| Вальтер Шпарн УДК 261.7
^ д. теол. н., почетный профессор, университет Эрлангена-Нюренберга
О (Эрланген, Германия, 91054),
л эфор, совет им. Мартина-Лютера ^ (Фарштрассе 15, Эрланген, Германия, 91054)
® Судьба во всем? небо как астрологический
справочник в лютеранстве раннего нового времени
В статье рассматривается отношение астрологии как часть интеллектуальной культуры лютеранства XVI-XVII вв. Автор выделяет два характерных подхода к астрологии: с одной стороны, положение планет рассматривалось как воплощение человеческих судеб; с другой стороны, небесные знамения могли давать указание о будущем и, следовательно, подразумевали активное человеческое действие по его исправлению. Несмотря на то, что сам Лютер не занимался астрологией, она вполне вписывается в его эсхатологическую картину мира. Среди других реформаторов и представителей лютеранского священства (Михаэль Штифель, Филипп Меланхтон, Абдиас Трев и др.). Астрология считалась нужным и почетным знанием. Не последнюю роль здесь играл трактат Меланхтона в защиту астрологии 1535 г. (Oratio de dig-nitate astrologia), подробно проанализированный автором. Несмотря на общий эмпирический характер науки XVII в. и повсеместное осуждение астрологии, был сделан ряд попыток по реформированию этой области. В заключении автор рассматривает астрологию в широком контексте христианского миллианизма.
Ключевые слова: Лютер, Меланхтон, Кальвин, Птолемей, Коперник
Volume IV
Walter Sparn
PhD in theology, professor, University of Erlangen-Nuremberg (Schloßplatz 4, 91054 Erlangen, Germany), ephorus, Martin Luthers Bund (Fahrstraße 15, Erlangen, Germany, 91054)
Alles Schicksal? Der Himmel als astrologische Auskunftei im Luthertum der Frühen Neuzeit
The article "All is Fortune? The sky as an astrology agency in the early modern time lutheranism" deals with attitude to astrology as part of the Lutheran intellectual culture of the 16—17th centuries. The author marks out two distinctive approaches to astrology that were, on the one hand, the interpretation of the planets position as the epitome of human lives, and, on the other hand, as sign of the future events. The last implies human actions with aim of correction and perfection of the picture presented in the sky. Luther himself didn't engaged in astrology, but it fat perfectly his eschatological consciousness. Among other reformers and Lutheran priests (Michael Stiefel, Philipp Melanchthon, Abdias Trew, etc.) astrology was considered as necessary and honorable knowledge. Here the Melanch-thon's support of astrology in the treatise "Oratio de dignitate astrologia" 1535 was an important argument and is analyzed in detail by the author. Despite the overall empirical character of the 16-17th centuries science within astrology was widely condemned, there had been made several attempts to reform the area. In conclusion, the author analyses astrology in the context of general Christian eschatology.
Key words: Luther, Melanchthon, Calvin, Ptolemy, Copernicus
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« 1. Zwei Muster frühneuzeitlicher Astrologie
h Die Frage „Alles Schicksal?", lässt sich für die Frühe Neuzeit nicht
и mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Denn die Astrologie, die seit der Renaissance und der Reformation eine populäre und aka-
и demische Blütezeit erlebte, beruhte auf zwei heterogenen Annahmen.
§ Einerseits nahm man an, dass der Himmel, sowohl die regulären Vor-
^ gänge als auch irreguläre Spektakel wie Kometen, sich ohne mensch-
^ liches Zutun bewegt; er verkörpert Schicksal. Andererseits schien es
s möglich, die Ereignisse am Himmel als Hinweise zu verstehen, dass
s und wie man sich mit seinem Verhalten besser auf das einstellen soll-
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и te, was auf einen zukommt, um so eine bedrohliche Zukunft abzu-
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mildern oder sogar abzuwenden. Der Himmel verkörperte nicht nur Schicksal, sondern war zugleich eine Herausforderung des bewussten, freien menschlichen Handelns im Blick auf die noch offene, kontingente Zukunft.
