf Miguel de Unamunos Deskription eines „todeskämpfenden Bewusstseins" (conciencia agónica), das sich der Vorstellung seiner Vernichtung widersetzt1. Auf diese Weise schlägt García Bacca eine Neuinterpretation der transzendentalen Subjektivität vor, die von ihrer Faktizität, ihrer Historizität und ihrer intersubjektiven Offenheit ausgeht. In diesem Aufsatz werde ich einen Beitrag von García Baccas zur Phänomenologie skizzieren, der weiterhin zur Entdeckung innerer Ressourcen des Werkes ihres Begründers führt.
Im Kapitel zur Phänomenologie („Husserl oder die reine Intentionalität") seines bekanntesten philosophiegeschichtlichen Buches Nueve grandes filósofos contemporáneos y sus temas stellt García Bacca einen auf den ersten Blick fragwürdigen Gegensatz dar: Die zunehmende Klarheit des reinen Bewusstseins, seines „intentionalen Lichts", gehe mit der zunehmenden Dunkelheit der Dinge einher. Je intensiver das intentionale Licht, desto mehr erhelle sich das Bewusstsein zum Nachteil der Dinge. In der Hinsicht vergleicht er das Bewusstsein und seine Konstitution mit Bildern aus einem Gedicht von Charles Baudelaire:
1 Siehe die Analyse von Carlos Beorlegui über die Bedeutung des Begriffs des todeskämpfenden Bewusstseins für das Verständnis der historisch-philosophischen und auch literarischen Stelle des Denkens von Unamuno (Beorlegui, 1998).
Un damné descendant sans lampe, Au bord d'un gouffre dont l'odeur Trahit l'humide profondeur, D'éternel escaliers sans rampe,
Où veillent des monstres visqueux Dont les larges yeux de phosphore Font une nuit plus noire encore Et ne rendent visibles qu'eux2.
„Ein Verdammter muss zum Abgrund steigen, Keine Lampe in der Hand er trägt, Fauler Dunst ihm feucht entgegenschlägt, Endlos sich die steilen Treppen neigen, Scheußliches Getier harrt unten sein, Dessen wilden Blickes Phosphorfunkeln Macht die schwarze Nacht noch schwärzer dunkeln, Macht nichts sichtbar als den Blick allein.
(Baudelaire, 1982, 133-134).
„Und als ich diese Worte von Baudelaire las, konnte ich nichts anders, als an das Bewusstsein und seine Konstitution zu denken [...]. [Ich] frage mich, ob in der Husserl'schen Phänomenologie nicht etwas Ähnliches geschieht: eine ewige Qual, die Nacht der Dinge, die immer dunkler wird, und die unheimliche Klarheit der reinen phosphoreszierenden Struktur des Bewusstseins, die immer deutlicher wird, ein Licht der ,intentionalen' Art, das nur dazu dient, sich selbst zu beleuchten und andere Dinge immer mehr zu verdunkeln" (García Bacca, 1990, 50-51). Eine voreilige Lektüre dieser Passage hat Historiker der lateinamerikanischen Phänomenologie zu dem Schluss geführt, dass ihr Ausgangspunkt „die dichterische oder dramatische Ader von García Baccas Ausführungen zu phä-nomenologischen Themen" sei (Zirión, 2009, 83). Diese kritische Feststellung erklärt jedoch nicht, wie und warum sich das philosophische Denken García Baccas (der in der Logik, der Mathematik und den Naturwissenschaften hochgebildet war) hin zu einer literaturgeschichtlichen Betrachtung philosophischer Werke entwickelt hat. Zudem geht sie zum Gedankengang des Kapitels zur Phä-nomenologie in Nueve grandes filósofos contemporáneos y sus temas nicht ins Detail (die mathematischen Metaphern für die Leistungen des intentionalen Bewusstseins, der Wesensanschauung und der transzendentalen Reflexion werden etwa nicht erwähnt). Deswegen taucht das philosophische Problem, das García Bacca der Phänomenologie stellt, nicht wirklich auf und andere, sogar positive Aspekte von García Baccas Verständnis der transzendentalen Phänomenologie werden ausgelassen. Die mögliche, in gewissem Masse berechtigte Kritik an García Baccas Interpretation der Phänomenologie Husserls findet hier also nicht in dem wirklichen philosophiegeschichtlichen Kontext statt, der ihr eine solide Grundlage bieten würde. Gustavo Leyva seinerseits interpretiert den Vergleich des intentionalen Bewusstseins mit Baudelaires Bildern als eine Infragestellung „der Möglichkeit des Zugangs zum realen Sein von einem reinen Bewusstsein aus, das alle Verbindungen zur Realität selbst abgebrochen hat" (Leyva, 2018, 275). Im vorliegenden Aufsatz versuche ich vielmehr zu zeigen, dass beide Prämissen ungenau sind. Bei García Bacca unterbricht das reine Bewusstsein keineswegs die Verbindung mit der Realität, weil er den transzendentalen Reflexionsakt für eine reale Potenzierung des Subjektes hält — wenn auch nicht die radikalste mögliche. Man kann auch nicht sagen, dass García Bacca die Objektivität des erkennenden Bewusstseins aufhebt. Im Gegenteil, er unterstreicht sie in vielen Stellen. Das Problem, das ihn interessiert, ist ein anderes. Ich habe mich
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Im Folgenden wird es gezeigt, dass der Schwerpunkt des von García Bacca angesprochenen Problems weder darin liegt, das reine intentionale Bewusstsein als Phantasmagorie zu brandmarken, noch die Objektivität der intentionalen Akte noch die Wissenschaftlichkeit der transzendentalen Phänomenologie infrage zu stellen. Vielmehr wirft er eine originelle und für die gegenwärtige Phänomenologie relevante Frage über das Wesen und die Faktizität der transzendentalen Subjektivität auf.
