Научная статья на тему 'Хамелеон в камуфляже. Думать о войне – вести войну в Европе'

Хамелеон в камуфляже. Думать о войне – вести войну в Европе Текст научной статьи по специальности «Гуманитарные науки»

CC BY
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Ключевые слова
международное право / война / демократический мир / угроза / восприятие / безопасность / ядерное сдерживание / Россия / international law / war / democratic world / threat / perception / security / nuclear deterrence / Russia

Аннотация научной статьи по Гуманитарные науки, автор научной работы — Лапинс Вульф

С точки зрения международного права и в политическом плане, а часто и эвфемистически, межгосударственная война сегодня определяется как конфликт. Тем не менее она остается «настоящим хамелеоном». Ее политические, военные, социально-экономические и культурные условия коренным образом отличаются от тех, которые были во времена Клаузевица. Максимы примата политики и соотношение политической и военной цели, средств войны продолжают действовать и в контексте ядерного сдерживания и его ключевых факторов, таких как потенциалы, возможности, угроза, восприятие, доверие.

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A Chameleon in Camouflage. Think About the War – Waging War in Europe

From the point of view of international law and in political terms, and often euphemistically, an interstate war is now defined as a conflict. Nevertheless, she remains a «real chameleon.» Its political, military, socio-economic and cultural conditions are radically different from those that existed in the time of Clausewitz. The maxims of the primacy of politics and the ratio of political and military goals and means of war continue to operate in the context of nuclear deterrence and its key factors, such as potentials, capabilities, threat, perception, and trust.

Текст научной работы на тему «Хамелеон в камуфляже. Думать о войне – вести войну в Европе»

Научная статья

УДК 327

Хамелеон в камуфляже. Думать о войне - вести войну в Европе

Лапинс Вульф

Институт международной политики WeltTrends, Потсдам, Германия

Wulf.Lapins@gmx.de

Аннотация. С точки зрения международного права и в политическом плане, а часто и эвфемистически,

межгосударственная война сегодня определяется как конфликт. Тем не менее она остается «настоящим хамелеоном». Ее политические, военные, социально-экономические и культурные условия коренным образом отличаются от тех, которые были во времена Клаузевица. Максимы примата политики и соотношение политической и военной цели, средств войны продолжают действовать и в контексте ядерного сдерживания и его ключевых факторов, таких как потенциалы, возможности, угроза, восприятие, доверие.

Ключевые слова: международное право, война, демократический мир, угроза, восприятие, безопасность, ядерное сдерживание, Россия

Для цитирования: Лапинс В. Хамелеон в камуфляже. Думать о войне - вести войну в Европе // Вестник Московского государственного лингвистического университета. Общественные науки. 2024. Вып. 2 (855). С. 22-32.

Original article

A Chameleon in Camouflage. Think About the War - Waging War in Europe

Wulf Lapins

WeltTrends Institute for International Relations in Potsdam, Germany Wulf.Lapins@gmx.de

Abstract.

Keywords: For citation:

From the point of view of international law and in political terms, and often euphemistically, an interstate war is now defined as a conflict. Nevertheless, she remains a «real chameleon.» Its political, military, socio-economic and cultural conditions are radically different from those that existed in the time of Clausewitz. The maxims of the primacy of politics and the ratio of political and military goals and means of war continue to operate in the context of nuclear deterrence and its key factors, such as potentials, capabilities, threat, perception, and trust.

international law, war, democratic world, threat, perception, security, nuclear deterrence, Russia

Lapins, W. (2024). A chameleon in camouflage. Think about the war - waging war in Europe. Vestink of Moscow State Linguistic University. Social Sciences, 2(855), 22-32.

Das Chamäleon im Flecktarn Krieg denken - Krieg führen in Europa

Wulf Lapins

WeltTrends-Institut für Internationale Politik in Potsdam, Deutschland, Bonn

Wulf.Lapins@gmx.de

Zusammenfassung. Völkerrechtlich und politisch oft auch euphemistisch verwendet, wird der zwischenstaatliche Krieg heute als Konflikt definiert. Gleichwohl bleibt er ein „wahres Chamäleon". Seine politischen, militärischen sozioökonomischen, und kulturellen Bedingungen sind gegenüber denen in der Zeit von Clausewitz zwar grundverschieden. Die „Maximen" vom Primat der Politik und die Zweck-ZielMittel Relation sind im Kontext von nuklearer Abschreckung und seiner Schlüsselfaktoren, wie Potenziale, Fähigkeiten, Be-/Drohung, Perzeption, Glaubwürdigkeit aber weiterhin gültig.

Stichworte: Völkerrecht, Krieg, Demokratischer Friede, Bedrohung, Perzeption, Sicherheit, Nukleare Abschreckung,

Russland

For citation: Lapins, W. (2024). Das Chamäleon im Flecktarn. Krieg denken - Krieg führen in Europa. Vestink of

Moscow State Linguistic University. Social Sciences, 2(855), 22-33.

KRIEG UND VÖLKERRECHT

Im klassischen völkerrechtswissenschaftlichen Schrifttum werden als objektive Kriterien für „Krieg" der bewaffnete Kampf zwischen Staaten oder Staatenkoalitionen sowie Quantität und Qualität des eingesetzten Kampfgeräts oder die Stellung eines Ultimatums angeführt. Mit Verweis auf die im März 1945 erfolgte Kriegserklärung von Argentinien gegen Deutschland, jedoch ohne resultierende Kriegshandlungen, wird in der Literatur aber angemerkt, dass der Waffeneinsatz nicht zwingend konstitutiv für den Kriegstatbestand sei1. Andere Völkerrechtler charakterisieren Krieg als „Gewaltmaßnahmen unter Abbruch der diplomatischen Beziehungen" [Kimminich, Hobe, 2004].

Als subjektiver Definitionsindikator gilt die Entschlossenheit / Wille zur Kriegsführung durch entsprechende dezidierte Aussagen oder faktisch durch Art und Weise oder Intensität der vermittelten Feindseligkeit. Die in starker Anlehnung an Clausewitz vertretene Position, ein weiteres entscheidendes Merkmal sei auch das„Ziel militärischer Niederringung des Gegners"2, wird so argumentiert nicht generell geteilt.

Vor dem Hintergrund des Kriegsverbots (Kriegsächtung) durch den Briand / Kellogg-Pakt von 1928 und insbesondere durch das generelle zwischenstaatliche Gewaltverbot in Artikel 2 Abs. 4 der UN-Charta von 1945 werden heute offizielle Kriegserklärungen so gut

1Meng, Werner, War. Encyclopedia of Public International Law, Vol. IV, 2000.