Aufstieg und Fall der Astrologie im 16. und 17. Jahrhundert ist ein Phänomen, das überall in Europa beobachtet werden kann. Es ist jedoch besonders interessant in protestantischen Ländern. Denn hier gab es zwei Muster der Kontingenzbewältigung durch Astrologie: ein kosmologisches und ein quasi historisches. Die kosmologische Astrologie beruhte auf der Astronomie, die dazu seit Jahrtausenden benutzt wurde und die in dieser Zeit viel mehr und viel genauere Daten der Himmelsbewegungen zur Verfügung stellte. Die quasi historische Astrologie war auch schon älter, ist uns aber ganz fremd geworden; sie beruhte nämlich auf der apokalyptischen Sicht der Weltgeschichte als eine Heils- bzw. Unheilsgeschichte, die aufgrund der alt- und neutes-tamentlichen Prophetien fester Bestandteil der kultureller Orientierung in der christlichen Welt war. In dieser Sicht war die Gegenwart ein letzter Schritt auf dem Weg zum katastrophischen Ende der Welt, bevor sie ganz neu gestaltet würde. Astrologie war hier die Methode, außergewöhnliche irdische und spektakuläre stellare Ereignisse in Beziehung zu setzten zur apokalyptischen Zeitordnung.
Beide Formen der astrologischen Prognostik zielten auf dasselbe: Sie beantworteten die Frage, wo man steht, was passieren könnte und was man tun kann, um sich anzupassen an oder sogar zu profitieren von dem Guten oder Schlechten, was auf einen zukommt. Das bis heute Spannende ist nun, dass die astronomische und die apokalyptische
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Astrologien trotz ihrer heterogenen Grundlagen in vielfältiger Wei- ^ se sich überlagerten und kombiniert wurden. Das war schon deshalb leicht möglich, weil die Erfahrungsdaten zum Teil dieselben waren: außergewöhnliche Ereignisse zwischen dem Mond und der Erde, von Kometen bis zu Erdbeben oder Überschwemmungen, aber auch
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deshalb, weil naturphilosophische und theologische Bildung meist S in einer Person vereint waren. Es wäre zu einfach, die astronomisch A
basierte Astrologie dem vermeintlich säkularen Renaissance-Humanismus der Frühen Neuzeit und die apokalyptische Prognostik der R erhitzten Endzeiterwartung religiöser Reformer zuzurechnen. Man H muss genauer fragen, aus welchen Gründen und mit welchen Motiven m
die Astrologie jeweils gefördert oder aber abgelehnt wurde. e
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2. Luther als Vorbild prophetisch-apokalyptischer i
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Astrologie a
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Martin Luther als Astrologen zu bezeichnen, mag überraschen, o denn der Reformator war ein Gegner der Astrologe, und mehr als o einmal äußerte er sich ironisch über die astrologische Praxis seines i Freundes Philipp Melanchthon. Allerdings bezog sich die Ableh- c nung, wie dann auch die Johannes Calvins, auf die so genannte pro- tt gnostische oder divinatorische, d.h. Zukunft bestimmt voraussa- u gende Astrologie, die er als Aberglauben oder als Unterstützung k magischer Praktiken ansah. Luther akzeptierte dagegen, wie seiner- N zeit selbstverständlich, die astrologia naturalis, d. h. die Berücksich- e tigung des geschöpflichen Zusammenhangs, der zwischen dem ein- . zelnen Menschen als Mikrokosmos und dem Makrokosmos besteht und der den Einfluss des letzteren auf den ersteren einschließt, vom Wetter angefangen. Aber das waren natürliche Einwirkungen, die keiner weiter gehenden Interpretation bedürftig und fähig waren. Luther war selbstverständlich auch von der religiösen Bedeutung exorbitanter stellarer Phänomene überzeugt: Sie waren besondere Wirkungen Gottes, die aus gegebenem Anlass den biblischen Ruf zur Buße nachdrücklich verstärkten. Aber auch das legitimierte keine divina-torisch-prognostische Interpretation. Luthers Ablehnung der divina-torischen Astrologie kann auch persönliche Gründe gehabt haben, denn er machte schlechte Erfahrungen mit Anwendung der Vorhersage eines prophetischen Reformators (durch Johannes Lichtenberger, 1488) auf ihn selbst: Sie wurde gegen ihn ausgelegt.
