SARA PASETTO
EINE MOGLICHE LOGISCHE BEGRUNDUNG DER ETHIK. PHANOMENOLOGIE DER PROLEGOMENA
The possibility of a logical foundation of ethics. the phenomenology of Edmund Husserl’s
Prolegomena
Why do I have to be ethical? That is the essential question of a logical foundation of ethics in the phenomenology of Edmund Husserl. This article proposes to see the basic motivation of an ethical reason in the relationship between the two fundamental poles, that is the «Lifeworld» («Lebenswelt») and the «I-subject» («Ich-Subjekt»). This connection will be considered to constitute ethics in this article. This kind of ethics as a «condition of possibility» is then an a-priori ontological necessity. The article will demonstrate how the composition of Husserl’s Prolegomena and his argumentation are an example of a foundation for phenomenological ethics: in this book Husserl derived logic as the first «condition of possibility». With logic’s three main characteristics — theory, normativity and praxis — it is the theoretical basis of a phenomenological ethics.
Keywords: ethics, Husserl’s phenomenology, Prolegomena, logic, foundation, condition of possibility, Lifeworld, I-subject.
Возможность логического обоснования этики. Феноменология «Пролегомен» Э. Гуссерля
Почему я должен быть этическим субъектом? Таков сущностный вопрос логического обоснования этики в феноменологии Э. Гуссерля. В статье предпринимается попытка усмотрения основной мотивации для этического основания во взаимосвязи между двумя фундаментальными полями, а именно «жизенным миром» и «Я-субъектом». Эта связь будет рассмотрена в статье в целях обоснования этики. Такая этика как «условие возможности» оказывается априори онтологической необходимостью. В статье также рассматривается, каким образом композиция гуссерлевских «Пролегомен» и его аргументация оказываются примером обоснования феноменологической этики: в этой книги Гуссерль устанавливает логику как первое «условие возможности». С помощью трех основных логических характеристик — теория, нормативность, практика — устанавливается теоретическая основа для феноменологической этики.
Ключевые слова: этика, феноменология Гуссерля, Пролегомены, логика, обоснование, условие возможности, жизенный мир, Я-субъект.
Die motivierende Hauptfrage einer phanomenologischen Begrundung der Ethik lautet: 1st eine Ethik notwendig? Die «Krisis der europai-schen Philosophien» hat heutzutage zu einem so groBen Skeptizismus gefuhrt. dass diese Problematik sich noch radikaler formulieren lasst: Warum sollte ich ethisch leben?
© S. Pasetto, 2012
Аш Ende seiner Lebensforschung fand Edrnund Husserl zwei Urgrun-de: die «Lebenswelt» und das «Ich-Subjekt». Die Beziehung zwischen diesen ursprunglichen Polen soll eine asyшшetrische Ko-Konstitution sein, weil sie nicht aufeinander reduzierbar sind und nicht rniteinander identifiziert werden konnen. Einer existiert namlich nicht ohne den anderen und urngekehrt; au-Berdem spielen sie zwei unterschiedliche und gleichzeitig fureinander fundie-rende Rollen. Husserl selbst schreibt in seinen Cartesianischen Meditationen: «WesensmaBig gehort beides (Universurn) zusaшшen, und wesensmaBig Zu-sammengehбriges ist auch konkret eins, eins in der einzigen absoluten Kon-kretion der transzendentalen Subjektivitat. Ist sie das Universum moglichen Sinnes, so ist ein AuBerhalb dann eben Unsinn».1
Aus diesem Grund ist m. E. eine phanomenologische Ethik notwendig. Ihre reine Form besteht in der apriorischen Bindung zwischen Lebenswelt und Ich-Subjekt, d. h. in ihren ontologischen Bedingung der Moglichkeit. Diese Bedingung ist bereits in der phanomenologischen Essenz der Urpole enthalten, weil sie genau ihre Existenz ermoglicht. Sie lasst sich dann durch die Selbstzwecke der Lebenswelt und des Ich-Subjekts als das Zueinander-Streben verwirklichen. Zusammen, d. h. die Lebenswelt, das Ich-Subjekt und ihre Bindung, bilden sie «das materiale Apriori». Eine phanomenologische Ethik als «Bedingung der Moglichkeit» erweist sich also sehr theoretisch, aber keineswegs abstrakt. Auch ihre «Normativitat» und «Praxis» sind ja ideal gedacht, jedoch immer in Bezug auf ihren reinen Gehalt, d. h. auf die Lebenswelt und das Ich-Subjekt.
Diese Bereiche — die Theorese, die Normativitat und die Praxis — werden aber in den Prolegomena (Hua XVIII) als Eigenschaften der Logik vorgestellt. Die Kardinalfrage betrifft dort die Definition der Logik: Ist die Logik eine theoretische, normative oder praktische Disziplin? Die Lekture des Buches ermoglicht die phanomenologische Begrundung der reinen Idee der Logik: Sie ist die «Bedingung der Moglichkeit» jeder Disziplin, inkl. der Ethik. Der Phanomenologie nach ist eine Disziplin wissenschaftlich begrun-det, wenn sie logisch ist, d. h., wenn ihre ideale Praxis auf dem Grund der Normativitat basiert und wenn ihrerseits die ideale Normativitat sich auf dem Grund der reinen Theorese konstituiert. Das gilt auch fur die Begrundung einer phanomenologischen Ethik.
і HusserlE. Cartesianische Meditationen und Pariser Vortrage / hrsg. von B. Strasser. 1950 (Hua I). S. 117.