1. DAS WESEN DES BEWUSSTSEINS
García Bacca befasst sich zunächst mit der Frage nach dem Wesen des Bewusstseins. Seine Antwort lautet: Es sei das einzige Seiende, dessen Existenz darin besteht, sich seiner selbst gewahr zu werden. Damit hängt es zusammen, dass das Bewusstsein notwendigerweise nicht von sich selbst abgelenkt werden darf. García Bacca beschreibt diese ursprüngliche Situation als ein Hängen am seidenen Faden des Selbstbewusstseins, eine Spannung der auf sich selbst gerichteten Aufmerksamkeit. Dank dieser ursprünglich selbstreflexiven Intentionalität vermag das Bewusstsein Sachen zu erfassen und zu objektivieren, die an sich unbewusst sind, Seiende, die ihrem Wesen nach nicht de jure, sondern de facto mit sich identisch sind. Das Bewusstsein sei jenes Seiende, das superlativisch mit sich identisch ist. Denn es ist an sich und zugleich weiß, was es ist (darin besteht sein ursprüngliches „Für sich"). Dank dieser doppelten Verstärkung seiner Identität und Zweierpotenz seines Wesens vermag das Selbstbewusstsein die Theorie bzw. Objektivierung der Sachen und die Technik bzw. die Herrschaft über die Naturdinge zu stiften3.
mit dem philosophischen Kontext von García Baccas Rezeption der Phänomenologie in meiner Einleitung zu Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika. Ein Lesebuch (Ferrer, Schmich & Pérez-Gatica, 2022, 135-143) auseinandergesetzt.
García Bacca drückt diese Idee mit der für ihn charakteristischen metaphorischen und humorvollen Sprache aus: „[...] die einfachen Seienden, die Realitäten, die sind, was sie sind, und die nach dem handeln, was sie sind, aber ohne sich dessen bewusst zu sein, gehen wie Schlafwandler durch die Welt. Die bewussten Realitäten gehen im gleichen Tempo, berauben jene ihrer Eigenschaften, erschöpfen sie und machen sie zu Sklaven. Da das Licht nicht weiß, dass es leuchtet, können wir es benutzen, um uns zu erleuchten; weil das Feuer brennt, ohne es zu wissen, ist es möglich, dass wir es in unseren Dienst stellen; und indem es uns dient, wird das Licht verbraucht und das Feuer verzehrt; sie leuchten und heizen, wie wir wollen, schnell oder langsam, wie es uns passt" (García Bacca, 1990, 51). Diesen Zeilen liegt eine Phänomenologie der natürlichen Welt zugrunde, die García Bacca später in seinem Werk Metafísica natural estabilizada y problemática metafísica espontánea (García Bacca, 1963a) darlegte. José Luis Abellán hat dessen Inhalt in seinem wichtigen Buch über die Philosophie des amerikanischen Exils zusammengefasst (Abellán, 1998, 369-397).
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Gleichwohl zeigt das Bewusstsein eine gewisse Prekarität seines Seins auf. Eine einzige Ablenkung, ein Nachlassen der Aufmerksamkeit, reicht scheinbar aus, um es momentan zu zerstören. Es handelt sich jedoch nur um einen Schein (García Bacca, 1990, 52). Wenn ein bewusstes Seiendes in die Bewusstlosigkeit fällt, hört es auf, fürsich zu sein, aber es bleibt immer noch weiterhin, genauso wie die natürlichen Seienden. Unser menschliches Bewusstsein ist ständig davon bedroht, vom Für-sich-Sein in ein bloßes An-sich-Seindes zu fallen. Diese Situation weist auf eine wesentliche Eigenschaft des Bewusstseins hin, so García Bacca weiter: Es sei das einzige Seiende, das ein ontologisches Privileg genießt: Sein Übergang vom Für-sich zum An-sich und umgekehrt lässt sich durch keine kausalen Verhältnisse erklären. Das menschliche Bewusstsein rührt nicht von seinem psychophysischen, anatomischen und physiologischen Hintergrund her. Es entsteht ohne wirkliche Ursache, wie eine unvorhersehbare Neuigkeit und Schöpfung. Wenn es erscheint, dann verschwindet jeder physische Hintergrund4. Da das Bewusstsein in der Hinsicht ungeschaffen ist, darf man es als ein Absolutes bezeichnen, das nichts anderes (im kausalen Sinn) braucht, um zu existieren (García Bacca, 1990, 54).
Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal dieses absoluten Wesens des Bewusstseins besteht darin, dass in ihm nur es und die Korrelate seiner intentionalen Akte erscheinen. Die Dinge und ihre Eigenschaften treten im Bewusstsein nicht als Wirklichkeiten auf, sondern als Gegenstände. Es handelt sich dabei um ihre objektive Anwesenheit für mich. Solch eine Präsenz der Sachen im intentionalen Bewusstsein bildet die Grundlage jeder Wissenschaft, die von der Phänomenologie thematisiert wird. García Bacca bestreitet nicht, dass das intentionale Bewusstsein anschauliche
„Alles Unbewusste, alles Physische, muss verschwinden, wenn das Bewusstsein, das Bewusste, erscheint. Aus diesem Grund, obwohl das Physikalische und das Chemische, das Anatomische und das Physiologische in unsere Wirklichkeit eintreten, erscheinen sie nicht im Bewusstsein. Wenn sie es täten, wären wir, ohne zu studieren, berühmte Chemiker und hervorragende Physiker, bewundernswerte Anatomen und vollendete Physiologen. Selbst nachdem die Wissenschaft auf seltsame und verdrehte Weise etwas von dem Hintergrund des einfachen An-sich-Seins entdeckt, das unserem Bewusstsein zugrunde liegt, bleibt ihm unbewusst, was es als An-sich-Sein hat" (García Bacca, 1990, 53). Aus Husserl'scher Sicht bedürfen diese Ausführungen García Baccas der Nuancierung: Die Kontinuität zwischen den Kinästhesien bzw. den „Empfindnissen" und den höheren Reflexionsakten wird zwar durch keinen kausalen Determinismus erklärt; doch lässt sich eine Genese des intentionalen Lebens nachzeichnen, die von den Trieben und der Affektion ausgeht, die Motivationen der Affektivität und des Willens durchläuft und im reflektierenden Selbstbewusstsein gipfelt. Es fällt auf, dass García Bacca sich in einem theoretischen Rahmen von qualitativen Sprüngen in der natürlichen Evolutionsgeschichte des Menschen bewegt. Es wäre interessant, die Unterschiede (oder möglichen Kompatibilitäten) dieses Schemas mit den Texten zu vergleichen, in denen Husserl von einer Naturgeschichte der intermonadologischen Gemeinschaft und von einer rückläufigen Konstitution der anzestralen Welt sowie der Entstehung höherer Formen des bewussten Lebens spricht.