rn Das alles hinderte Luther jedoch nicht, sich „Propheten Deutsch-
te lands" zu nennen (er nannte sich auch „Hofnarr") und sein Wir-tj ken im Kontext der apokalyptischen Zeitordnung zu sehen. Er war q ein wichtiger Multiplikator der Deutung der Gegenwart als unmittel-¡.q bar vor dem Ende der Welt durch die Wiederkunft Christi stehend. o In diesem Sinne interpretierte er die tödliche Bedrohung des christ-& lichen Europas durch die osmanische Expansion, den Niedergang ^ des wahren Christentums in einer korrupt gewordenen Kirche oder « auch die soziale und politische Gewalttätigkeit seiner Zeit. Ganz tra-tn ditionell meinte auch Luther, dass biblische Genealogien die Dau-^ er des Kosmos mit 6000 Jahren annähmen und die Zeit nach Christa tus kurz sei, jedoch bis zum Ende des Römischen Reiches (das letzten der vier Weltreiche, die Dan 7 prophezeit hatte) dauere, das ja noch durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation fortgesetzt worden sei. Doch jetzt schien die Weltzeit vollendet, die Zukunftserwartung konzentrierte sich auf das dramatische Ende der „alt gewordenen" Welt, begleitet von der Angst vor den damit einhergehenden „Trübsalen". Als zeitweise wichtigste Form der Beziehung auf die Zukunft traten nun Prophetien der Endzeit auf, die aufgrund aktueller Ereignisse das Datum der Wiederkunft Christi zu identifizieren wussten. Luther selbst glaubte, dass das Auftreten des türkischen und des päpstlichen „Antichrist" mit Gewissheit anzeige, dass das Leiden der wahren Christen sehr bald durch den „lieben Jüngsten Tag" beendet sein würde. Um dies zu belegen, verfasste auch er eine Weltchronologie (Supputatio annorum mundi, 1541).
Die apokalyptische Prophetie konnte sich aber ohne weiteres mit der astronomisch basierten Prognostik verbinden, die seit Johannes Regiomontanus über genauere astronomische Daten verfügte. Umgekehrt traten auch Astronomen mit ausdrücklich prophetischem Anspruch auf, in Wittenberg z.B. der Mathematiker und Chronologe Johannes Carion, der 1521 in seiner Prognosticatio für 1524 eine Sintflut voraussagte. Der ebenfalls mit Luther und Melanchthon befreundete Mathematiker und Pfarrer Michael Sti-fel sagte in einem Rechenbüchlin vom Endt der Welt (1532) Christi Wiederkunft auf den 19. Oktober 1533, 8 Uhr früh voraus — er wurde als Betrüger arrestiert. Diese massenmedial wirksame Verflechtung astronomischer und apokalyptischer Astrologie fand vor allem in Deutschland viel Anklang. Die im Sternbild der Fische
1524 auftretende Konjunktion sowie die noch als sublunar, d. h. als ^ irregulär geltenden Kometen von 1521, 1531 und 1532 trugen dazu bei, und noch bis weit ins 17. Jahrhundert wurden sie in deutschsprachigen illustrierten Flugblättern und in lateinischen Traktaten mit dem heilsgeschichtlichen Deutungsrahmen verknüpft und als göttli-
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che Mahnung im Zeichen der Endzeit verstanden. Man hat das eine S
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„Hermeneutik des Weltuntergangs" genannt.
Das Vorbild des „Propheten" Luther hatte starke Nachwirkungen in einer Zeit, die von so etwas Unerhörtem wie der Existenz
zweier „Religionsparteien" geprägt war. Die Lutheraner sahen sich H
nicht nur von der kaiserlichen und päpstlichen Politik, sondern auch m
von der weitergehenden Reformation durch so genannte „Reformier- e
te" wie in der Pfalz, in Anhalt oder Bremen und insbesondere durch A
den Übergang des brandenburgischen Herrscherhauses zum Calvi- tt
nismus bedroht. So wurden zahlreiche Traktate des Titels wie „Pro- s
phezey und Weissagung" verfasst, die eine neuerliche Verfolgung R
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der wahren Kirche prognostizierten und vor allem den politischen Zweck verfolgten, gegen die pfälzisch-englische Koalition für die Bindung des Luthertums an Kaiser und Reich bzw. an den ständischen Konservatismus zu werben. Apokalyptisch-prophetische Flugblätter legitimierten noch den Eintritt Gustav Adolfs, des in Dan 11 prophe- U zeiten „Löwen aus dem Norden", in den Dreißigjährigen Krieg. Aber k mit dem Ende dieses Krieges kam auch die apokalyptische Erwartung N der nahen „Zukunft" Christi an ihr Ende. Allenfalls die Belagerung ^ Wiens durch die Osmanen im Jahr 1683 rief eine solche Erwartung . ansatzweise wach. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist Caspar Heu-nischs Auslegung der Offenbarung des Johannes (Haupt-Schlüssel auf die hohe Offenbahrung S. Johannis, 1684). Heunisch versuchte nochmals, die an der Abfolge von vier Weltmonarchien orientierte „ZeitOrdnung" zu aktualisieren, um den Preis allerdings, das Tausendjährige Reich der Frommen und die Wiederkunft Christi in ziemlich ferne Zukunft verschieben zu müssen (letztere auf das Jahr 2398 n Chr.).