Der Vorsatz des vorliegenden Artikels ist daher, den Interpretationsschlus-sel zu liefern, der eine phanomenologische Parallele zwischen Logik und Ethik ermoglicht. Das wird insbesondere durch die Struktur des Werkes und durch die Argumentation Husserls aufgewiesen, und zu guter Letzt durch die spezifischen phanomenologischen Unterschiede zwischen Logik und Ethik.
Im Laufe einer solchen Analyse lassen sich dann spezifischere Fragen stellen, wie z. B.:
• Welcher ist der reine Bereich der Ethik?
• Welche Prinzipien herrschen in einem solchen Bereich? Wie funktio-nieren sie?
• Hat die Ethik uberhaupt einen Sinn?
Die «Prolegomena» zur phanomenologischen Ethik
Als Vorwort gilt es hier zu unterstreichen, was fur eine «Vorstellung der Ethik» in der Phanomenologie moglich ist. Meiner Deutung nach kann eine phanomenologische Ethik nur durch die Methode Husserls ans Licht kommen. Die einzelnen Schritte der phanomenologischen Methode zu diesem Thema sind von Husserl selbst leider nie eindeutig beschrieben worden. Der vorliegende Artikel mag nicht der passende Ort sein, um daruber zu argumentieren. Um der dargestellten Forschung folgen zu konnen, ist es trotzdem notig, die Anfangs-einstellung meiner Interpretation zu klaren: Ohne eine epoche durchzufuhren, kann man m. E. nicht uber eine Phanomenologie — im Sinne Husserls — sprechen. Diese «Passage» zahlt als erste unvermeidliche phanomenologische «Ouverture»: In der epoche besteht der erste Schritt ins Phanomenologische.
Dieser Perspektive nach, d. h. nach der phanomenologischen epoche, fin-den mehrere philosophische Folgen statt. Eine phanomenologische Argumentation uber Ethik sollte z. B. nicht im Bereich Moral angewendet werden. Die Probleme der Moral beruhren namlich Gebiete der zweifelhaften Welt, deren Gultigkeit durch die epoche eingeklammert ist. Auch psychische oder emotio-nale Unentschlossenheit, die typisch fur den Menschen ist, kommt nicht infra-ge. Die empirische Kategorie «Mensch» spielt hier keine Rolle. Begriffe wie z. B. «Lebenswelt» — d. h. alle theoretischen Ich-Subjekte zusammen — oder «Ich-Subjekt» — d. h. «das ursachliche materiale Apriori» — beziehen sich nicht unbedingt auf eine kulturelle Welt oder auf ein Lebewesen der Spezies Homo sapiens. Sie sind als «ideale Materie» gedacht, die eventuell auch einer kulturellen Welt oder einem menschlichen Lebewesen entsprechen konnen. Die phanomenologische Ethik beschreibt deswegen theoretisch die Beziehun-
gen zwischen unterschiedlichen Dingen; nicht aber alle moglichen Beziehun-gen, sondern nur die ko-konstitutiven, einander wesentlichen Bindungen.
Dank der epoche richtet sich die Forschungsperspektive nicht nur auf Tatsachen, deren Enthaltung der Gultigkeit die Radikalitat der Phanomenologie ermoglicht. Die Dinge bestehen nicht nur im Realen, sondern auch im Idealen. Die Materie ist a priori eine «ideale» und «reale»: Das ist die phanomenologische Ontologie. Nachdem die rein ideal-theoretischen Grunde der Phanomenologie gefunden wurden, lasst sich also die Phanomenologie selbst philosophisch entwickeln und m. E. in anderen Bereichen verwenden. Im Bereich der Moral z. B. ware das Fundament die Ethik, die im vorliegenden Artikel prasentiert wird, und die Einzigartigkeit einer solchen Moral wurde als Bedingung der Moglichkeit einer Beziehung zwischen spezifischen Lebe-wesen — wie z. B. dem Menschen — und der Welt gelten. In diesem Artikel wird aber nur der reine Bereich der Ethik vorgestellt.2
Auch wenn die Beschreibung der phanomenologischen Ethik hier durr, trocken und bloB formal scheint, sollte man nicht vergessen, dass ihre «Thema-tisierung» immer im «Fuhlen»3 besteht. Die Bedeutung der Phanomenologie im Bereich der Ethik besteht daher in der «Systematisierung» des Fuhlens, im Sinne einer evidenten Fundierung des Fuhlens selbst durch unterschiedliche phanomenologische Ebenen und Gebiete. Insbesondere soll meiner Meinung nach das Moralgebiet sich auf dem Ethikgebiet aufbauen. Wenn das nicht ge-
2 Das hier prasentierte Thema uber den reinen Bereich der Ethik fugt sich als erstes Ergeb-nis in eine breitere Untersuchung ein, deren Titel lautet: Phanomenologie der Ethik. Idee zu einer transzendentalen Ethik und ethischen Phanomenologie. Die Forschung ist in vier Hauptteile gegliedert:
• die Fundierung des reinen Bereichs der Ethik;
• die Konstitution der Ethik in der Lebenswelt;
• die Konstitution der Ethik im Ich-Subjekt;
• die Beschreibung der phanomenologischen Ethik.
Eine vollkommene Perspektive kann sich deswegen nur aus der Einheit des Projektes klar ergeben. Der Vorsatz des Artikels ist infolgedessen nur als Interpretationsschlussel anzunehmen.
3 Vgl. dazu die wertvollen Werke von I. A. Bianchi: Etica husserliana. Studio sui manos-critti inediti degli anni 1920-1934, Franco Angeli, Milano 1999; Fenomenologia della volonta. Desiderio, volonta, istinto nei manoscritti inediti di Husserl, Franco Angeli. Milano, 2003.