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und erkenntnistheoretische Konsistenz besitzt. Denn damit wir die Dinge erkennen, ist es notwendig, sie als Objekte zu haben und dadurch ihnen ihrer bloßen Realität an sich zu berauben. In diesem wissenschaftlich-phänomenologischen Zustand leisten die Dinge nicht mehr, was sie ursprünglich und real sind:
Das gedachte Feuer brennt nicht, auch wenn man gleichzeitig an trockenes Stroh denkt. Das Wasser des Meeres wird niemanden überschwemmen, auch wenn man denkt, dass ein Mensch auf dem Meeresgrund liegt. Die Zwei wird nicht zur Drei addiert, noch wird eine positive Zahl von einer positiven Zahl subtrahiert werden. (García Bacca, 1990, 55-56)
Je objektiv-wissenschaftlicher das Bewusstsein erkennt, desto mehr zieht es sich paradoxerweise in sich zurück und flüchtet es sich in das „Ich". Das Subjekt kennt zwar die Dinge, das Licht des intentionalen Bewusstseins beleuchtet jedoch weniger die Realität der Dinge an sich denn ihre objektive, unwirksame Präsenz für mich. Je mehr das Subjekt von den Dingen weiß, desto mehr erleuchtet sich das Bewusstsein selbst, indem es die reale Wirksamkeit der Dinge gegen ihre irreale Objektivität im intentionalen, erkennenden austauscht. Die Metaphern, die García Bacca zur Bezeichnung des Bewusstseins verwendet, sind in der Hinsicht eloquent: „Monstrum", „Leuchtturm", der keine Strahlen aussende, „Sonne", die nichts erhelle als das Bewusstsein, „kinematographische Leinwand" und „Kinositzung", bei der sich unwirkliche Gegenstände aufeinanderfolgen (García Bacca, 1990, 55-56). Aber keineswegs erklären diese Metaphern das intentionale Bewusstsein für ein Hirngespinst, das mit der Wirklichkeitserkenntnis nichts zu tun hat.
2. DER ABSTAND ZWISCHEN SUBJEKT UND OBJEKT
Es stellt sich nun die Frage: Wenn García Bacca weder die Realität des inten-tionalen Bewusstseins noch sein Erkenntnisvermögen leugnet, welches ist dann das genaue Problem, das er in Bezug auf sein Wesen stellt? Er unternimmt bemerkenswerterweise eine Klassifizierung der Arten von Distanz zwischen Subjekt und Objekt. Dieser Abstand wird zuerst durch verschiedene Erkenntnismodalitäten gemessen, wobei das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt bestehen bleibt. Durch Erkenntnis haben wir explizit, unmittelbar und eindeutig mit Gegenständen zu tun, indem wir das Subjekt und seine Eigenschaften setzen:
2 ist ein Primzahlpaar; 2 ist eine ganze Zahl größer als 1 und kleiner als 3; 2 ist das arithmetische Mittel zwischen 1 und 3, usw. Es ist klar, dass ein solcher Fall am präsentesten ist und am unmittelbarsten, explizit und eindeutigsten mit den mathematischen Gegen-
ständen zu tun hat. Und zwar nicht deshalb, weil das Subjekt explizit genannt wird, sondern, weil die Prädikate dem Subjekt und nur ihm entsprechen. (García Bacca, 1990, 58)
Hierbei handelt es sich um eine Definition der Zahl 2, die in der Anschauung des Gegenstandes implizit enthalten sein muss, damit eine objektive Erkenntnis zustande kommt.
Aber wir können auch die Objekte implizit erkennen:
Wenn ich zum Beispiel vom arithmetischen Mittel zwischen 1 und 3, von der geraden Primzahl, von der ganzen Zahl größer als 1 und kleiner als 3, von der Lösung der Gleichung 4x — 8 = 0 usw. spreche, weiß ich nicht explizit, wem solche Prädikate oder Beziehungen entsprechen; aber ich weiß, dass solche Prädikate eine genaue Lösung zulassen... (García Bacca, 1990, 58)
Die Distanz zwischen Subjekt und Objekt wird größer, wenn allgemeine Begriffe ins Spiel kommen:
Wenn ich sage: „2 ist gerade", „3 ist ungerade", „7 ist prim" [.] dann ist klar, dass es sich um 2, 3, 7 handelt, aber ich gehe nicht eindeutig mit ihnen um. Strenggenommen habe ich mit allen Paaren en bloc zu tun, denn weder 2 noch 3 noch 7 haben ein besonderes Privileg, gerade, ungerade oder Primzahl genannt zu werden. (García Bacca, 1990, 59)
Diese Zeilen geben einen Einblick in das philosophische Problem, das García Bacca interessiert: Es handelt sich nicht darum, den objektiven Wert der Erkenntnis (bzw. des erkennenden Bewusstseins) zu leugnen. In dieser und in anderen Stellen klassifiziert García Bacca sorgfältig die Erkenntnistypen: von der Definition ausgehend, die in einer mehr oder weniger adäquaten Anschauung enthalten ist, bis hin zu allgemeinen Begriffen. Ein Problem, das García Bacca hier anschneidet, ist etwa das der Wiederherstellung realer Verhältnisse zwischen dem Subjekt und den Sachen (nicht jenes dessen erkenntnistheoretisch-objektives Verhältnis zur Realität). García Bacca zieht andere Entfernungsmaßstäbe in Betracht, die je nach der Potenzialität des Subjektes im Verhältnis zum Objekt variieren. Die verschiedenen Bewusstseinsakte streben auf den Gegenstand hin, sind in ihn eingestellt. Möge es auf einer höheren oder niedrigeren Ebene sein, sie sind immer in ihm „installiert". Die Intentionalität der Wahrnehmung, der Erinnerung, des Bildbewusstseins usw. ist durch das Objekt und auf es gerichtet5. Aber wenn Erkenntnismodalitäten wie Gewissheit, Verdacht
5 García Bacca übersetzt das deutsche Wort „Einstellung" ins Spanische nicht nur mit „actitud", sondern auch mit „instalación", um die lateinische Etymologie des Verbs „installare" hervorzuheben. Es bedeutet „sich an einen Ort zu setzen", „sich dort niederzulassen". Er betont so die Verflechtung von Subjekt und Objekt im intentionalen Bewusstsein: „Wenn wir das Husserl'sche Wort ,Einstellung' mit
und Zweifel ins Spiel kommen, vermag das Subjekt sich von den Gegenständen und der Welt loszulassen. Es zieht sich auf eine innere Welt zurück, aus der es nicht vertrieben wird, solange er seiner Gewissheit gewahr wird, etwas vermutet oder bezweifelt.