Dieser ambitionierte Text bestätigt damit, was er eigentlich bekämpfen will: den Chiliasmus, der seit dem frühen 17. Jahrhundert in rosenkreuzerischen, reformierten und puritanischen Kreisen und seit 1675 auch im lutherischen Pietismus die apokalyptische Zukunftserwartung ersetzte. Der an sich schon ältere, aber von allen Kirchen stets verworfene Chiliasmus oder „Millenarismus"
га nahm an, noch vor der Wiederkunft Christi würden bessere Zeiten о für die Kirche oder sogar überhaupt für die Menschheit anbrechen, tj so dass das Gebot der Stunde die Arbeit und Mühe dafür sei, für die-q sen geschichtlichen „Fortschritt", wie ein neues Wort hieß, zu arbei-
¡.q ten und zu kämpfen.
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^ 3. Astronomische Astrologie im Gefolge
^ Melanchthons
^ „Denn dies eine steht fest: Wertvoll und wahrhaftig ist die Wissen-
^ schaft der Astrologie, sie ist eine Krone des Menschengeschlechtes ч und ihre ganze Weisheit ist ein Zeugnis von Gott." So urteilte Melanie chthon in seiner Oratio de dignitate astrologiae im Jahr 1535. Trotz aller Kritik Luthers machte Melanchthon die Universität Wittenberg zu einem europäischen Zentrum der astronomisch basierten prognostischen Astrologie. Seine Reform der philosophischen Fakultät behielt die Astrologie auf der Grundlage der mathematischen Astronomie bei, platzierte sie aber auch in der Physik, d.h. der Bewegungslehre, im Blick nicht nur auf den Stand von Sternen, sondern auch auf die natürliche Wirkung des Himmels auf die Erde. Mathematisches und physikalisches Wissen fundierten die Kunst (ars) der Astrologie — „Kunst" auch deshalb, weil sie weniger mit Beweisen als mit Vermutungen arbeitet. Melanchthons Lehrbücher zur Physik, die 1534 und revidiert 1549 erstmals erschienen, zeigen einerseits, dass er an der ptolemäischen und arabischen Astronomie festhält, dass er aber seine Schüler, die schon die naturphilosophischen und medizinischen Lehrstühle halten, nicht davon abhält, auch die von Kopernikus vorgestellte heliozentrische Kosmologie zu publizieren und zu diskutieren — als mathematisch-astronomische Hypothese freilich, die Astrologie nicht ausschließt.