2Ipsen Knut Völkerrecht, München 2004, § 66, Rn. 10.

wie gar nicht mehr ausgesprochen. „Dies ist einerseits sicherlich die Folge des mit einem Überraschungsangriff verbundenen militärischen Vorteils". Es mag dafür aber auch die Scheu der Staaten sein, „ihren Rechtsverstoß durch eine Kriegserklärung offenkundig werden zu lassen, also dem 'Odium eines' Angriffskrieges / der Rechtswidrigkeit' zu entgehen" [Epping, 1991]. Zu den deshalb eher seltenen Fällen des förmlichen Kriegseintritts zählen der britisch-argentinische Falklandkrieg von 1982, der irakisch-iranische Krieg (erster Golfkrieg) von 1980-1988 sowie der AfghanistanEinsatz (2001-2021) als „Krieg gegen den Terror".

Zudem: „Seit dem 2. Weltkrieg wird der Kriegsbegriff von den Staaten im Völkerrechtsabkommen und von der Völkerrechtsliteratur seltener verwendet. Stattdessen sprechen sie von 'internationalen bewaffneten Konflikten' und 'nicht-internationalen bewaffneten Konflikten'... Der Sammelbegriff 'internationaler bewaffneter Konflikt' umfasst sämtliche Erscheinungsformen zwischenstaatlicher Anwendung von Waffengewalt". Der nicht-internationale bewaffnete Konflikt beschreibt den Gewaltaustrag von regulären staatlichen Streitkräften gegen im Land beheimatete / interne Aufständische. „Im Unterschied zum klassischen Kriegsbegriff ist also nicht mehr erforderlich, dass die Konfliktparteien ihre Kriegsführungsabsicht kundtun"3.

Im vorliegenden Artikel verwendet der Autor jedoch aus didaktischem Grund die umgangssprachliche Kategorie Krieg.

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages.

URL: https://www.bundestag.de/resource/blob/494606/1e69675dfb469

de68e2ba1d507324395/WD-2-175-07-pdf-data.pdf S. 4

CLAUSEWITZ

Oft werden in westlichen Demokratien Politik und Krieg als ein antagonistischer Widerspruch wegen beider entgegengesetzten politischen Erscheinungsformen begriffen. Durch das postulierte Axiom, Politik habe die Aufgabe, Gewaltkonflikte deeskalierend einzuhegen und diplomatisch in Kompromisse zu überführen, wird der Krieg dann meist als Niederlage und Versagen der Politik begriffen. Demgegenüber hatte der Militärtheoretiker und -stratege Carl v. Clausewitz bereits in dem nach seinem Tod im Jahr 1831 veröffentlichten Hauptwerk „Vom Kriege" dessen Verhältnis zur Politik anders definiert: „So sehen wir also, daß der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln'1.

Idealtypisch werden Kriege auf dem Schlachtfeld entschieden und am Verhandlungstisch politisch beendet. Kriegsparteien kämpfen aber oft parallel zu laufenden Friedensverhandlungen weiter, um bessere Verhandlungspositionen zu erwirken. Exemplarisch hierfür stehen der Vietnamkrieg und der Afghanistankrieg mit ihren Geheimgesprächen in Paris bzw. Doha. Die UdSSR beendete ihre 10-jährigen Krieg in Afghanistan mit ihrem Truppenabzug indes ohne vorgelagerte politische Befriedung, so dass hiernach dort ein mehrjähriger Bürgerkrieg ausbrach. Und eingefrorene Konflikte können nach Jahren erneut in reale Kriege umschlagen, wie dies jüngst beispielhaft Aserbaidschan und Armenien in Berg-Karabach demonstrierten. Solange Krieg von der Politik als ein Instrument bewertet und eingesetzt wird, sind politische Regelungen verhandelbar, weil die Domäne bei der Politik liegt. Wenn jedoch Clausewitz auf den Kopf gestellt wird und Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln begriffen wird, also die Domäne des Krieges über die Politik gilt, dann sind politische Friedenskompromisse nur sehr schwer zu erzielen.

DEMOKRATISCHER FRIEDE

Um Jahrtausendwende thematisierte die europäische Friedens- und Konfliktforschung [Kaldor, 2000; Münkler, 2002] das Aufkommen sogenannter „neuer Kriege", die mitunter auch als Sprachschöpfung „kleine Kriege" [Daase, 1999] oder „asymmetrische Kriege" [Schröfl, Pankratz, 2004] genannt werden, außerhalb von Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts im Kontext von Gewaltökonomien / transnationalen

1Clausewitz Carl v. URL: https://www.clausewitz-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2014/12/VomKriege-a4.pdf

Kriegen als „soziale(n) Raum, in dem die Verteilung und Aneignung von Ressourcen gewaltgesteuert verläuft" [Schlichte, 2002]. Für Europa hingegen perzipierte der damalige britische EU-Diplomat eine Friedensstabilität und versuchte diesen Befund mit der Postmoderne zu erklären [Cooper, 2003]. Der klassische Staatenkrieg sei ein „historisches Auslaufmodell" wurde ihm aus der Politikwissenschaft sekundiert und erhob „diese Feststellung zum festen Repertoire der Voraussagen für das 21. Jahrhundert... Für Europa wird man das sagen können - jedenfalls, wenn man den Balkan und die südöstlichen Ränder des Kontinents außer Betracht lässt, - aber kaum für Afrika, den Nahen und Mittleren Osten und Zentralasien. Hier zeigt sich, dass der Krieg keineswegs verschwunden ist, sondern nur seine Gestalt gewechselt hat"2.

Der damit implizit diagnostizierte europäische Friede umfasst geographisch jedoch nur das Europa der Integration. Implizit wird damit der „demokratische Friede" das Wort geredet, wonach Demokratien keine Kriege gegeneinander führen. In vielen empirischen Untersuchungen3 wurde eine sich gegenseitige Friedensverstärkung durch Demokratie / Rechtsstaatlichkeit, politische / ökonomische Inter-dependenz, Handel und vergemeinschaftete Institutionen als die vier Essentials des kollektiven Europas nachgewiesen [Geis, Wagner, 2006]. Durch die gewollte Entnationalisierung / Kollektivierung von elementaren Roh- und Grundstoffen für potenzielle Kriegsrüstungsgüter legten bereits 1951 Westdeutschland, Benelux-Staaten, Frankreich und Italien mit der Gründung der supranationalen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS / Montanunion) eine Friedensbasis. Im Rahmen der Römischen Verträge von 1957 gründeten dieselben Staaten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und zur Kontrolle und Koordinierung der zivilen Forschung und Nutzung der Kernenergie die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM). Durch den Vertrag von Maastricht 1993 wurde diese Wirtschaftsunion in Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannt, die mit dem Vertrag von Lissabon 2007 die völkerrechtliche Grundlage der Europäischen Union (EU) mit derzeit 27 Mitgliedsstaaten und 9 Kandidatenländern bildet.