Es ist aber unerlasslich hier anzufugen, dass meiner Deutung nach dem Fuhlen kein enger Begriff entspricht: Das ganze Leben des Ich-Subjekts lasst sich durch jede Form des Spu-rens ausdrucken. Mit anderen Worten beinhaltet das phanomenologische Fuhlen nicht nur Gefuhle oder Erregungen — schon gar nicht nur menschliche Empfindungen.
schieht oder, was noch gefahrlicher ist, wenn das Gegenteil vorkommt, lasst sich die «.^sxdpaoiQ siq aAAo ysvoq» erfahren: «[D]ie Gebietsvermengung, die Vermischung von Heterogenem zu einer vermeintlichen Gebietseinheit <...> kann die schadlichsten Wirkungen nach sich ziehen: Fixierung untriftiger Ziele; Befolgung prinzipiell verkehrter, weil mit den wahren Objekten der Disziplin inkommensurabler Methoden; Durcheinanderwerfung der logischen Schichten, derart, daB die wahrhaft grundlegenden Satze und Theorien, oft in den sonderbarsten Verkleidungen, sich zwischen ganz fremdartigen Gedan-kenreihen als scheinbar nebensachliche Momente oder beilaufige Konsequen-zen fortschieben usw».4
Aber: «...[d]ie Wissenschaft will und darf nicht das Feld eines architek-tonischen Spiels sein. Die Systematik, die der Wissenschaft eignet, <...> erfin-den wir nicht, sondern sie liegt in den Sachen, wo wir sie einfach vorfinden, entdecken. Die Wissenschaft will das Mittel sein, unserem Wissen das Reich der Wahrheit <...> zu erobern; aber das Reich der Wahrheit ist kein ungeord-netes Chaos, es herrscht in ihm Einheit der Gesetzlichkeit; und so muB auch die Erforschung und Darlegung der Wahrheiten systematisch sein, sie muB deren systematische Zusammenhange widerspiegeln und sie zugleich als Stu-fenleiter des Fortschrittes benutzen, um von dem uns gegebenen oder bereits gewonnenen Wissen aus in immer hohere Regionen des Wahrheitsbereiches eindringen zu konnen».5
Die Logik als «Bedingung der Moglichkeit» der phanomenologischen Ethik
Der Anfang der Prolegomena ist in zwei Kapitel gegliedert, deren Titel lauten: Die Logik als normative und speziell als praktische Disziplin bzw. Theoreti-sche Disziplinen als Fundamente normativer. Die Problematik ist dort folgen-dermaBen vorgestellt: Die Logik ist eine normative sowie auch eine praktische Disziplin, deren Fundament eine theoretische Disziplin sein soll.
Die Logik ist somit als Bereich der «Grundnorm» bzw. des «Grundma-Bes» zu verstehen, wobei diese zwei Begriffe unterschiedlich sind: «Der normative Satz, welcher an die Objekte der Sphare die allgemeine Forderung stellt, daB sie den konstitutiven Merkmalen des positiven Wertpradikates in groBtmoglichem AusmaBe genugen sollen, hat in jeder Gruppe zusammen-gehoriger Normen eine ausgezeichnete Stellung und kann als die Grundnorm
4 Husserl E. Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik / hrsg. von E. Holenstein, 1975. (Hua XVIII) S. 22.
5 Hua XVIII. S. 30-31.
bezeichnet werden. [...Eine solche] Grundnorm ist das Korrelat der Definition des im fraglichen Sinne “Guten” und “Besseren”; sie gibt an, nach welchem Grundmafie (Grundwerte) alle Normierung zu vollziehen ist, und stellt somit im eigentlichen Sinne nicht einen normativen Satz dar».6
In der «normativen Logik» liegen infolgedessen «normative Satze» vor, deren Grundnorm auch als ihr praktisches Ziel benutzbar ist. In diesem Fall wird sie zu einer «praktischen Logik», einer «Kunstlehre»:
«Wo die Grundnorm ein Zweck ist oder Zweck werden kann, geht aus der normativen Disziplin durch eine naheliegende Erweiterung ihrer Aufga-be eine Kunstlehre hervor. [... M]an [kann] den Begriff der Logik entspre-chend erweiter[n] und sie im Sinne [einer] Kunstlehre [von der Wissenschaft] definier[en]».7
Strukturell beziehen sich die «normative» und die «praktische» Logik grundlegend aufeinander, sodass eine praktische Logik aus der normativen Logik erwachst.
Warum aber «[stellt somit] der normative Satz <...> im eigentlichen Sinne nicht einen normativen Satz dar»? Was bedeutet «Normativitat» und «Praxis» in der Phanomenologie Husserls? Um das verstehen zu konnen, muss man ans grundlegende Fundament der Normativitat und der Praxis gehen: «Jede normative Disziplin verlangt die Erkenntnis gewisser nicht normativer Wahrheiten»8, d. h. rein theoretischer Ideen. Der letzte Boden einer phanome-nologischen Begrundung soll rein theoretisch sein, denn in solchem «Wissen <...> besitzen wir die Wahrheit».9
«Die Wahrheit <...> ist “ewig” oder besser ist eine Idee, und als solche uberzeitlich. Es hat keinen Sinn, ihr eine Stelle in der Zeit oder eine, sei es auch durch alle Zeiten sich hindurcherstreckende Dauer anzuweisen. <...> Die Wahrheit “erfassen” wir nicht wie einen empirischen Inhalt, der im Flusse psychischer Erlebnisse auftaucht und wieder verschwindet; sie ist nicht Pha-nomen unter Phanomenen, sondern sie ist Erlebnis in jenem total geanderten Sinn, in dem ein Allgemeines, eine Idee ein Erlebnis ist. BewuBtsein haben wir von ihr, so wie wir von einer Spezies, z. B. von “dem” Rot, im allgemei-nen BewuBtsein haben».10