Im Gegensatz zu Descartes hat Husserl das Zurückziehen des Subjektes auf sich selbst nicht im Bereich des methodischen Zweifels thematisiert. Die Originalität der Phänomenologie besteht nicht darin, Bewusstsein und Objekte zu distanzieren, sie anzuziehen, auf sie zu stürzen oder sie abzustoßen bzw. systematisch und methodisch anzuzweifeln. All diese Einstellungen bzw. Installationen im Objekt charakterisieren sich durch ein positives oder negatives Vorzeichnen, wofür sich die Phänomenologie nicht interessiert (García Bacca, 1990, 66). Ihr Programm besteht vielmehr in der Ausschaltung der These der natürlichen Einstellung. Der Phänomenologe läuft durch die verschiedenen Arten von Installationen des Bewusstseins in den Sachen durch, um am Ende bei der phänomenologisch-transzendentalen Einstellung zu bleiben.
In der natürlichen Einstellung installieren wir uns in der Welt und in den Dingen. Wir befreien uns bis zu einem gewissen Grad von dieser Verankerung, wenn wir andere Welten betrachten, zum Beispiel die arithmetische und die geometrische, deren Horizont nicht mehr die natürliche Welt und ihre Dinge haben: „Eine erste Befreiung oder ein Wechsel des Wohnsitzes wird dadurch erreicht, dass man zumindest für eine Weile in anderen Welten lebt, z.B. in der arithmetischen, in der geometrischen..." (García Bacca, 1990, 67). Dasselbe gilt für die eidetischen Welten: Wesenheiten sind keine Universalien, die einzelne Beispiele für ihren Umfang erfordern6. Sie besitzen eine innere Konsistenz7. Die eidetische Phänomenologie stellt sich in die
,instalación übersetzen, dann müssen wir sagen, dass das Subjekt und seine Handlungen im Objekt installiert' sind, auf einer höheren oder niedrigeren Ebene, aber immer ,in' ihm. Die ,Intention, die Tendenz oder Richtung, wird durch das Objekt selbst gerichtet" (García Bacca, 1990, 62). „Selbst wenn wir uns zwischen Zahlen, Figuren und logischen Gesetzen bewegen, hat die natürliche Welt uns fest im Griff. Sie macht sich auf tausend Arten gegenwärtig, auch subtil, indem wir nach Beispielen, Zeichnungen, Illustrationen solcher unnatürlichen Welten in der natürlichen Welt suchen — also in der Geometrie zeichnen, in der Algebra schreiben." (García Bacca, 1990, 66). „Kurzum: sich in echten allgemeinen Begriffen zu installieren, ist eine wesentlich unsichere und gravitierende Niederlassung. Sie wird von der natürlichen Welt angezogen, wie ein Stein, der, während er sich erhebt, aufgrund der ständigen Anziehung, die die Erde auf ihn ausübt, fällt. Sich unter dem eidos, den reinen Formen zu installieren, ist eine Niederlassung in Zweierpotenz der Sicherheit und positiven Distanzierung von der natürlichen Welt" (García Bacca, 1990, 70). In diesem Punkt, so scheint mir, missdeutet García Bacca die Wesensanschauung. Wie Husserl sie begreift, fußt sie immer auf dem empirischen Boden der Wahrnehmung und dem intuitiven Boden der imaginativen Variation. Ihre Allgemeingültigkeit besteht nicht darin, dass sie alle Exemplare der eide umzufassen beansprucht, sondern darin, dass wir immer wieder Beispiele anführen können, die nähere wesentliche Bestimmungen von Gegenständen erlauben — auch im mathematischen und geometrischen Bereich. Dies macht die Wesensanschauung und die Begrifflichkeit der Phäno-
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Gegenständlichkeiten einer eidetischen Welt ein, um sie zu beurteilen, zu bejahen oder zu verneinen, über sie zu sprechen.