Gleichwohl darf die Friedensstiftung von Demokratien nicht idealisiert werden. Auch sie verfügen über inhärente Gewaltdispositionen und militärische Gewaltpotenziale und setzen diese kriegsmäßig nach politischer Interessenlage auch ein. Sei es in z.B.

2Münkler H. URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30520/ neues-vom-chamaeleon-krieg-essay/

3Constanze Scheel. URL: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0175-274x-2007-4-208.pdf?download_full_pdf=1 (30.3.2024)

Afghanistan und Mali mit UN-Sicherheitsratsmandat, sei es im Irak ohne Mandat des Sicherheitsrates. Mit anderen Worten, natürlich führen auch Demokratien Kriege, aber zumindest in der jüngeren Geschichte eben nicht gegeneinander. „(D)emocracies have been few in number over the past two centuries, and thus there have not been many cases where two democracies were in a position toßght with each other" [Mearsheimer, 1990].

BEDROHUNG - BEDROHUNGSPERZEPTION

Bedrohung wird im täglichen Sprachgebrauch in der Regel in Verbindung mit den psychologischen Kategorien Angst und Furcht sowie im politischen Kontext mit den Begriffen Sicherheit, Verteidigung und Abschreckung konnotiert. Die Psychiatrie und Neurologie ordnet Angst zur „Gruppe der phylogenetisch alten Lebensschutzinstinkte. Wir sprechen von Angst, wenn das Objekt des Unbehagens nicht bewusst ist oder wenn keine Möglichkeit besteht, die Gefahr abzuwenden. Furcht dagegen bedeutet, dass er Mensch das Gefahrenmoment erkennt und auch Wege zur Abwehr sucht"1. Angst ist also nicht zielgerichtet, vielmehr diffus, mitunter auch irrational. Furcht dagegen ist konkret auf eine erkannte Gefahrenquelle bezogen.

Eine Bedrohung wird wahrgenommen, wenn sie mit Vorstellungsbildern aus dem eigenen Erfahrungsrepertoire oder mit als angenommenen objektiv beurteilten Fakten korreliert. Fähigkeiten und Absichten sind hierbei zwei wesentliche für einen Bedrohungskontext konstitutive Indikatoren. Eine Schadensabsicht läuft ohne unterlegte Fähigkeiten ins Leere. Und eine Schadensfähigkeit bleibt ohne Konsequenz, wenn sie auf keiner Schadensabsicht basiert.

Wie auf der individuellen Ebene, gehört Bedrohung ebenfalls zum Prozessmuster zwischenstaatlicher Beziehungen, wobei die Kategorie Macht / Machtpolitik eine entscheidende Rolle spielt. Weil das internationale System weitgehend nicht auf einem die UN-Regeln durchsetzbaren System basiert, entstehen Unsicherheiten über das Verhalten der konkurrierenden Staaten, so dass jeder Akteur versucht das Dilemma durch die Erweiterung der eigenen Potenziale auf die Handlungen der anderen einzuwirken. Diese Machtfähigkeiten steigen mit verfügbaren Ressourcen. Der Übergang zu Drohpolitik mit Gewaltandrohung / Gewaltanwendung ist fließend und mitunter auch eskalierend. Damit einher gehen Bedrohungsvorstellungen / Bedrohungs-

1Paul Andreas. URL: https://oops.uni-oldenburg.de/575/27rotang03.pdf

perzeptionen, die idealtypisch durch vier Merkmale gekennzeichnet sind:

1. Ein Subjekt als Staat oder Staatenkoalition von dem eine Bedrohung ausgeht.

2. Ein Staat / Koalition als Objekt gegen das die Bedrohung ausgerichtet ist.

3. Ein durch die Wahrnehmung des Objekts bestimmtes Deutungsmuster. In dieses Konstrukt fließen u.a. Perzeptionen und Fehlwahrnehmungen, historische Erfahrungen, Vorurteile, kulturelle Stereotype und ideologische Feindbilder ein.

4. Die Diagnose und Beurteilung anhand der eigenen Zielvorstellung durch das Bedrohungsobjekt. „Dieser Überlegung liegt die Vorstellung zugrunde, daß die vom Subjekt A ausgehende Bedrohung vom Objekt B mit den eigentlichen (politischen, militärischen, ökonomischen) Zielvorstellungen von B verglichen und bei einer Abweichung Bedrohung abgeleitet wird" [Linn, Lapins, 1985]. Geklärt werden müssen in konkreten Fällen nachstehende Fragen: Was ist der Inhalt der Zielvorstellungen von B? In welchem Umfang kollidieren seine Zielvorstellungen mit dem Drohverhalten von A? Welche Konsequenzen zieht B aus seiner Bedrohungsperzeption gegenüber A? Reagiert B darauf mit Anpassung / Appeasement oder Abschreckung?

Daraus kann geschlussfolgert werden, dass eine Bedrohungsperzeption keine objektive Größe darstellt, weil sie vom jeweiligen Dispositiv der Deutungsmuster und Zielvorstellungen des Individuums oder eines Staates abhängt, und beides sind keine stabilen Faktoren. So können in Grenznähe dislozierte massive Fähigkeitspotenziale von Staat A per se bereits Bedrohungswirkmacht gegenüber Staat B entfalten, ohne dass dieser eine Angriffsabsicht äußert, weil das Deutungsmuster von Staat B gegenüber Staat A „historisch" sensibilisiert ist. Andererseits ist es auch möglich, dass ungeachtet offensichtlicher bedrohlicher Verhaltensweisen von Staat A gegenüber Staat B, dieser sich trotzdem lange Zeit nicht als bedroht perzipiert, weil seine Deutungsmuster und Zielvorstellungen (vielleicht auch politisch gewollt) keine Bedrohungserwartung aufwiesen. Exemplarisch dafür war der russische Kriegsbeginn gegen die Ukraine vom 24.2.2022 als Camouflage einer „militärischen Spezialoperation". Denn obwohl US-Präsident Biden und NATOGeneralsekretär Stoltenberg knapp eine Woche zuvor die Öffentlichkeit explizit vor einem russischen Angriff in wenigen Tagen2 warten, erklärte hingegen der ukrainische Präsident Selenskyj noch am 22.2.,

2DW. URL: https://www.dw.com/de/us-präsident-biden-erwartet-russische-invasion-in-der-ukraine/a-60838861

also zwei Tage vor dem 24.2., dass er nicht von einem Kriegsbeginn ausgehe1.