6 Hua XVIII. S. 57-58.
7 Ibid. S. 42.
8 Ibid. S. 61.
9 Ibid. S. 28.
10 Ibid. S. 134-135.
Durch die «Theorese» werden die Ideen, die generell gultig sind und sich als formale Wahrheit benennen lassen, erkennbar. Um ein evidentes Erlebnis des Wissens haben zu konnen, braucht ein Ich-Subjekt die Theorese. Ihre rei-ne Typik ist die Einsicht der Formen der Wahrheit, d. h. der Ideen.
Das phanomenologische Verfahren setzt dementsprechend die Theorese auf dem Boden der Struktur der Logik voraus, die aber nicht die Normativitat bzw. die Praxis ausschlieBt. Die phanomenologische Logik lasst sich namlich in drei Schichten gliedern, die sich aufeinander konstituieren:11 c) die Praxis; b) die Normativitat;
a) die reine Theorese.
Die Logik besitzt dann einen besonderen Status in der Systematik der Er-kenntnistheorie, weil sie eine Rolle als theoretischer Grund der ganzen Struktur sowie auch als normatives bzw. praktisches Mittel der anderen Disziplinen spielt. Ihre Normativitat und Praxis sind also ideal zu verstehen: Die Logik erweist sich nicht nur als Disziplin, sondern auch als ideale «Bedingung der Moglichkeit einer Theorie uberhaupt».
«Diese Bedingungen sind teils reale, teils ideale. <...> Ideale Bedingun-gen fur die Moglichkeit der Erkenntnis konnen ...von doppelter Art sein. Ent-weder sie sind noetische, <...>; oder sie sind rein logische, d. h. sie grunden rein im “Inhalt” der Erkenntnis. Was das eine anbelangt, so ist es a priori evident, daB denkende Subjekte uberhaupt z. B. befahigt sein mussen, alle Arten von Akten zu vollziehen, in denen sich theoretische Erkenntnis reali-siert. <...> Nach der anderen Seite ist es aber auch evident, daB Wahrheiten selbst und speziell Gesetze, Grunde, Prinzipien sind, was sie sind, ob wir sie einsehen oder nicht. Da sie aber nicht gelten, sofern wir sie einsehen konnen, sondern da wir sie nur einsehen konnen, sofern sie gelten, so mussen sie als objektive oder ideale Bedingungen der Moglichkeit ihrer Erkenntnis angese-hen werden».12
Die «ideale Bedingung der Moglichkeit» bedeutet daher das formale The-oretisieren einer vollziehbaren Idee, deren Verwirklichung erst auch als Inhalt der Erkenntnis geschehen kann.
Phanomenologisch lasst es sich zeigen, wie die Logik die wissenschaft-liche Typik jeder Disziplin ist. Um evident begrundet zu sein, soll eine Wis-
11 Die folgende Liste muss von unten nach oben gedacht werden, um zu zeigen, dass a) grundlegender als b) ist usw. Das gleiche Prinzip wird auch in weiteren Listen verwen-det.
12 Hua XVIII. S. 239-240.
senschaft sich auf die drei aufeinander aufgebauten Schichten der Praxis, der Normativitat und der Theorese strukturieren. In diesem Artikel wird deswe-gen die Begrundung der phanomenologischen Ethik durch diesen logischen Weg gefuhrt.
Die «Logik» der Ethik als phanomenologische Disziplin
Insbesondere in §§ 14 und 16 der Prolegomena beschreibt Husserl die spezifi-sche Beziehung zwischen «Theorese» und «Normativitat»: «[J]ede normative und desgleichen jede praktische Disziplin [beruht] auf einer oder mehreren theoretischen Disziplinen <...>, sofern ihre Regeln einen von dem Gedanken der Normierung (des Sollens) abtrennbaren theoretischen Gehalt besitzen mussen <...> Die Gesetze der ersteren (der normativen Wissenschaft) besagen <...> was sein soll, obschon es vielleicht nicht ist und unter den gegebenen Umstanden nicht sein kann; die Gesetze der letzteren (der theoretischen) hin-gegen besagen schlechthin, was ist».13
Die Theorese kann daher als «Bereich des Seins» benannt werden, und die Normativitat als «Bereich des Seinsollens». Das gilt nicht nur fur die Dis-ziplinen, sondern auch fur die bloBen Schichten der Logik.
Es folgt dann die Argumentation uber die logische Umformung von der theoretischen Formulierung zur normativen: «So schlieBt <...> jeder normative Satz der Form “Ein A soll B sein” den theoretischen Satz ein “Nur ein A, welches B ist, hat die Beschaffenheiten C”, <...>. D[ies]er <...> Satz ist ein rein the-oretischer, er enthalt nichts <...> von dem Gedanken der Normierung».14 Anders ausgedruckt sind die Satze des Seins in den Satzen des Seinsollens eingeschlos-sen, weil das «Seinsollen» sich auf das «Sein» logisch begrunden lasst.