Es gibt ferner eine transzendentale Phänomenologie. Sie befasst sich nicht mehr mit den Wesen der Gegenstände, sondern mit den transzendental reduzierten Phänomenen. Sie spürt alle Akte auf, die uns mit real-natürlichen oder eidetischen Objekten verbindet, und setzt sie in Klammern bzw. außer Kraft. Das transzendentale Bewusstsein installiert sich nicht mehr durch affirmative oder negative Sätze in den Gegenständen8, sondern macht die Entdeckung, dass die These der natürlichen Einstellung, ihr Setzungsakt, in seiner Hand liegt. Es kommt auf die Freiheit des transzendentalen Subjektes, sich für oder gegen die Gegenstände auszusprechen, ohne dass ihre Beschaffenheit berührt. Sie sind immer noch im transzendentalen Bewusstsein präsent wie in einem Spiegel9.
menologie für Offenheit und Präzisierung wie auch für Korrektur tauglich. Ebendeshalb halte ich den unbewussten Fehler, den manche Phänomenologen unter dem Vorwand Phänomenologie als strenge Wissenschaft zu betreiben, noch heute begehen, für noch gravierender: phänomenologische Grundbegriffe und eidetische Bestimmungen als eine Art intuitus originarius darzustellen, die für einen apriorischen Konsens daständen.
In seinem Lesebuch La fenomenología en México. Historia y Antología scheint Antonio Zirión die „literarische Logik", von der García Bacca in anderen Texten spricht, mit dessen Vorstellung von der „richtig praktizierten" transzendental-phänomenologischen Einstellung gleichzusetzen. Der Punkt, der Antonio Zirión irritiert, liegt darin, dass in dieser literarischen Logik „weder die Behauptung noch die Affirmation, die Negation, des modus ponens oder des modus tollens einen logischen Wert hätten, noch die Wahrheitswerte usw." (Zirión, 2009, 86), und dass García Bacca diese Logik und diesen literarischen Stil denen von Husserl gegenüberstellt, die „eher der natürlichen Einstellung zuzuordnen sind, in der man bejaht und verneint, zwischen Wahrheit und Falschheit unterscheidet, Sachen feststellt, sie als Thesen aufstellt usw." (Zirion, 2009, 86). Dieser Vorwurf ist teilweise gerechtfertigt, insoweit García Bacca aus dem transzendentalen Subjekt eine Instanz macht, die die reinen Phänomene, die ihm wie auf einer „Kinoleinwand" dargestellt werden, weder bejaht noch verneint. Doch ist das transzendentale Subjekt immer mit den reinen Phänomenen beschäftigt, indem es kein bloßer Zuschauer der reinen Phänomene (deren Objektivität es des Weiteren nicht in Frage stellt) ist, sondern ein weltkonstituierendes Subjekt. Was Zirións Kritik betrifft, übersieht sie jedoch, dass García Bacca den Verzicht auf Affirmation und Negation nicht zunächst in einer rein literarischen Logik ansiedelt. Im Gegenteil, García Bacca zufolge war dieser Verzicht eine Bedingung für die Möglichkeit des Fortschritts in der Geometrie, der Mathematik, der Naturwissenschaft und der eidetischen Phänomenologie (was er in Siete modelos de filosofar nachdrücklich behauptet, jedoch nicht in Nueve grandes filósofos contemporáneos y sus temas). García Bacca stützt sich zunächst auf keine literarische Logik alleine, sondern auf seine Überlegungen über die Philosophiegeschichte und die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften, einschließlich die der Phänomenologie. Ich habe mich mit diesem Ansatz von García Bacca in Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika. Ein Lesebuch (Ferrer, Schmich & Pérez-Gatica, 2022, 136-143) befasst. „Das Großartige an unserem Fall ist, dass dieser Setzungsakt oder These in unserer Hand liegt. Das ist das Faktum, auf dem die transzendentale Phänomenologie beruht" (García Bacca, 1990, 71). Diese Interpretation der Husserl'schen Phänomenologie berücksichtigt die Unterscheidung zwischen eide-tischer Reduktion und transzendentaler Reduktion. García Bacca besteht jedoch allzu sehr darauf,
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García Bacca vergleicht die transzendentale Einstellung mit arithmetischen Sätzen wie 1 + 2 + 3 + 4 und 1 . 2 . 3 . 4. Es handelt sich dabei um eine bloße Angabe ohne Addition oder Multiplikation. Es steht dem Mathematiker frei, die Sätze von ihren Ergebnisse zu trennen: 1 + 2 + 3 + 4 = 10; 1 . 2 . 3 . 4 = 24. Ähnlich bejaht oder verneint das transzendentale Subjekt die Gegenstände nicht, sondern betrachtet sie als jemand, den es „nicht die Bohne interessiert", als ob man ihm von ihnen erzählte (García Bacca, 1990, 72). Weder bejaht noch verneint es z.B. den mathematischen Satz: „Zwei plus zwei ist vier". Dieser stellt sich vielmehr dem transzendentalen Bewusstsein folgenderweise dar: „Es sei in der natürlichen Einstellung gesagt, dass zwei plus zwei vier ist". Zugleich ist der transzendentale Akt oder die transzendentale Erfahrung des Hörens von „zwei plus zwei sind vier" voll präsent, fest und sicher in dem Ausmaß, in dem „ich mich selbst dazu bringe, es zu sagen". Das transzendentale Subjekt bringt eine neuartige Notwendigkeit mit sich, bei der seine eigene Realität und die Setzung seines freien Aktes gleichwertig werden10.