Nicht nur philosophisch, sondern auch theologisch fühlte sich Melanchthon darin bestärkt, Horoskope für politische Akteure, für die medizinische Praxis oder für seine eigenen Kinder zu stellen. Denn in der Bibel gelten die Sterne ja als Zeit- und Zeichengeber (1. Mose 1,14), und die Bibel war die wichtigste Instanz gegen den Irrglauben an eine schicksalhafte Determination menschlichen Verhaltens. So wie Melanchthon stets gegen die „epikureische" Lehre von der Zufälligkeit allen Geschehens auftrat, so versuchte er zeitlebens, das „stoische" fatum als theoretisch unplausibel, moralisch destruktiv
und religiös inakzeptabel zu erweisen. Die astronomische Astrolo- ^ gie war hier ein starkes Argument gegen den Fatalismus: Die astralen Phänomene sind Zeichen der göttlichen Vorsehung, aber niemals die Ursache von Glück oder Unglück der Menschen: „Die Sterne machen geneigt, nötigen aber nicht", war die alte Formel. Der natür-
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liche Einfluss der Himmelsbewegungen auf dieMenschen, wie ihn S
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auch die zeitgenössische Humoralmedizin unterstellte, übt keinen Zwang aus und hebt die Willensfreiheit des Menschen, d. h. seine moralische Verantwortlichkeit nicht auf. Im Gegenteil ermahnen sie als warnende Zeichen angesichts persönlicher Dispositionen und poli- H tischer Situationen zu vorausschauend kluger Lebensführung. Auch in der Ethik spielt die Annahme der providentiellen Weisheit Gottes, welche die menschliche Willensfreiheit nicht aus-, sondern gerade einschließt, für Melanchthon eine entscheidende Rolle.
Die wichtigsten Anwendungsgebiete der Astrologie, die Medizin
und die Ethik bzw. die Politik, waren zugleich Anwendungsgebiete R
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der Historie, des dritten Zweigs der Philosophie neben Naturphilosophie und Ethik. Wie alle Humanisten schätzte Melanchthon diese Bühne exemplarischer menschlicher Geschicke als vitae magistra hoch und pflegte sie intensiv. Das verband ihn mit einem der berühmtesten Mathematiker, Arzt und Astrologen seiner Zeit, Girolamo Car- U dano. Auch dieser stellte viele Horoskope in psychologisch-medizi- k nischer und ethisch-politischer Absicht (z.B. für Jesus, für sich selbst), § sammelte aber auch die Horoskope bekannter Personen, um sie zu ver- ^ gleichen und an der historischen Erfahrung zu prüfen. Der apokalyp- . tisch-heilsgeschichtliche Deutungsrahmen spielt für Cardano gar keine Rolle, dafür umso mehr die Reflexion auf die Berufseigenschaften, dieein Astrologe aufweisen muss. Die wichtigste davon ist das ingenium, die Urteilskraft, wie auch Melanchthon meinte. Dieses Ingenium besteht in der Fähigkeit, quantitative astronomische Daten in Muster qualitativen Verstehens einzuzeichnen, die Sinn und Bedeutung besagen, also z.B. von Tierkreiszeichen oder Eigenschaften der Planeten zu sprechen. Melanchthon repräsentiert, wie Cardano, in dieser Verknüpfung renaissance-platonisches Denken; seine Affinität zur Astrologie (und seine Differenz zu Luther) erklären sich hieraus. Im 16. Jahrhundert galt es weithin als wissenschaftliche Avantgarde.
Noch der wichtigste Reformer der Astrologie im frühen 17. Jahrhundert, Johannes Kepler, gehörte zu dieser Avantgarde. Obwohl
га Kepler sich klar für die heliozentrische Astronomie entschied und о allen „sternguckerischen Aberglauben" und die geldwerte Vermark-tj tung der Astrologie ablehnte, blieb er aktiver Astrologe - wie übri-q gens auch Galileo Galilei. Obwohl Kepler seine Prognostik strikt auf ihre astronomische Basis bezog, erlaubte ihm doch seine pythagorä-o isch-platonische Weltharmonik, über die „natürliche" Astrologie hin-л aus Horoskope zu stellen und Jahresprognostiken zu verfassen. Man ^ darf also die uns geläufige Alternative von Rationalität und Esote-« rik nicht in die Frühe Neuzeit zurücktragen (tatsächlich war das nie ch eine exklusive Alternative). So darf man sich nicht wundern, dass ч ein Mathematiker und Mediziner 1635 eine Astrologische Schwedi-pl, sche Kriegs-Chronica publiziert, in der Gustav Adolfs „Empfängnis, Geburt, Leben und Tod" astrologisch rekonstruiert wird, zu Nutz der (noch) lebenden Kriegsherren (Andreas Goldmayer, 1635). Noch gegen Ende des Krieges erschien jährlich ein Astrologischer PostReuter (1640ff), in dem mehrere Astronomen prognostizieren, „was nechst der Allmacht deß Allerhöchsten Gottes auß der Constitution und Beschaffenheit der Planeten sich sonderlichen Frieds und Unfrieds-halber zutragen möchte". Und bis in die 1670er Jahre waren Jahresoder Schreibkalender im Angebot seriöser Verleger in Nürnberg oder Gotha, die neben den Festdaten auch eine so genannte Practica enthielten. Das war eine über allgemeine Regeln hinausgehende Prognostik „Vermutlicher Witterung, Finsternissen, Frucht- oder Unfruchtbarkeit, Kranckheit und deren Verhütung oder Abwendung, Zeit der Ein-samlung und Bereitung der Kräuter und anderer Artzneyen, Krieg und andern Welthändeln. Aus Astronomischem und Natürlichen Grund, Betrachtung und Erfahrung" (Abdias Trew, 1647).