Die hier benutzten Zitate zeigen, dass die Prolegomena und besonders das vorliegende Thema mit einer ethischen Terminologie geschrieben worden sind. Oft werden Worter, wie z. B. «Normen», «Praxis», «Kunstlehre», «Zweck», «Werte», «Gutes», «Besseres» usw., angewendet. AuBerdem sind die bloB lo-gischen Ausdrucke oft durch ethische Beispiele klargestellt: «Ein Krieger soll tapfer sein», «Ein Krieger soll nicht feige sein», «Ein Mensch soll Nachstenlie-be uben» usw. Zu diesem Parallelismus schreibt Husserl selbst u. a. folgenden Satz: «Uberhaupt durfen wir <...> zum mindesten als aquivalent setzen die Formen: “Ein A soll B sein” und “Ein A, welches nicht B ist, ist ein schlechtes
13 Hua XVIII. S. 53.
14 Ibid. S. 60.
A”, oder <...> “Nur ein A, welches B ist, ist ein gutes A”».15 Diese letzten zwei Formulierungen sind m. E. als Typik der phanomenologischen Ethik auszule-gen. Das ware infolgedessen die parallele Umformung zwischen Logik und Ethik. Fur die phanomenologische Logik gilt die folgende Struktur:
b) normative Satze: «Ein A soll B sein»;
a) theoretische Satze: «Nur ein A, welches B ist, hat die Beschaffenheiten C».
Die normativen Satze (b) haben dann als ethisches Aquivalent folgende
zwei mogliche gleichgultig normative Formulierungen:
• «Nur ein A, welches B ist, ist ein gutes А»;
• «Ein A, welches nicht B ist, ist ein schlechtes А».
Aus der samtlichen Analyse der Umformung kann man die Haupttypen der ethischen satze deuten16 (Siehe die Tabelle 1).
Alle diese Wendungen, systematisch ubersetzt in Beispiele, die teilweise von Husserl selbst stammen, lauten folgendermaBen:
• Bejahungen:
b) ethische Aquivalente: «Nur ein Krieger, der tapfer ist, ist ein guter Krieger»; «Ein Krieger, der nicht tapfer ist, ist ein schlechter Krieger»;
a) logische Umformung in normative Satze: «Ein Krieger soll/muss tapfer sein».
• Leugnungen:
b) ethische Aquivalente: «Nur ein Krieger, der nicht feige ist, ist ein guter Krieger»; «Ein Krieger, der feige ist, ist allgemein ein schlechter Krieger»;
a) logische Umformung in normative Satze: «Ein Krieger soll nicht/darf nicht feige sein».
• Negation der Bejahung:
b) ethisches Aquivalent: «Ein Krieger, der nicht tapfer ist, ist darum noch kein schlechter Krieger»;
15 Hua XVIII. S. 54.
16 Die folgende Tabelle ergibt sich insb. aus dem § 14. Auch die Titel der Zeilen und der Spalten entsprechen Husserls Terminologie.
Nur die nicht markierten Eintrage sind «unlogische» Formulierungen von mir, die aber m. E. gut beschreiben konnen, welche Satze man im Fall einer nicht wissenschaftlich begrundeten Disziplin benutzt. Solche Falle bringen eine Pseudologik mit sich, die absurd oder typisch fur einige Krankheiten ist. Sie ist infolgedessen in Bezug auf die hier vor-geschlagene Phanomenologie «unethisch». Dieser Teil der Tabelle wird im vorliegenden Artikel nicht erlautert.
AuBerdem gilt es zu prazisieren, dass Husserl fur die Beispiele der negativen Aussagen immer das Antonym anwendet, wie z. B. im Fall von «tapfer/feige», wahrend in den for-malen negativen Wendungen er immer nur «B» statt «BI» benutzt. Ordnungshalber wird auch hier dieser formale Unterschied verwendet.
a) logische Umformung in normativen Satz: «Ein Krieger muss nicht tap-fer sein».
• Negation der Leugnung:
b) ethisches Aquivalent: «Ein Krieger, der feige ist, ist darum noch kein schlechter Krieger»;
a) logische Umformung in normativen Satz: «Ein Krieger darf feige sein».
Tabelle 1
Logische Umformung Gut Schlecht Gegenteil
Bejahung A soll B sein nur ein A, das B ist, ist ein gutes A ein A, das nicht B ist, ist ein schlechtes A ein A, das B ist, ist ein schlechtes A
A muss B sein
Leugnung A soll nicht B1 sein nur ein A, das nicht BI ist, ist ein gutes A ein A, das BI ist, ist allgemein ein schlechtes A ein A, das nicht BI ist, ist allgemein ein schlechtes A
A darf nicht B1 sein
Negation der Bejahung A muss nicht B sein ein A, das nicht B ist, ist darum noch kein schlechtes A ein A, das B ist, ist darum noch kein gutes A ein A, das nicht B ist, ist darum noch kein gutes A
Negation der Leugnung A darf B1 sein ein A, das BI ist, ist darum noch kein schlechtes A ein A, das nicht B1 ist, ist darum noch kein gutes A ein A, das nicht B1 ist, ist darum noch kein gutes A
«Sollen», «Mussen» und «Durfen» stellen meiner Meinung nach ver-schiedene Formen der Ethik dar, d. h. unterschiedliche mogliche Arten und Weisen der idealen Vollziehbarkeit der Bindung zwischen Lebenswelt und Ich-Subjekt. Die phanomenologische Ethik ist deswegen im Bereich der rein theoretischen Disziplinen des Seinsollens einzuordnen.