Mit anderen Worten: Die Notwendigkeit des transzendentalen Subjektes besteht in der realen Möglichkeit einer Reflexion, die den wesentlichen Charakter einer evidenten und unangreifbaren Selbstsetzung hat. Phänomenologische Reflexion bedeutet hier „Bewusstwerdung" der eigenen transzendentalen Realität. Sie ist für den Phänomenologen eine höchste, unübertreffliche und evidente Weise, sich selbst
die phänomenologisch-transzendentale Reflexion mit einem Akt der Freiheit gleichzusetzen, der das Subjekt zu einem distanzierten Zuschauer der Objekte und der Welt macht (In diesem Sinne scheint mir Antonio Zirión in gewissem Maße Recht zu haben, wenn er schreibt: „García Bacca betont am Ende vielleicht übertrieben die Freiheit unserer Thesen- oder Setzungsakte, unsere ,ontologische Realmacht': Wir seien frei, alles Setzen ,auszuräumen, wir haben Lust, uns zu deinstallieren." (Zirión, 2009, 84). Man vermisst bei García Bacca eine nähere Betrachtung der phänomenologischen Reduktion als Freilegung der weltkonstituierenden Leistungen des transzendentalen Subjektes, wobei zu beachten ist, dass er das transzendentale Subjekt nicht zum absoluten Zentrum oder Prinzip machen wollte, sondern es als eine spontane Schöpfung bzw. ein im Lauf der Entwicklung unvorhersehbar entstandenes Seiendes beschreibt. Eine solche Fragestellung, die nicht ganz richtig ist, was den Husserl'schen Begriff des transzendentalen Subjekts und seine konstitutiven Leistungen betrifft, interessiert allerdings die gegenwärtige Phänomenologie. Denn es ist nicht nur wichtig, die Konstitution der Welt durch und im transzendentalen Subjekt zu beschreiben, sondern auch, wie es (nicht kausal) durch die reale Welt im Werden faktisch konstituiert und bedingt wird.
10 García Bacca unterscheidet scharf zwischen der faktischen Notwendigkeit der phänomenologi-schen Reflexion und der Notwendigkeit, die dem einzelnen Fall eines eidetischen Gesetzes eigen ist: „Das Vorhandensein oder die überprüfbare Tatsache der ,Reflexion, des Bewusstseins, in einer mehr oder weniger expliziten Form [...] erhebt die Erfahrungswirklichkeit zur Ebene einer faktischen Notwendigkeit, die allen eidetischen Notwendigkeiten — mathematischen, logischen. — allen einfachen Wirklichkeiten, die zu einer intrinsischen Reflexion bzw. zum Bewusstsein unfähig sind, überlegen ist. Da die Reflexion eine positive Tatsache ist, ist die Phänomenologie positiv gerechtfertigt als die sicherste Wissenschaft, abgesehen davon, dass sie, im Vergleich zu allen anderen, originell und neu ist" (García Bacca, 1990, 80).
Wirklichkeit zu geben und als transzendentales Subjekt real zu sein. Solange die Reflexion vollzogen wird, gibt es keine mögliche Ursache, die die bewusst gewordenen Akte verschwinden lässt. Das reflektierte Erlebnis ist als solches real, konkret, ursprünglich, und es wird zugleich durch die Reflexion gesetzt.
Dadurch erweist sich die Reflexion als verstärkte Setzung der Subjektwirklichkeit. Sie erhebt die intentionalen Erlebnisse zu einer höheren Ebene, einer Realität Zweierpotenz und einem Zustand, in dem das transzendentale Subjekt und sie faktisch notwendig werden. (Als Noeme büßen die Korrelate der intentionalen Erlebnisse die Leistungen ihrer intrinsischen Realität ein, jedoch nicht ihre erkenntnismäßige Objektivität). Das phänomenologische Subjekt installiert sich in der „inneren Burg" (castillo interior) des eigenen Selbst an und erlebt sich dadurch als faktisch-notwendig, solange es die epoché und die phänomenologische Reduktion durchführt. Aber trotzdem leidet die phänomenolo-gische Reflexion (die real ist und bestehen bleibt) unter einer „Gravitation" der reinen Erlebnisse zum Zustand des „An-sich". Die phänomenologische Reduktion besteht in einer maximalen Potenzierung des Seins des Subjektes in Bezug auf die begriffliche und eidetische Betrachtung von Gegenständen. Dennoch steht sie in einem Spannungsverhältnis zur Gegentendenz der Erlebnisse, in die Unbewusstheit zu fallen, bloß „an sich" zu sein11.
3. DAS TRANSZENDENTALE BEWUSSTSEIN UND DAS TODESKÄMPFENDE BEWUSSTSEIN
Es ist kein Zufall, dass García Bacca nach dem Kapitel über die Husserl'sche Phänomenologie mehrere Seiten der Philosophie Miguel de Unamunos gewidmet hat (García Bacca, 1990, 83-148). Dessen zentrale Thema ist die maximal reale Potenzierung
11 Wäre die reale Macht der Reflexion absolut, so gäbe es keinen Zusammenhang mehr zwischen den reflektierten intentionalen Erlebnissen und ihren Objekten. Aber gerade diese reale Verbindung ist es, das sie im reflexiven Bewusstsein mit ihrer objektiven Anwesenheit zur Erscheinung bringt. „Wenn die Grundwirklichkeit unserer Erfahrungen erhöhbar bzw. durch Reflexion aufhebbar wäre, dann wären wir von den Gegenständen losgelöst. Sie müssten nicht einmal als Noemen präsent sein. Dies muss bei Gott der Fall sein. Wir wären dann nicht nur mit faktischer oder empirischer Notwendigkeit, sondern auch mit absoluter Notwendigkeit notwendig [...]." (García Bacca, 1990, 80). Aus diesen Überlegungen García Baccas stellt sich eine phänomenologische Tatsache heraus, nämlich ein dem transzendentalen Subjekt innewohnender Dynamismus, der es dazu bringt, sich über die endlichen Modi der Erkenntnis und der Anschauung zu emporheben. Wenn man ferner einen Aspekt einbezieht, der in García Baccas Lektüre der Husserl'schen Phänomenologie zu fehlen scheint, der aber in dieser einen wichtigen Platz einnimmt, könnten wir zum Beispiel von der Tendenz des weltkonstituierenden transzendentalen Subjekts sprechen, reale Gegenstände allseitig wahrzunehmen, die Anderen durch eine universelle Einfühlung zu verstehen (was ein Eckpfeiler der phänomenologisch zu beschreibenden religiösen Erfahrung ist).
des Bewusstseins. Die transzendentale Phänomenologie, wie García Bacca sie interpretiert, verortet den maximalen Grad dieser Potenzierung in der phänomenologischen Reduktion. Durch sie befreit sich das Subjekt von den Objekten, die es mit Hilfe allgemeingültiger Begriffe durch Wesensanschauung erkennt. Das transzendentale Subjekt wird so in einem Akt völliger Freiheit zum Zuschauer der natürlichen Welt sowie aller anderen möglichen Welten (mathematisch, geometrisch, formal-logisch, axiologisch usw.)