4. Der Niedergang der astronomischen Astrologie im 17. Jahrhundert
Die lange Zeit übliche Erklärung, dass die Astrologie ihre Reputation mit der Etablierung der empirisch-mathematischen Naturwissenschaften verloren habe, ist historisch nicht genau; sie trifft erst für eine Zeit zu, in der die Astrologie bereits aus der Astronomie ausgeschieden war, also für die Schwelle zur Aufklärung um 1700. Die Gründe waren vielfältiger und oft wenig vorhersehbar. So enthielt die politische Theoriebildung, die im ausgehenden 16. Jahrhundert einsetzte, stets eine Diskussion des Zusammenhangs stellarer Konstellationen
und politischer Umbrüche. Das interessierte nicht nur protestanti- ^ sche, sondern auch katholische Juristen und Politiker, obwohl die Astrologie, dem Trienter Konzil folgend, aus dem Philosophiestudium katholischer Universitäten ausgeschlossen war. Aber diese politische Theorie trug zugleich zur theoretischen Schwächung der Astro-
logie bei. Denn die Politik-Autoren analysierten, wie schon Cardano, S
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vor allem die Umstände und Bedingungen des menschlichen Handelns, das nicht nur von der Vernunft bestimmt war, sondern noch mehr vonleibhaften Affekten, die ja auch klimatischen und kosmischen Einflüssen ausgesetzt waren. Es kam also darauf an, die Wahr- H scheinlichkeit zukünftiger Entwicklungen im Blick auf die beteiligten Akteure zu kalkulieren. In diesem Kontext konnte die prognostische Astrologie als eine Art Selbstbetrug aufgrund von Erfahrungsselektion angesehen werden, dem durch nüchterne Menschen-Beobachtung begegnet werden sollte; so konnte man schon 1588 in den Essais
von Michel de Montaigne lesen. R
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Noch wichtiger war, dass auch die lutherische Theologie der Astrologie ihr Vertrauen entzog, als die methodische Autorität Melan-chthons und die Plausibilität des von ihm verkörperten Wissensparadigmas verblassten. Theologische Kritik an der prognostischen Astrologie trat sowohl in den Initiativen für eine reformorientierte U praktische Frömmigkeit im frühen 17. Jahrhunderts auf als auch in der k methodologischen Revision der Theologie zugunsten einer logisch § und systematisch strengeren, ontologisch unterfütterten theologia ^ accurata. So hielt der wichtigste lutherische Theologe dieser Zeit, . der in Jena lehrenden Johann Gerhard, die prognostische Astrologie durchweg für abergläubische oder gar magische Praxis. Seine Loci theologici (1610-1625) verwarfen die Astrologie eines Cardano, aber auch die des Albertus Magnus mit Berufung auf Augustin, Luther und Julius Caesar Scaliger, dem schärfsten Gegner Cardanos. Gegen die Annahme, dass der Todeszeitpunkt eines Menschen aus dessen Nativität vorausgesagt werden könne, bemühte Gerhard sogar Pico della Mirandola, den wahrlich heterodoxen Kabbalisten. Gerhards Verdikt, das ähnlich in Wittenberg formuliert wurde, war umso einflussreicher, als es die Astrologie aus der so genannten „natürlichen Theologie" ausschied und nicht mehr zur Fähigkeit und Pflicht jedes Menschen rechnete, im „Buch der Natur" (liber naturae) zu lesen und aus ihm sich lebenspraktisch zu orientieren.