Die ethischen Formen17 der Bindung zwischen Lebenswelt und Ich-Subjekt sind m. E. von den reinen Prinzipien des «Sollens», «Mussens» und «Durfens» vorgesehen. Die Beziehung zwischen solchen Prinzipien wird von Husserl durch logische Gesetze klar definiert: «[W]ir [konnen] statt “A soll — bzw. soll nicht — B sein”, auch sagen <...> “A muB — bzw. darf nicht — B sein”. <...> [D]ie <...> Formen “A muB nicht B sein” und “A darf B sein” [... stellen] die kontradiktorischen Gegensatze zu den obigen dar <...>. Es ist also “muB nicht” die Negation von “soll” oder — was gleich gilt — von “muB”, “darf” die Negation von “soll nicht” oder — was gleich gilt — von “darf nicht”».18
Strukturell sind infolgedessen das «Sollen» und das «Mussen» aquiva-lent, aber mit zwei moglichen Bedeutungsperspektiven; das «Nicht-Durfen» und das «Nicht-Mussen» sind nicht gleichwertig und haben zwei verschie-dene Bedeutungen; das «Durfen» folgt aus dem «Nicht-Durfen», und seine Bedeutung ist deswegen abgeleitet.
Das Sollen ist uberdies folgendermaBen beschrieben: «Zu enge ist offen-bar der ursprnngliche Sinn des Sollens, welcher Beziehung hat zu einem ge-wissen Wunschen oder Wollen, zu einer Forderung oder einem Befehl [...W] ir [sprechen] auch oft von einem Sollen, unabhangig von irgend jemandes Wunschen oder Wollen. Sagen wir “Ein Krieger soll tapfer sein”, so heiBt das nicht, daB wir oder jemand sonst dies wunschen oder wollen, befehlen oder fordern. Eher konnte man die Meinung dahin fassen, daB allgemein, d. h. in Beziehung auf jeden Krieger, ein entsprechendes Wunschen und Fordern Be-rechtigung habe; <...>. “Ein Krieger soll tapfer sein”, das heiBt vielmehr: nur ein tapferer Krieger ist ein “guter” Krieger, und darin liegt, da die Pradikate gut und schlecht den Umfang des Begriffs Krieger unter sich teilen, daB ein nicht tapfer ein “schlechter” Krieger ist. Weil dieses Werturteil gilt, hat nun jedermann recht, der von einem Krieger fordert, daB er tapfer sei».19
Diese Definition zeigt m. E., erstens dass Logik und Ethik in einer engen Beziehung ueinander stehen, und zweitens dass das Sollen als generelle Idee gilt. Besser gesagt lasst es sich als die allgemeinste Grundnorm deuten. Das
17 Unter «ethischem Formen» sind also die Begriffe «gut/schlecht» und unter «Struktur» die Begriffe «Sollen/Mussen/Durfen» zu verstehen. Nur um die Argumentation des Ar-tikels zu beschleunigen, wird aber die Formulierung «Sollen/Mussen/Durfen» fur beide Bedeutungen benutzt.
18 Hua XVIII. S. 55.
19 Ibid. S. 53-54.
Zitat lautet weiter: «In allen diesen Fallen machen wir also unsere positive Wertschatzung, die Zuerkennung eines positiven Wertpradikates, abhangig von einer zu erfullenden Bedingung, deren Nichterfullung das entsprechende negative Pradikat nach sich zieht».20 Diese Bedingung ist meiner Meinung nach das, was sich unter Husserls Begriff des «Ich-Subjekts» bestimmen lasst. Die aquivalenten Prinzipien des Sollens bzw. des Mussens konnen infolge-dessen als die Grundnormen der idealen Moglichkeiten verstanden werden. In der positiven Wendung sind beide Formen gleich; sie sind trotzdem zwei unterschiedliche, weil sie als Bedingung der Moglichkeit unterschiedlicher Perspektiven gelten: Einerseits haben die Prinzipien des Sollens fur die Le-benswelt einen Sinn, anderseits haben die Prinzipien des Mussens fur das Ich-Subjekt einen Sinn. Aus diesem Grund gibt es eine Nicht-Aquivalenz zwischen den jeweiligen negativen Ausdrncken, d. h. den «Nicht»-Satzen des Mussens und des Sollens, bzw. des Korrelates Nicht-Durfen. Der eine bezieht sich auf die Grundnorm der idealen Unmoglichkeit eines Ich-Subjekts, der andere auf die der Lebenswelt.
Der Durfen-Satz ware dann nur ein Korrelat der Grundnormen fur die Lebenswelt, d. h., dass sich hier andere Arten von Moglichkeiten regeln lassen. Die absoluten Moglichkeiten des Konnens drucken sich als erlaubte Moglichkeiten des Durfens aus: Absolut frei ist ein Ich-Subjekt in seinem Konnen, begrenzter ist es in seinem Durfen.
Folgende sind die Prinzipien, die im reinen Bereich der Ethik herrschen:
c) das «Durfen» als Prinzip der erlaubten Moglichkeiten in der «Lebens-welt»;
b) das «Nicht-Durfen» oder das «Nicht-Mussen» als Prinzipien der Un-moglichkeiten der «Lebenswelt» bzw. des «Ich-Subjekts»;
a) das «Sollen» und das «Mussen» als Prinzipien der Moglichkeiten der «Lebenswelt» bzw. des «Ich-Subjekts».