Sowie das Spannungsverhältnis der phänomenologischen Reflexion zu den einzelnen Erlebnissen als auch die Distanzierung des transzendentalen Subjektes von den Gegenständen werfen weitere Fragen auf. Eine erste betrifft die Möglichkeit einer stärkeren Potenzierung des Bewusstseins, zu der es ebenso in der phänome-nologisch-transzendentalen Einstellung unweigerlich tendiert. Diese Frage findet in der modernen westlichen philosophischen Tradition, die Erkenntnis und Anschauung bevorzugt, kaum eine Antwort. Descartes gilt als Begründer der Bewusstseinsphilosophie, indem er betont, dass man alles bezweifeln kann, außer der Tatsache, dass man seiner selbst bewusst ist. So thematisiert er zum ersten Mal in der Philosophiegeschichte das Bewusstsein als reinen Ort der Präsentation. Metaphorisch ausgedrückt: als eine Art Bildschirm, auf dem sich allerlei Erscheinungen aufeinanderfolgen. Nach García Bacca vermag die philosophische Tradition, die Husserl begründet hat, keine andere Art Potenzierung des Bewusstseins zu thematisieren als die Selbstreflexion. Das Verdienst von Miguel de Unamuno liege darin, zu zeigen, dass das hartnäckige Festhalten im reinen, reflexiven Selbstbewusstsein eine „Abstraktion" ist und gar eine „reale Verstümmelung und Gewalt" an der Wirklichkeit des Subjektes ausübt (García Bacca, 1990, 86). Unamuno seinerseits bemühe sich darum, das Bewusstsein wieder mit dem konkreten Menschen „aus Fleisch und Blut" zu vereinen. Die neuzeitliche Philosophie hatte sich gegen jegliche Einmischung des konkreten Menschen und des Gefühls in den Bereich des Bewusstseins abgeschirmt. Unamuno habe im Gegenteil gezeigt, dass das Eindringen des tragischen Lebensgefühls eine reale Grundlage und philosophische Konsequenzen hat.
Für Unamuno resultiert das tragische Gefühl des Lebens aus einer Spaltung zwischen dem Willen und der Vernunft. Ersterer strebt notwendigerweise die Unsterblichkeit und Fortsetzung des Bewusstseins an, die die Vernunft nicht zu beweisen vermag. García Bacca greift dieses Konzept auf und verbindet es mit dem, was er „todeskämpfendes Bewusstsein" (conciencia agónica) nennt. Es handelt sich dabei um einen Begriff, die aus einer berühmten Stelle aus Del sentimiento trágico de la vida stammt:
In der Tat ist es für uns auch unmöglich, die Vorstellung unserer Nichtexistenz zu fassen,
das heißt mit der Vorstellung unseres Ich zu verbinden. Und keine Kraft reicht dafür aus,
dass das Bewusstsein sich Rechenschaft von seiner absoluten Bewusstlosigkeit, seiner ei-
genen gänzlichen Vernichtung gäbe. Der Leser bemühe sich, in ganz wachem Zustande den Zustand seiner Seele während eines tiefen Schlafes nachzubilden, sein Bewusstsein mit der Vorstellung des Unbewusstseins ganz zu erfüllen; und er wird mir recht geben. Das Bemühen, solches zu begreifen, macht uns in der furchtbarsten Weise schwindeln. Wir können uns nicht als nicht existent vorstellen. (Unamuno, 1925, 49-50)
García Bacca interpretiert diese Zeilen weniger als ein Gedankenexperiment denn als ein reales Schmerzprogramm (programa de dolor) unseres Bewusstseins. Durch den Versuch, sich den Bewusstseinstod vorzustellen, macht Unamuno die Vernunft und den Willen schmerzhaft auf sich aufmerksam. Es handelt sich dabei um eine Art von „ontologischem Sadismus", der den Schmerz des Willens und der Vernunft herbeiführt und dadurch zeigt, dass sie zu uns noch realer gehören als die bloße Reflexion über die Verstand- und Willensakte. Ein solcher Schmerz des eigenen ganzen Seins ist gleichbedeutend mit dem todeskämpfenden Bewusstsein.
Der Schmerz erweist sich sowohl als Bedingung der Möglichkeit für das höchstpotenziertes, reales Selbstbewusstsein zu haben, wie auch als eine Kategorie der Wirklichkeit: „Das ontologische Wesen des Schmerzes besteht jedoch nicht in erster Linie und im Wesentlichen darin, dass er ein Übel voraussetzt, sondern darin, dass er uns auf ursprüngliche, ganz bestimmte und höchst sichere Weise unsere Wirklichkeit und ihren Grad offenbart" (García Bacca, 1990, 91). Für Heidegger zeigt die Angst unsere Existenz als Last auf12. Unamunos Ansatz ist radikaler. Der Mensch könne sein Bewusstsein freiwillig in Agonie versetzen (Letztlich ist das todeskämpfende Bewusstsein kein bloßes Ergebnis eines Gedankenexperiments, sondern die ursprüngliche Konstitution des Subjektes, das weiß, dass es sterblich ist und dem Tod widersteht). Unamuno wendet sich damit gegen die theologische und philosophische Tradition, die das Bewusstsein auf das rein Gegenständliche und Schmerzlose verengt. Mit Unamuno García Bacca behauptet, dass der Schmerz das reale Selbstbewusstsein steigert. Schmerzhaftes todeskämpfendes Bewusstsein schärft das Gegenwartsbewusstsein, indem wir uns real fühlen, um unsere Realität kämpfen und sie in der Schwebe halten.