Erstmals Mitte März 2024 wurden die russischen Kriegshandlungen („Spezialoperation") gegen die Ukraine von offizieller russischer Seite auch als solche bestätigt. Der Vizeleiter der russischen Präsidialverwaltung / Kreml, Dimitri Peskow, erklärte in einem Interview vom 19. März 2024: „Wir befinden uns im Kriegszustand. Das sollte jeder verstehen... Ja, es hat als eine militärische Sonderoperation begonnen, aber seit sich dieser Haufen dort gebildet hat, als der kollektive Westen auf der Seite der Ukraine eingegriffen hat, ist es für uns bereits ein Krieg geworden. Davon bin ich überzeugt. Und jeder sollte das für seine innere Mobilmachung verstehen. De jure handelt es sich um eine Spezialoperation, aber de facto ist sie für uns zu einem Krieg geworden, nachdem der kollektive Westen seine Beteiligung an dem Konflikt immer mehr erhöht hat"2. Ob damit aber künftig die bisherige strafrechtliche Ahndung für die Verwendung des Begriffs „Krieg" in Russland entfällt, muss sich zeigen.

SICHERHEIT

Sicherheit und Bedrohung stehen in einem engen Wechselverhältnis. Bedingt durch den Kalten Krieg bildete der Faktor Sicherheit bereits in den frühen 1970er Jahren einintensivespolitikwissenschaftliches Forschungsfeld. Aus dieser Zeit stammt die auch heute noch als aktuell zu bewertende Kategorisierung von Bestimmungsfaktoren des Begriffs Sicherheit. Danach impliziert Sicherheit „Gefahrlosigkeit, Verlässlichkeit, Gewissheit und Sorglosigkeit" [Kaufmann, 1973]. Jedem dieser Bedeutungselemente ist der Begriff Vertrauen zuzuordnen, der damit keine autonome, sondern eine finale Geltung erhält. Vertrauen basiert auf Wissen über das Fehlen von Bedrohung und deutet damit eine sozialpsychologische Dimension an. Wissen wiederum ist von Gewissheit durch eine Restgröße von Unwissen abgegrenzt werden und besitzt damit eine dynamische Eigenschaft, während der Gewissheit statische Bedeutung zukommt. „Nur die Gewissheit verlässlichen Schutzes führt zur Sorglosigkeit, oder: Das subjektive 'Sicherheitsgefühl' soll berechtigt sein, in dem Sinne, dass objektiv keine Gefahr droht" [Kaufmann, 1973]. Eine objektive NichtBedrohung ist aber nur dann gegeben, wenn „auf das wahrgenommene Bild der Außenwelt Verlaß ist und die Wahrnehmungsverarbeitung dem Kriterium der 'richtigen Erkenntnis, der 'Gewissheit" genügt

1 Frankfurter allgemeine Zeitung. URL: https://www.faz.net/aktuell/ politik/ausland/ukraine-selenskyi-glaubt-nicht-an-krieg-gegen-russland-17824497.html

2russland. News. URL: http://www.russland.news/ putins-sprecher-de-jure-militaerische-sonderoperation-de-facto-krieg/

[Ibid.]. Das Element Gewissheit im Kontext einer Sicherheitsperzeption drückt eine Zukunftsprognose aus, weil Sicherheit eine Befindlichkeit in der Zukunft ausdrückt und „meint Gewissheit, dass 'Gutes' Bestand habe oder eine Handlung zum Guten eintrete" [Frei, Gaupp, 1978].

NUKLEARE ABSCHRECKUNG

Auffällig ist die übereinstimmende Position von Nicht-Nuklearstaaten (atomare Habenichtse), Atomwaffen als politische und damit nicht einsetzbareWaffen zu deklarieren. Die offiziellen fünf Kernwaffenländer müssen im Gegensatz dazu nachdrücklich ihre Einsatzbereitschaft i.S. der nuklearen Kriegsführung bekräftigen.

Bei der Abschreckung / deterrence liegt der bestimmende Fokus auf der Furchtauslösung beim Gegner vor den Konsequenzen seiner potenziellen Aggression. Furcht unterliegt als individual- und sozialpsychologische Kategorie keiner quantifizierbaren Metrik. Deshalb bedingt Abschreckung „eine differenzierte Gestaltung der Wahrnehmung, damit ein Gegner die Alternativen zur Aggression attraktiver als den Krieg sieht" [Mazarr, 2018]. Und diese Perzeption muss als absolut glaubwürdig und robust entschlossen wirken. Abschreckung ist primär ein politisch-militärisches Drohkonzept und erst sekundär ein potenzielles Vernichtungskonzept. Ein potenzieller Aggressor kann dadurch abgeschreckt werden, dass durch das gegnerische überlegene konventionelle militärische Potenzial seine Erfolgschancen verwehrt werden (deterrence by denial) [Snyder, 1960]. Hierbei verschränken sich Kriegsführungsfähigkeit und Abschreckung. Zudem beinhaltet eine Denial-Strategie in Konsequenz dynamische Aufrüstungsprozesse, weil keine Seite der anderen Überlegenheit zur Erfolgsverweigerung akzeptieren kann. Im nuklearen Bereich dominiert hingegen die für den Aggressor unakzeptable atomare Vergeltungs- oder Vernichtungsdoktrin (deterrence by punishment / annihilation). Abschreckung soll das militärische Risikokalkül des potenziellen Aggressors beeinflussen, i.S. des „Lehrsatzes", deterrence happens in the mind of the opponent.