Zwei Hauptrichtungen der Ethik lassen sich infolgedessen erstellen: eine in Bezug auf das Ich-Subjekt, die andere in Bezug auf die Lebenswelt, d. h. auf alle Ich-Subjekte zusammen. Sowohl die Lebenswelt als auch das Ich-Subjekt waren nun die Gehalte der phanomenologischen Ethik, die eine gegenseiti-ge, aber asymmetrische Korrelation haben. Die phanomenologische Ethik als philosophische Disziplin gilt daher als die Beschreibung zunachst der Prinzipien dieser Ko-Konstitution, die hier mit den Namen «Sollen», «Mussen» und «Durfen» bezeichnet sind.
20 Hua XVIII. S. 54.
Horizon 1 (2) 2012 95
Der §7 der Prolegomena fuhrt in das Thema Die drei bedeutsamsten Eigen-tumlichkeiten der Begrundungen ein. Demnach soll eine phanomenologische Begrundung:
• «...in Bezug auf ihren Gehalt den Charakter fester Gefuge [haben]»;21
• «nach Gehalt und Form ganz einzigartig [sein]»;22
• ihrer Form nach nicht «an Erkenntnisgebiete gebunden [sein]».23
Sie hat infolgedessen eine einzige schon gegebene Konstitution, denn es «[herrscht] nicht Willkur und Zufall <...> in den Begmndungszusammenhan-gen, sondern Vernunft und Ordnung und das heiBt: regelndes Gesetz»24, das a priori ist. Wenn eine Begrundung kein Gesetz, keinen Gehalt, keine Form hat, oder wenn ihre Form nicht unabhangig von ihrem Gebiet ist, dann gibt es keine evidente Wissenschaft.
Ferner lassen sich im Herzen des Werkes — d. h. in den kritischen Kapi-teln gegen den Psychologismus und den Empirismus — noch Zitate sammeln, dank derer ein Vergleich zwischen Logik und Ethik machbar scheint. Manche Eigenschaften der phanomenologischen Ethik kommen heraus; Letztere soll:
• nicht psychologisch sein und keine wesentliche Verbindung mit dem faktischen Leben haben. «Einige Logiker setzen zwar in der Logik psycholo-gische Prinzipien voraus. Dergleichen Prinzipien aber in die Logik zu bringen, ist ebenso ungereimt, als Moral vom Leben herzunehmen»;25
• nicht historisch, nicht anthropozentrisch und nicht mit der Logik identi-fizierbar sein. «[E]s sei dies ein Fehler gerade so arg, wie der einer Sittenleh-re, welche mit der Naturgeschichte der menschlichen Neigungen, Triebe und Schwachheiten beginnen wollte, und indem er zur Begrundung des Unter-schiedes auf den normativen Charakter der Logik, wie Ethik hinweist»;26
• eine ideale Parallele zwischen wahr/falsch und gut/schlecht zeigen und hilfreich fur das menschliche Handeln sein konnen. «In der psychologischen Betrachtung des Denkens hat der Gegensatz von wahr und falsch ebensowe-
21 Hua XVIII. S. 32.
22 Ibid. S. 32-33.
23 Ibid. S. 34.
24 Ibid. S. 33.
25 Ibid. S. 65. Das Zitat ist von Husserl selbst aus Jasches Buch Kants Werke entnommen.
26 Ibid. S. 66. Husserl zitiert hier die Meinung Herbarts, die in dessen Werk Psychologie als Wissenschaft dargestellt ist.
nig eine Rolle <...> wie der Gegensatz von gut und bose im menschlichen Handeln ein psychologischer ist».27
Die phanomenologische Ethik ist daher weder eine Geisteswissenschaft noch eine Naturwissenschaft, aber doch eine logische Theorie, auf der sich praktische Regeln und faktische Anwendungen begrunden lassen. Dieser rein theoretische Bereich ist der Phanomenologie eigen. Sie hat die Ethik in der Lebenswelt und im Ich-Subjekt nicht als Ergebnis, sondern als Bedingung der Moglichkeit der Lebenswelt und des Ich-Subjekts aufgezeigt. Wie die pha-nomenologische Ontologie fangt auch die Ethik Husserls tatsachlich mit der Sphare des Idealen an.
AbschlieBend lasst sich die Begrnndung der phanomenologischen Ethik als rein theoretischer Wissenschaft folgendermaBen beschreiben:
• Wie im Falle der Logik lasst sich eine feste Struktur (theoretisch, nor-mativ, praktisch) hinsichtlich ihrer Gehalte, d. i. der Ideen, erkennen; so zeigt die Ethik ihre Typik (Sollen, Mussen, Durfen usw.) in Bezug auf ihre Inhalte, d. i. die Lebenswelt und das Ich-Subjekt.
• Die Gehalte der phanomenologischen Ethik sind daher die Ideen der Lebenswelt und des Ich-Subjekts. Die gute, schlechte usw. ko-konstitutive Bin-dung zwischen Lebenswelt und Ich-Subjekten ist dann die Form der Ethik.
• Die ethische Bindung zwischen Lebenswelt und Ich-Subjekt ist absolut unabhangig von den entsprechenden Erkenntnisgebieten, namlich von der realen Naturwelt und von irgendwelchem Selbst. Das bedeutet, dass die Bin-dung die beiden Gebiete identifiziert und nicht umgekehrt. Nur so bleibt sie theoretisch fest, und nach ihr konnen die Lebenswelt und das Ich-Subjekt sich «immer-wieder» ursachlich in ihrer Ursprunglichkeit neu ko-konstituieren.