га Die theologische Verwerfung der prognostischen Astrologie hin-
u derte allerdings nicht, dass sie weiterhin zur Bewältigung von Kon-tj tingenz betrieben wurde: in der Landwirtschaft, in der Nautik und q in der Medizin. Das wurde auch von lutherischen Kirchen geduldet, ¡.q weil sie nicht zwingend missbräuchlich, d.h. deterministisch missed verstanden oder magisch appliziert wurde. Um dies zu sichern, wur-л den auch im weiteren 17. Jahrhundert ernste Versuche unternommen, ^ die Astrologie astronomisch zu reformieren. Einen solchen Versuch « habe ich ausführlich in meinem Beitrag zum Katalog der Ausstellt lung vorgestellt, den von Abdias Trew, einem in Wittenberg ausge-ч bildeten Theologen, der ab 1636 Professor der Mathematik, ab 1650 л auch der Physik bis zu seinem Tode 1669 an der Nürnberger Universität Altdorf war. Er galt als astronomische Kapazität — zurecht, auch weil er wie Johannes Hevelius bessere Mess- und Recheninstrumente konstruierte und zwei Sternwarten in Altdorf baute. Nichtsdestoweniger scheiterte sein Versuch, im Gefolge Keplers die Astrologie strikt auf die astronomischen Daten zu beschränken, d.h. alle qualitativen Interpretationsmuster auszuscheiden und die Astrologie auch von apokalyptischen Deutungen freizuhalten, obwohl der große Komet von 1664/5 und das Jahr 1666 mit seiner apokalyptischen Zahl 666 noch einmal viele Endzeit-Spekulationen auslöste. Das Scheitern Trews lag nicht daran, dass er das kopernikanische Weltsystem nicht akzeptierte, obwohl er es astronomisch für plausibler hielt als das das ptolemäische und das biblische. Letzteres wurde übrigens auch durch den Rektor des Gothaer Gymnasiums, Andreas Reyher, oder durch den damals führenden Wittenberger Theologen Abraham Calov, nicht verschwiegen. Vielmehr hielt er an der aristotelischen Physik fest, die es ihm, wie schon seinerzeit Melanchthon, erlaubte, Astrologie nicht nur mathematisch zu betreiben, sondern im Rahmen der alteuropäischen Korrelierung des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt.
Der Nachfolger auf Trews Lehrstuhl, Johann Christoph Sturm, führte die Experimentalphysik in den akademischen Unterricht ein und trennte sich vom bisherigen, hermeneutisch offenen Begriff der Empirie zugunsten eines mechanistischen Weltbildes, das die himmlischen und die irdischen Phänomene mit ein und derselben physikalischen Kausalität erklärte, qualitative Wirkungen daher kategorisch ausschloss. Kein Wunder, dass Sturm seinen Vorgänger wegen dessen Kritik des spekulativen Prognostik lobte, aber 1679 feststellte, dass kein
Mathematiker und Astronom mehr Astrologie betreibe, diese „aller- ^ leerste Kunst". i
5. Ende der Astrologie — Ende der Prognostik?
Krise gehört die Lösung, die seinerzeit für den Ausfall der seriösen Astrologie gefunden wurde. Sowohl die astronomisch als auch die apokalyptisch basierte Bewältigung von Kontingenz wurden seit dem
Natürlich war die Astrologie auch jetzt, nach dem Verlust ihrer the -oretischen Basis, nicht einfach am Ende. Die weitergehende astrologische Praxis behalf sich mit synkretistischer Esoterik oder schlichtem Aberglauben - und das ist bis heute der Fall, und nicht nur an den Rän- ö dern der Gesellschaft, und es handelt sich um ein gutes Geschäft. r Es wird auch so bleiben, denke ich, solange wesentliche Parameter i des klassisch modernen Weltbilds, vor allem die Newton'sche Physik m und Descartes' Isolierung des Denkens gegenüber der lebensweltlichen w
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Korrelation von Mensch und Natur, in faktischer Geltung bleiben. >
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Die Veränderungen, die seinerzeit im kleinen Altdorf oder im kleinen Gotha eintraten, waren Momente der großen Crise de la conscience Européenne, wie sie Paul Hazard nannte. Zu den Folgen dieser o
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Übergang zur Aufklärung um 1700 kompensiert durch eine andere w
Strategie, die bis heute ein praktisch dominantes Paradigma darstellt. u Das Stichwort habe ich schon genannt: Chiliasmus. Natürlich hat die- k ser moderne Chiliasmus seine Herkunft im apokalyptischen Szena- N rio verlassen; die Orientierung in einer endlichen „Zeit-Ordnung" t wird in diesem sozusagen funktionalen Chiliasmus ersetzt durch die .. Erwartung einer offenen, unbegrenzten Zukunft. Die Beziehung der Gegenwart zu dieser Zukunft bleibt theoretisch offen, wird vielmehr praktisch und prozessual realisiert: Die Zukunft ist das offene Feld für die menschliche Arbeit der Vervollkommnung der Menschheit, der aktiven Teilnahme am progrès perpetuel, wie das Gottfried Wilhelm Leibniz erstmals formulierte. Die Zukunft ist nunmehr ein Projekt: das Projekt der naturwissenschaftlich basierten technologischen und politischen Realisierung des Fortschritts.