Im Prinzip handelt es sich jedoch realiter um eine „pre war deterrence", denn wenn die Abschreckung versagt und es zu nuklearen reziproken Einsätzen kommt, ist völlig ungewiss mit welchen katastrophalen zivilisatorischen Konsequenzen sich dieser „Schlagabtausch" entwickeln würde. Im Kontext des Ost-West-Konflikts wurden die Analysen, Postulate und Folgerungen von Clausewitz in der deutschen Politikwissenschaft als nicht mehr tauglich für die damalige Zeit verworfen. Beispielhaft

dafür: „Als politisches Instrument jedenfalls hat der Krieg ausgedient, zumindest im Einzugsbereich des Ost-West-Konflikts. Gewaltverzicht und Friede sind zur politischen Norm geworden, die kein politisches Ziel, das der Verteidigung ausgenommen, auszusetzen vermag. Zu Clausewitz, für den der Krieg noch ein Mittel der Politik war, führt kein Weg zurück" [CzempieL, 1986]. In den USA hatten schon früher renommierte PoLitikwissenschaftLer darauf hingewiesen, ein NukLearkrieg wäre nicht mehr nach CLausewitz eine Fortsetzung der PoLitik mit anderen MitteLn, sondern ein Versagen der PoLitik im Sinne der Abschreckung!

Doch würde es nach CLausewitz eben die PoLitik sein, die einen NukLeareinsatz aLs poLitisches Kriegsinstrument zur Fortsetzung der PoLitik, die Bestrafung / gegnerischen Vernichtung, einsetzt. GLeichwohL ist sich internationaL die wissenschaftliche nukLearstrategische Community darin einig, dass ein Atomkrieg sich nicht poLitisch steuern Lässt.

Das russische Pendant zu „Deterrence" Lautet „Sderzhivanie" und hat aLs SprachwurzeL die Begriffe „eindämmen", „zurückhaLten", „ein Zustandekommen verhindern". „Dieser sprachliche Unterschied hat wichtige Konsequenzen für die Strategie. Das russische Wort bezieht sich nicht auf Angst und hat daher keine psychologische Konnotation. Bei ,Sderzhivanie' geht es also um Maßnahmen, die ergriffen werden, um den Gegner zurückzuhalten, und nicht unbedingt darum, seinen Geisteszustand zu beeinflussen, um dasselbe Ziel zu erreichen... "Sderzhivanie" war auch das russische Wort für die Eindämmungspolitik der Vereinigten Staaten aus der Zeit des Kalten Krieges, die umfassende, gesamtstaatliche Anstrengung, die Ausbreitung des Sowjetkommunismus zu verhindern"2. Während strategic deterrence die Abschreckungswirkung strategischer Atomwaffen bezeichnet, fokussiert die Сдерживание стратегическое / strategische Eindämmung seit etwa 2015 vieL weitergehender: „Ein koordiniertes System nicht gewaltsamer und gewaltsamer Maßnahmen, die nacheinander oder gleichzeitig von einer Partei. gegenüber der anderen Partei. ergriffen werden, um diese von jeglichen gewaltsamen Handlungen abzuhalten, die einen Schaden von strategischem Ausmaß zufügen oder zufügen könnten... Die Implementierung von C.c. beruht in der Regel auf dem Prinzip der Siegverhinderung"3.

1Bundy Mc George. The Future of Strategie Deterrence. Survival, November / Dezember 1979.

2Samuel, Ch. URL: https://www.marshallcenter.org/en/publications/ security-insights/strategic-sderzhivanie-understanding-contemporary-russian-approaches-deterrence-0

3Militarenzyklopadie. URL: https://encyclopedia.mil.ru/encyclopedia/

dictionary/details.htm?id=14206@morfDictionary

Die Abschreckungstheorie bedingt unerlässlich als Prämisse eine wechselseitig unterstellte Handlungsrationalität, i.S. dass die politischen Entscheider über Zugang zu rationalen Denk- und Aktionsmuster verfügen. Zugleich enthält die Abschreckung aber ein unauflösliches inhärentes irrationales Essential.

Denn der postulierte Friede als das Fehlen von Bedrohung soll eben mit der Bereitschaft zum Atomkrieg mit wahrscheinlich beiderseitig unakzeptabler Zerstörung (MAD-Doktrin) gesichert werden. Auf eine solche Antinomie verwies die Denkschule des politischen Realismus schon vor über fünfzig Jahren: Im Abschreckungssystem müssen antagonistische Gegner in reziproker Drohkonstellation einander glaubhaft machen, „dass sie irrational genug seien, im Zug der Bekräftigung ihrer eigenen Positionen mittels Kernwaffen auch die eigene Vernichtung in Kauf zu nehmen, wobei sie gleichzeitig annehmen, dass die andere Seite rational genug sein werde, eine solche irrationale Politik nicht zu provozieren" [Morgenthau, 1970]. Mit anderen Worten: Abschreckung gleicht einem beiderseitig vorgelagerten Minenfeld und der unbedingten gemeinsamen Hoffnung auf jeweilige Untätigkeit. Der ehemalige US-Verteidigungsstaatssekretär Joseph Nye spricht von einem „Nutzbarkeitsparadoxon" der atomaren Abschreckung. Wären die Nuklearwaffen gar nicht einsetzbar, hätten sie auch keinen impliziten abschreckenden Effekt. Andererseits wäre ein katastrophaler Atomkrieg die Folge, wenn sie unbedenklich einsetzbar wären4.

BEGRENzUNG DES ATOMKRIEGS

Die Ablösung der US / NATO-Doktrin von der Massiven Vergeltung zur Flexiblen Antwort / Reaktion offenbarte den klaren Willen den potenziellen Nukleareinsatz begrenzen zu wollen.

Seit Jahren wird über die Möglichkeit einen Nuklearkrieg zu limitieren debattiert, um der Falle der Selbstabschreckung zu entgehen. „Es gibt zwar keine anerkannte Definition des begrenzten Atomkriegs', doch kann er als ein Krieg beschrieben werden, bei dem eine begrenzte Anzahl von Nuklearsprengköpfen mit relativ geringer Sprengkraft eingesetzt wird, um ein begrenztes militärisches Ziel anzugreifen... Er soll ein Zeichen der Abschreckung setzen, dass das Ausmaß nuklearer Gewalt oder der Umfang des Nukleareinsatzes durch die Wahl militärischer Ziele anstelle von Städten begrenzt werden kann, wodurch der Einsatz von Atomwaffen

4Nye Joseph. URL: https://www.project-syndicate.org/

commentary/is-nuclear-war-inevitable-by-joseph-s-nye-2022-09/

german?barrier=accesspay

glaubwürdiger und sogar rechtlich vertretbar wird"1. Die Aussage in der US- Nuclear Posture Review von 2018 deutete erstmals in diese Richtung: „Die Erweiterung flexibler US-Atomwaffenoptionen auf Optionen mit geringer Sprengkraft ist wichtig, um eine glaubwürdige Abschreckung gegen regionale Aggressionen aufrechtzuerhalten"2. Zur Erhöhung angestrebter Glaubwürdigkeit von limitierten Nukleareinsätzen wurde daraufhin in der TrumpAdministration eine Anzahl von SLBM-Sprengköpfen auf U-Booten mit einer geringeren Sprengkraft für erweiterte Fähigkeiten modifiziert (W76-2), „mit denen auf nukleare oder nichtnukleare strategische Angriffe reagiert werden kann; um die Abschreckung zu verbessern, indem potenziellen Gegnern signalisiert wird, dass ihre begrenzte nukleare Eskalation keinen verwertbaren Vorteil bietet"3.