Wenn in einer solchen Begrundung die Struktur der Bindung, oder die Ge-halte der Ethik, oder die Unabhangigkeit der Bindung zwischen Lebenswelt und Ich-Subjekt von Erkenntnisgebieten fehlen, dann gibt es keine phanomenologische Ethik. Die kokonstitutiv geregelte unabhangige Bindung stellt infolgedessen die Form der Ethik dar, die Lebenswelt und das Ich-Subjekt stellen ihre Gehalte, die Prinzipien des Seinsollens — die Stufenfolge «Sollen», «Mussen», «Durfen» — ihre Struktur, die reale Naturwelt und das reale Selbst ihre Erkenntnisgebiete dar.
27 Hua XVIII. S. 68. Husserl zitiert Sigwarts Logik (Band I).
Die Ethik im phanomenologischen Sinne soll als Bedingung der Moglichkeit der Ko-Konstitution von Lebenswelt und Ich-Subjekt begriffen werden. Ihre Prinzipien sind schon ideal gegeben und theoretisieren diese wesentliche Bindung. Eine solche Ethik erweist sich daher als notwendig, weil sie das Leben als «materiales Apriori» ideal ontologisch ermoglicht. Einerseits ist es also evident — wie im Fall der Wahrheit, — dass die Ethik selbst «und speziell Gesetze, Grnnde, Prinzipien sind, was sie sind, ob wir sie einsehen oder nicht. Da sie aber nicht gelten, sofern wir sie einsehen konnen, sondern da wir sie nur einsehen konnen, sofern sie gelten, so mussen sie als objektive oder ideale Bedingungen der Moglichkeit ihrer Erkenntnis angesehen werden»:28 Die Ak-tualisierung ihrer Vorschrift entspricht keinem Befehl. Andererseits ist es aber auch evident, dass ohne die Verwirklichung der Gehalte sowohl die Wahrheit als auch die Ethik sich nur auf eine ontologische ideale Allgemeingultigkeit beschranken. Nur durch die Lebenswelt und das Ich-Subjekt kann die Ethik auch eine ontologische reale Geltung gewinnen: Die Ethik selbst als schon ideal gegeben zeigt keinen lebendigen Willen.
Ihre unterschiedlichen Gultigkeitsmoglichkeiten zeigen dann, dass die Bindung notwendigerweise asymmetrisch ist. Die Lebenswelt und das Ich-Subjekt konstituieren sich selbst gegenseitig, nur auf verschiedene Art und Weise. Beide entsprechen sich ausschlieBlich in der evidenten Ethik, die sich immer in den positiven Wendungen des «Sollens» und «Mussens» ausdrnckt. Die evidente Ethik erlebt man aber in der apodiktischen Evidenz, die nur ein Erlebnis des Ich-Subjekts sein kann. Dem Ich-Subjekt gehort infolgedessen eine unmittelbare Aktivitat im Vergleich zur Lebenswelt, deren Aktivitat ih-rerseits sich weiter ausdehnt. Dieser Unterschied spielt dennoch nur in Bezug auf die Unmoglichkeiten oder die erlaubten Moglichkeiten eine interessante Rolle, weil Alternativen gegeben sind.
Aufgrund dieser Asymmetrie behaupte ich, dass man uber eine Prioritat der Ethik des Ich-Subjekts sprechen kann. Nicht allerdings im Sinne einer Hauptwertigkeit, sondern als ursachliche Begrnndung. Die Lebenswelt zeigt sich namlich als der Ursprung eines Ich-Subjekts, welches sich seinerseits aber als die Ursache der Lebenswelt aufweisen lasst. Ein aktiver Wille geht ursprnnglicher vom Ich-Subjekt als von der Lebenswelt aus. Unverzuglich kann das Ich-Subjekt ursachlich sein: Es kann immer wieder «fur und in der
28 Hua XVIII. S. 239-240.
Lebenswelt» sich erneuern. Im Gegenteil kann man der Lebenswelt keinen Willen von der Lebenswelt zumuten, denn ihr wohnt eine passive Aktivitat bereits inne. Man kann auch uber einen passiven Willen der Lebenswelt spre-chen, aber m. E. nur im Fall eines geistlichen Nachempfindens mehrerer Ich-Subjekte. Auch ein solch bewusster Wille der Lebenswelt kann phanomenolo-gisch ethisch sein. Da jedoch die Ethik per se nur frei sein kann, hat nun jeder in seinem eigenen Ich-Subjekt die Moglichkeit jederzeit und in jedem Zustand ethisch zu sein. Diese Einstellung ist dann schon Bestandteil der Lebenswelt, und dort kann sich die Moglichkeit ihrer Verbreitung ergeben. Meiner Deu-tung nach lasst sich infolgedessen die phanomenologische Ethik auch als «Ich-Subjekt-Ethik» benennen, weil sie immer vom Ich-Subjekt eingeleitet wird. Warum sollte ich also ethisch leben? Um ein aktives Subjekt sein zu konnen. Da «Leben» uberhaupt dem Sich-Erfahren als «Ich-Subj-Echt»29 entspricht.
Author
PASETTO Sara — currently pursuing a Ph. D-project at the Husserl-Archive at the Albert-Ludwigs-University in Freiburg; Ph. D. student of the Verona University.
ПАСЕТТО Сара — аспирантка (Ph. D. student) при архиве Гуссерля в Уни -верситете Фрайбурга. Магистерская степень Университета Вероны.
E-mail: sara.pasetto7@gmail.com
29 Dieser Begriff zeigt die phanomenologische Modalitat der Beziehung zwischen Ich und Subjekt. Laut seiner Etymologie bezeichnet Letzteres «was unten ist». Meiner Meinung nach sollte es als schon gegebene Materie des Ichs verstanden werden. Wenn das Ich «sein Subjekt-Sein» fuhlt, kann es die Materie seines Willens eben «echt» erleben.