12 Um genau zu sprechen, redet Heidegger im §29 von Sein und Zeit über „Last", um die ontologische Bedeutung von Gefühlen oder eines Zustands scheinbarer affektiver Unbestimmtheit aufzuzeigen: „Der ungestörte Gleichmut ebenso wie der gehemmte Missmut des alltäglichen Besorgens, das Übergleiten von jenem in diesen und umgekehrt, das Ausgleiten in Verstimmungen sind ontolo-gisch nicht nichts, mögen diese Phänomene als das vermeintlich Gleichgültigste und Flüchtigste im Dasein unbeachtet bleiben. Dass Stimmungen verdorben werden und umschlagen können, sagt nur, dass das Dasein je schon immer gestimmt ist. Die oft anhaltende, ebenmäßige und fahle Un-gestimmtheit, die nicht mit Verstimmung verwechselt werden darf, ist so wenig nichts, dass gerade in ihr das Dasein ihm selbst überdrüssig wird" (Heidegger, 1977, 178-179).
Im Gegensatz zu Heidegger lässt Unamuno das Nichts nicht einfach erscheinen13. Er zeigt, dass das reale Subjekt sich gegen es heftig widersteht. Das Scheitern des Gedankenexperiments (eines bewussten Selbstmordes) bestätigt potenziell nicht nur die Tatsache des Denkens (cogito ergo sum), sondern die reale Existenz, die sich gegen das Nichts auflehnt14. Dadurch wird des Weiteren eine andere, höhere faktische Notwendigkeit des Selbstbewusstseins festgestellt. García Bacca redet zunächst von einer ersten Potenzierung des todeskämpfenden Bewusstseins, die zur Nullpotenz eines rein vergegenwärtigenden Stils entgegenkommt. Die reale Unmöglichkeit, mich als nichtexistierend vorzustellen, unterscheidet sich von der reinen Gewissheit des cogito und der phänomenologisch-transzendentalen Reflexion sowie zum existenzia-listischen „Ich existiere", auch wenn alle Objekte verschwinden, sei es durch methodischen Zweifel oder Angst. Die zweite Potenzierung ergibt sich aus der Abscheu vor der Vernichtung, wodurch meine Wirklichkeit von einer potenziellen Notwendigkeit zu einer aktuellen erhoben wird:
Solange wir uns unserer selbst bewusst sind, ist es unmöglich, dass uns unser Sein gestohlen wird, wie wir in dem Husserl gewidmeten Kapitel ausführlich dargelegt haben. Unamuno gibt ihm hier nicht nur die äußere, sondern auch die innere, neue Formulierung: „Solange ich mir bewusst bin, ist es unmöglich, sich vorzustellen oder zu denken, dass ich es nicht haben kann"; daher existiere ich in der Zwischenzeit notwendigerweise; außerdem „vor dem Gedanken oder der Vorstellung, dass ich aufhören könnte zu existieren, fühle ich einen unbesiegbaren und eindringlichen Schrecken, einen Widerwillen". Deswegen ist es, solange ich mir dieses Schreckens bewusst bin, widerwärtig, dass ich aufhöre zu existieren. Daher existiere ich in der Zwischenzeit notwendigerweise. Diese Schlussfolgerungen sind nicht theoretisch feststellbar, sondern real und gefühlsmäßig spürbar. (García Bacca, 1990, 100)
Zum Abschluss dieses Artikels (der einen zweiten Teil haben wird) weise ich nun auf Folgendes hin: Das Problem, das García Bacca der gegenwärtigen Phänome-nologie stellt, ist im Grunde genommen das der faktischen Notwendigkeit der transzendentalen Subjektivität — sofern sie dem Bewusstsein weniger durch Ref-
13 Zu García Baccas Interpretation Heideggers siehe vor allem das ihm gewidmete Kapitel in Nueve grandes filósofos contemporáneos y sus temas (García Bacca, 1990, 149-184).
14 Unamunos Intensivierung des Bewusstseins lässt ihn erkennen, dass die volle Befriedigung des bewussten Lebens weniger in der objektiven Erkenntnis als vielmehr im Steigern der eigenen Tätigkeit besteht, also im Verharren im Bewusstsein. „Nicht die Befriedigung des Wissens eigentlich, sondern des Forschens und des Erfahrens. Wenn man irgendeinen Gegenstand für sich neu kennenlernt, so besteht zugleich die Tendenz, ihn zu vergessen, oder, wenn man so sagen darf, das Wissen von ihm unbewusst zu machen. Die Befriedigung, der reinste Genuss, heftet sich nun an den Akt der geistigen Erfahrung, des Erlernens oder Erwerbens der Erkenntnis, mit anderen Worten an den Akt der Unterscheidung" (Unamuno, 1925, 283).
lexion als durch das Gefühl des Widerstands gegen die Vernichtung des eigenen Seins erscheint. Die Notwendigkeit des transzendentalen Faktums ist eine Frage, die László Tengelyi in seinem posthumen Werk Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik anschneidet. Er unterscheidet dort vier Gruppen von Urtatsachen: Ich, Welthabe, Intersubjektivität und Geschichtlichkeit, deren faktische Notwendigkeit phänomenologisch beschrieben werden muss (Tengelyi, 2014, 180-227). Die Aufsätze über Husserl und Unamuno in Nueve grandes filósofos contemporáneos y sus temas bringen zu diesem Ansatz zwei neue Fragestellungen bei: Zum einem die Frage nach einer Dynamik der Seinspotenzierung der transzendentalen Subjektivität (die ich in groben Zügen umrissen habe); zum anderen die Frage nach der Sterblichkeit des empirischen Subjektes und der Unsterblichkeit des transzendentalen Subjektes. All dies ist ein Beispiel dafür, wie die Geschichtsschreibung der frühen Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika die gegenwärtige phänome-nologische, am Werk Edmund Husserls orientierte Forschung mit einer neuartigen Problemkonstellation konfrontiert.
REFERENCES
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