Der renommierte russische Militärexperte Aleksej Arbatow kritisiert radikal Akteure in den USA und in Russland, die eine Nuklearkriegs-Limitierung befürworten: „Militärisch-industrielle Komplexe und nationalistische Fraktionen . die in den letzten Jahrzehnten von Rache für Zugeständnisse und reale oder imaginäre Verluste träumen, üben einen wachsenden Druck aus... Diese Prozesse wurden durch die militärische und politische Ideologie erleichtert... Eine davon (die man als nuklearen Revanchismus' bezeichnen könnte) besteht darin, dass nach der massiven Reduzierung der Atomwaffen in den letzten dreißig Jahren ihr Einsatz keine weltweite Katastrophe mehr darstellen würde, sodass jetzt ein Atomkrieg geführt und gewonnen werden kann. Darüber hinaus wird behauptet, dass der begrenzte und selektive Einsatz von Atomwaffen durch integrierte Operationen mit konventionellen Streitkräften und innovative Technologien zu Sieg oder Erfolg führen kann, ohne dass es zu einem massiven nuklearen Schlagabtausch kommt"4.

Wer die Begrenzung des Atomkriegs verteufelt, öffnet unausgesprochen aber das Höllentor zu seiner Unbegrenztheit. Die Abschreckung steht und fällt mit der wechselseitigen Perzeption des glaubwürdigen Nukleareinsatzes. Der wiederum korrespondiert mit der Existenz eines großen Spektrums an möglichen Einsatzfähigkeiten. Je begrenzter / kontrollierter ihre Wirkmächtigkeiten sind, desto überzeugender sind die Androhungen damit. Nachdenken und auch technologische Innovationen für Nuklearkriegsbegrenzungen sind

1Sethi, Manpreet. URL: https://capsindia.org/

dissecting-the-idea-of-limited-nuclear-war/

2URL: https://media.defense.gov/2018/Feb/02/2001872886/-1/-

1/1/2018-NUCLEARPOSTURE-REVIEW-FINAL-REPORTPDF

3URL: https://www.documentcloud.org/documents/23205180-2022_

nationaLdefense_strategy_npr_mdr?responsive=1&title=1

4Arbatow, Alexej. URL: https://carnegiemoscow.org/commentary/80172

also nicht per se ein Plädoyer für auch das Anstreben seiner Inszenierung. Die Gefahr der verführerischen Versuchung ist gleichwohl gegeben. Den einzigen Ausweg bietet intensive Rüstungskontrolle. Die aber liegt derzeit im Eiskeller.

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ESKALATION ZUR DE-ESKALATION

Hintergrund für diese Denkfigur waren seit 2014 Bewertungen in den USA über vermeintliche neue russische militärdoktrinäre Bestimmungen, bei einem drohenden Konflikt / Krieg frühzeitig angesichts einer drohenden militärischen Niederlage substrategische (also die USA nicht erreichbare) Nuklearwaffen einsetzen, um den USA / NATO die Kosten für eine ihrerseits antwortende nuklearen Eskalation aufzubürden. Mit der wahrscheinlichen Folge, dass das Bündnis zur Deeskalation gezwungen werde. Exponenten für das mutmaßliche russische Konzept der „Escalate to De-Escalate" waren Colby Elbridge5 (2015) im Pentagon und sicherheitspolitisch fokussierte Politikwissenschaftler wie Matthew Kroenig6 (2018). In der Tat wurde die Theorie erstmals in der Militärzeitschrift „Voennaja Mysl" (1999) unter dem Titel „O primenenii jadernogo oruzhija dlja deeskalacii voennych dejstvij / Über den Einsatz von Atomwaffen zur Deeskalation von Feindseligkeiten" diskutiert. In die Militärdoktrin von 2000 wurde diese Theorie aber nicht aufgenommen und auch nicht in die Neufassung von 2010. Spekulation jedoch über dort vielleicht geheime Bestimmungen nährte vor der Veröffentlichung der Sekretär des Sicherheitsrats Nikolai Patruschew mit seiner Interview-Aussage: „Russlands neue Militärdoktrin wird eine größere Betonung auf Kernwaffen legen. Moskau wird in der Lage sein, Kernwaffen in kleineren Konflikten anzuwenden und präemptive Nuklearschläge auszuführen"7.

SergejBrezkun von der Akademie für Militärwissenschaften formulierte dazu 2015: „Es liegt auf der Hand, dass die Idee eines sofortigen massiven Vergeltungsschlags im Falle einer regionalen Abschreckung irrational ist . die charakteristische Zeit für die Anfangsphase regionaler Aggression beträgt mindestens einen Tag. Dementsprechend besteht... eine echte Chance, die Aggression zu deeskalieren und sie in der Anfangsphase (im Falle einer für Russland ungünstigen Entwicklung) durch den begrenzten Einsatz des nuklearen Faktors zu beseitigen. In der Anfangsphase sollte der Einsatz des Kernfaktors Demonstrationscharakter haben

5Kroenig Matthew. URL: https://www.atlanticcouncil.org/wp-content/ uploads/2018/04/Nuclear_Strategy_WEB.pdf

6Colby Elbridge. URL: https://www.cnas.org/publications/commentary/

countering-russian-nuclear-strategy-in-central-europe

7RT. Moscow, 14.10.2009: Russia to broaden nuclear strike option

und keine katastrophalen Folgen haben. Dabei geht es nicht so sehr darum, ernsthafte rein militärische Erfolge zu erzielen, sondern vielmehr darum, die Entschlossenheit Russlands zu demonstrieren, Atomwaffen in immer größerem Umfang einzusetzen, wenn die Aggression gegen das Land anhält'1.

Zahlreiche westliche Sicherheitsexperten bezweifeln jedoch eine solche doktrinäre Implementierung. Beispielhaft dazu: Olga Oliker, Andrey Baklitskiy (2018); Wolfgang Kubiczek (2020); Burkhard Meißner, Severin Pleyer (2022). Aber diese kritischen Stimmen können sich auch nur auf veröffentlichte Quellen stützen. Einen Zugang zu internen russischen Dokumenten verfügt keiner.