Der Chiliasmus des Fortschritts, der dieses Projekt bewegt, verleitet ja gelegentlich auch zur Prognostik, zur „Futurologie", wie das jetzt heißt. Aber lesen Sie mal das 1912 erschienene, wissenschaftlich aufgeputzte Buch „Wie die Welt im Jahr 2012 aussieht" — Sie wissen nicht, ob Sie lachen oder heulen sollen... Aber schon Leibniz war klar,
га dass die von uns produzierte Zukunft eher mehr als weniger kontin-
u gent ist, weil sie Prozesse der Beschleunigung und der Verknappung
tj der Zeit induziert. Weil wir Menschen, wie Leibniz' Theodicee (1710)
q in religiöser Sprache sagte, den Willen Gottes, der unfehlbar stets zu
¡.q seinem Ziel kommt, im Einzelnen nicht kennen, sollten wir die jewei-
o lige Realität als jenem Willen entsprechend, d. h. als gut annehmen.
л Unser weiteres Handeln können wir am mutmaßlichen Willen Got-
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^ tes ausrichten, d.h. an den Handlungsregeln, die wir dem Schöpfer
« der besten allermöglichen Welten vernünftiger- undfrommerwei-
ch se zuschreiben können. Sie sehen, die Funktionsstelle der Astrolo-
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ч gie im psycho-kulturellen Haushalt bleibt bestehen. Aber an die Stelen le der astrologischen Prognostik tritt die chiliastische Verknüpfung eines maximalen Optimismus im Blick auf die Zukunft mit dem maximalen Realismus im Blick auf das Jetzt.
Wie stabil diese Verknüpfung war, lässt sich bei Immanuel Kant nachprüfen. Er machte sich keine Illusionen über den widersinnigen Gang menschlicher Dinge; dennoch findet er in der Geschichte der Menschheit einen Plan der Natur zurVervollkommnung der Menschengattung — keinen linearen, aber doch tendenziellen Plan, der alle Mühe um den kulturellen Fortschritt rechtfertigt. Kant nennt diese Sicht einen nicht schwärmerischen, sondern vernünftigen, weil langfristig praktischen Chiliasmus. Er kennt Apokalyptik nur mehr als Schreckbild, dem wir keine Realität verschaffen sollten, und die Astronomie nur, insofern der Anblick des zahllos gestirnten Himmels unsere Wichtigkeit als Naturwesen gleichsam vernichtet. Unser Wert wird dagegen unendlich erhoben als denkende Wesen, die frei dem moralischen Gesetz in uns entsprechen, denn dieses moralische Gesetz „offenbart ein von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben." Dass dies keine zureichende oder auch nur beruhigende Auskunft ist, wenn es um unsere Beziehung zu der (nach wie vor kontingenten!) Zukunft geht, das dürfte inzwischen auch dem gläubigsten Progressisten klar geworden sein. Selbst wenn man absieht von der kulturellen Ubiquität und ökonomischen Potenz der mehr oder weniger fiktionalen Prognostik auch heutzutage (z. B. in Horoskopen), so bestimmen uns doch die Meisterprojekte einer neuen vollkommenen Welt nach wie vor: der „amerikanische Traum" und das kommunistische Ideal. Beide waren und sind nicht frei von enthusiastischem, und das heißt: parareligiösem Chiliasmus.