POLITISCHE DEKLARATORIK - POLITISCHE HANDLUNG

Bereits in den 1950er Jahren unterschied man in der US-nuklearen Strategieforschung und -analyse zwischen der„declaratory policy" mit dem Ziel politischpsychologischer Wirkung von atomarer Abschreckung und der „action policy" als die reale einsatzdoktrinäre nukleare Militärstrategie [Nitze, 1956]. Beide Strategien waren nicht deckungsgleich. Die Deklaratorik der Zielkategorien variierte mit den Jahren, mitzeitweiligem Fokus auf die atomare Abschreckungsbedrohung von sowjetischen Bevölkerungszentren, dann wiederum mit Schwerpunkt auf selektive Militärschläge gegen militärische Einrichtungen in der UdSSR. Die tatsächliche geheime militärstrategische Zielplanung hingegen blieb relativ stabil. Erst in den 1970er Jahren offenbarten Forschungsergebnisse diese Differenz zwischen Deklaratorik und Fakten [Friedberg, 1980; Freedman, 1981]. 2015 veröffentlichte das US-National Security Archive etwa 800 Seiten Dokumente der geheimen nuklearen Zielplanung ihres Strategischen Luftkommandos (SAC) für das Jahr 1959. Die Listen, versehen mit Zahlencodes, umfassen mehr als 1.100 Flugplätze sowie Luftwaffenbasen und mehr als 1.200 Städte in der UdSSR und ganz Osteuropa. Allein für Moskau waren 179 Ziele vorgesehen und für das damalige Leningrad 1452. Durch die Öffnung von Archiven in Ostmitteleuropa nach 1991 wurden auch zahlreiche sowjetische Kriegsübungspläne während des Kalten Krieges bekannt, und diese sahen im Kriegsfall den sofortigen massiven Einsatz von Kernwaffen vor [Payne, 2001], im Unterschied zur

1Brezkun Sergej. URL: https://nvo.ng.ru/concepts/2015-11-27/1_ stairway.html

2National Security Archive. URL: https://nsarchive2.gwu.edu/nukevault/

ebb538-Cold-War-Nuclear-Target-List-Declassified-First-Ever/;

URL: https://nsarchive2.gwu.edu/nukevault/ebb538-Cold-War-Nuclear-

Target-List-Declassified-First-Ever/documents/1st%20city%20list%20

complete.pdf

stufenweisen Eskalation der Flexible Response bei der NATO. In der sowjetischen nuklearen Zielplanung für die damalige Bundesrepublik standen Städte und militärische Infrastruktur in den Koordinaten der 157. Bomberfliegerstaffel in Schutschin / Belarus, munitioniert mit 20-30 RDS-4 Atombomben3. Die Problematik declaratory policy und action policy bekommt gerade in der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Lage in Europa erneut hohe Brisanz. Dazu das letzte folgende Kapitel.

RUSSLAND ALS PERZIPIERTE BEDROHUNG

In den nachfolgenden Ausführungen können mit Blick auf die Umfang-Limitierung des Artikels nur eingeschränkt deutsche Bedrohungswahrnehmungen gegenüber Russland thematisiert werden. In der politischen Publizistik wie auch in der politikwissenschaftlichen Forschung wird heute rückblickend weitgehend als „Kipppunkt" in Richtung Bedrohungsperzeption russischer Politik die Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 markiert4. Dabei handelt es sich nunmehr im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine („Spezialoperation") jedoch um eine offensichtliche nachgelagerte Bewertung. Zwar kritisierte der damalige außenpolitische Sprecher der CDU / CSU Bundestagsfraktion, Eckart von Klaeden, die Ausführungen von Putin als „unverblümten Großmachtanspruch". Doch in allen Bundestagsparteien meldeten sich auch Stimmen mit einem gewissen Verständnis für Putins dort bekundeten russischen Bedrohungssorgen gegenüber US-Plänen zur Stationierung von Aegis-Ashore Systemen sowie MK-41 Vertical Launching zur Abwehr ballistischer Raketen in Polen und Rumänien. Und in der Politikwissenschaft gab es framing-Versuche, „Russlands Rückkehr als Machtfigur der europäischen und internationalen Politik"5 mehr verständnisvoll als kritisch einzuordnen. Das damalige deutsche Russlandbild war mehrheitlich aber noch positiv konnotiert. So ermittelte das Meinungsforschungsinstitut forsa im Dezember 2007 in einer repräsentativen Befragung: „Insgesamt schätzt eine Mehrheit von 56 Prozent der Bundesbürger die augenblicklichen Beziehungen zwischen beiden Ländern als gut oder sogar sehr gut ein". Und „78 Prozent der Deutschen (sind) der Meinung, dass die Zusammenarbeit mit Russland im Energiebereich dazu

Mitteldeutscher Rundfunk. URL: https://www.mdr.de/geschichte/ddr/

kalter-krieg/russland-udssr-atombombe-bundesrepublik-100.html

4URL: http://www.ag-friedensforschung.de/themen/ Sicherheitskonferenz/2007-putin-dt.html

5URL: https://www.fes.de/ipg/arc_07_d/03_07_d/pdf/10_Schulze_D.pdf

beitragen kann, auch die politischen Beziehungen der beiden Länder zu verbessern"1.

FURCHT VOR RUSSISCHEM ATOMKRIEG

Im Januar 2022 veröffentlichten die Staats- und Regierungschefs der fünf offiziellen Nuklearstaaten eine gemeinsame Erklärung zur Abweisung der Atomkriegsführung des Atomkrieges: „Da der Einsatz von Kernwaffen weitreichende Folgen hätte, bekräftigen wir zudem, dass Kernwaffen - solange diese existieren - der Verteidigung, der Abschreckung und der Kriegsvorbeugung dienen sollten". Sie betonten des Weiteren, dass „ein Atomkrieg nicht gewonnen werden könne und niemals geführt werden darf'2. Im November gab Russland noch einmal eigenständig ein analoges amtliches Bekenntnis ab: „In seiner nuklearen Abschreckungspolitik folgt Russland rigoros und konsequent dem Gebot der Unzulässigkeit des Atomkrieges, der nicht gewonnen werden kann und niemals entfesselt werden darf "3.

Dennoch beurteilten im Oktober 2022 repräsentativ 86 Prozent der Deutschen Russland als „Bedrohung der Sicherheit in der Welt"4. Und 46 Prozent äußerten eine Atomfurcht5. Zum einen befand sich der Angriff gegen die Ukraine („Spezialoperation") zu dem Zeitpunkt bereits im achten Monat. Insbesondere aber verantworteten die Bedrohungsperzeptionen, ungeachtet der zweimaligen von Russland hervorgehobenen Beteuerungen, dass ein Atomkrieg nicht geführt werden könne, dennoch immer wieder gegenteilige Nuklearkriegs-Andeutungen bis hin zu expliziten Nuklear-Drohungen durch russische Talkshow-Journalisten, Wissenschaftler und auch hochrangige Politiker.

Ein solches Brinkmanship von russischer declaratory policy veranlasste zahlreiche Mitglieder des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik zu einer scharfen öffentlichen Verurteilung von „Reden und Erklärungen. in denen. die Idee eines präventiven Atomschlags Russlands für den Fall einer negativen Entwicklung der militärischen Operationen in der Ukraine und ihren Nachbargebieten verbreitet wurde. Darüber hinaus beschränken sich

forsa Umfrage. URL: https://cdn.lifepr.de/a/527f79e5d0469a85/

attachments/0027442.attachment/filename/

PI_forsa_Unsere_Russen_de.pdf

2URL: http://dusseldorf.china-consulate.gov.cn/det/zgyw/202201/

t20220104_10478865.htm

3Erklärung der Russischen Föderation. URL: https://

germany.mid.ru/de/aktuelles/pressemitteilungen/

erkl_rung_der_russischen_f_deration_zur_verh_tung_des_atomkrieges/

4URL: https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ umfragen/aktuell/russland-bild-der-deutschen/

5Civey Umfrage. URL: https://civey.com/umfragen/20953/

sorgen-sie-sich-dass-es-zu-einem-atomkrieg-kommen-konnte

die Autoren nicht auf die Phantasie über den Einsatz taktischer Atomwaffen auf dem Territorium der Ukraine, sondern schlagen auch vor, die wichtigsten NATOLänder anzugreifen. Zu hoffen, dass ein begrenzter Nuklearkonflikt beherrscht werden kann und sich nicht zu einem globalen Atomkrieg ausweitet, ist der Gipfel der Verantwortungslosigkeit. Es ist unzulässig, in der Gesellschaft durch pseudotheoretische Argumente und emotionale Äußerungen im Stil der so genannten Talkshows' solche Stimmungen zu erzeugen, die zu katastrophalen Entscheidungen drängen könnten... Niemand sollte die Menschheit jemals mit der Drohung erpressen, Atomwaffen einzusetzen, geschweige denn den Befehl geben, sie militärisch einzusetzen"6.

Für exemplarisch in westlichen Gesellschaften (insbesondere in Deutschland) hervorrufende Bedrohungsperzeptionen stehen hochrangige Politiker-Aussagen, wie die des Vizevorsitzenden des russischen Sicherheitsrates, Dimitry Medvedev, vom Juli 2023: „Stellen Sie sich vor, die Offensive... im Tandem mit der NATO hätte Erfolg und würde dazu führen, dass uns ein Teil unseres Landes genommen wird. Dann müssten wir aufgrund der Bestimmungen des russischen Präsidialdekrets Atomwaffen einsetzen... Es gäbe einfach keine andere Lösung... Unsere Feinde sollten zu unseren Kämpfern beten, dass sie die Welt nicht in nuklearen Flammen aufgehen lassen"7.

Hierbei bezog er sich offensichtlich implizit auf das Präsidenten-Dekret 355 vom Juni 2020 zum Nukleareinsatz. Demnach erfolgt dieser auch bei einer „Aggression gegen die Russische Föderation mit konventionellen Waffen, wenn die Existenz des Staates selbst bedroht ist"8. Zum russischen Staatsgebiet wurden am 30.9.2022 nach westlichem Verständnis völkerrechtswidrig die ukrainischen Oblaste Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja bestimmt. Aber selbst eine Rückeroberung dieser vier Bezirke durch westliche militärische Unterstützungen der Ukraine wäre noch keine existenzielle Gefährdung der russischen Staatlichkeit. Aber Moskau definiert eben selber, was es als bedrohliche existentielle Aggression bewertet.

Politikwissenschaftler verstehen den primären politischen Zweck der Aussage des russischen Staatschefs vom März 2024: „Russland sei aus militärisch-technischer Sicht bereit für einen Atomkrieg. Waffen existieren, um sie einzusetzen. Allerdings denke er nicht, dass man auf eine nukleare Konfrontationzurase"9.EsistdienüchterneDarlegung

6URL: https://svop.ru/main/48156/

7URL: https://edition.cnn.com/2023/07/31/europe/medvedev-russia-nuclear-weapons-intl-hnk/index.html

8Dekret 355. URL: http://www.kremlin.ru/acts/bank/45562

9Transkript. URL: https://www.youtube.com/watch?v=lWZr8015Zy0

der „standby" Funktionsfähigkeit der eigenen Abschreckung, die sich an zwei Zielgruppen richtet. 1. An die drei Nuklearmächte der NATO. Für diese stellt die Äußerung aber keine neue Erkenntnis dar, auch ihre Abschreckungssysteme werden einsatzbereit gehalten. Ein solches „wording" der Verkündung der „Bereitschaft zum Nuklearkrieg" würden ihre Staats- und Regierungschefs aber niemals öffentlich abgeben. Deshalb vermutet

man in der westlichen Politikwissenschaft: Solche Sätze lösen intendierte oder zumindest in Kauf nehmende Bedrohungsperzeption insbesondere der deutschen Öffentlichkeit aus. So sorgen sich 46 Prozent der Bürger vor einem russischen Angriff auf ihr Land1.

1INSA Umfrage, https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/fast-40-prozent-legen-vorraete-an-jeder-zweite-deutsche-fuerchtet-putin-

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ИНФОРМАЦИЯ ОБ АВТОРЕ

лапинс Вульф

доктор политических наук старший научный сотрудник

Института международных отношений WeltTrends, Потсдам, Германия

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INFORMATION ABOUT THE AUTHOR

Lapins Wulf

Doctor of Political Sciences (Dr. habiL), Professor

Senior Research Fellow of the WeltTrends

Institute for International Relations in Potsdam, Germany

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Lapins Wolf

Doktor der Politikwissenschaft Senior Researcher

WeltTrends Institut für Internationale Beziehungen, Potsdam, Deutschland

Статья поступила в редакцию одобрена после рецензирования принята к публикации

20.02.2024 20.03.2024 25.03.2024

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