Научная статья на тему 'Die Gestalten des Fremdlings in der Lyrik von I. Bachmann (images of the stranger in I. Bachmann's poetry)'

Die Gestalten des Fremdlings in der Lyrik von I. Bachmann (images of the stranger in I. Bachmann's poetry) Текст научной статьи по специальности «Языкознание и литературоведение»

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Ключевые слова
АВСТРИЙСКАЯ ЛИРИКА / ИНГЕБОРГ БАХМАНН / ЧУЖАК / ЧУЖОЙ / ДРУГОЙ / КОНЦЕПТ "СВОЕ" И "ЧУЖОЕ" / CONCEPT "OWN" AND "ALIEN" / AUSTRIAN POETRY / INGEBORG BACHMANN / STRANGER / ALIEN / OTHER

Аннотация научной статьи по языкознанию и литературоведению, автор научной работы — Сухина Елена Игоревна

В статье раскрывается понятие чужак в сопоставлении с понятиями другой и иностранец и прослеживается эволюция образа чужака в лирике Ингеборг Бахманн. В центре внимания ипостаси чужого, многоплановое раскрытие указанного феномена, а также положительные коннотации и отрицательные симптомы, сопровождающие данное явление.

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Die Gestalten des Fremdlings in der Lyrik von I. Bachmann

The article is designed to clarify the notion of stranger as compared to those of other and foreigner and trace the evolution of the stranger's image throughout Ingeborg Bachmann's poetry. The article focuses on diverse images of the alien, multidimensional coverage of the phenomenon, as well as positive connotations and negative symptoms attributed to this phenomenon.

Текст научной работы на тему «Die Gestalten des Fremdlings in der Lyrik von I. Bachmann (images of the stranger in I. Bachmann's poetry)»

Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2012. № 3

СОПОСТАВИТЕЛЬНОЕ ИЗУЧЕНИЕ ЛИТЕРАТУР И КУЛЬТУР

Elena Sukhina

DIE GESTALTEN DES FREMDLINGS IN DER LYRIK

VON I. BACHMANN

В статье раскрывается понятие "чужак" в сопоставлении с понятиями "другой" и "иностранец" и прослеживается эволюция образа "чужака" в лирике Ингеборг Бахманн. В центре внимания — ипостаси "чужого", многоплановое раскрытие указанного феномена, а также положительные коннотации и отрицательные симптомы, сопровождающие данное явление.

Ключевые слова: австрийская лирика, Ингеборг Бахманн, чужак, чужой, другой, концепт "свое" и "чужое".

The article is designed to clarify the notion of "stranger" as compared to those of "other" and "foreigner" and trace the evolution of the stranger's image throughout Ingeborg Bachmann's poetry. The article focuses on diverse images of the alien, multidimensional coverage of the phenomenon, as well as positive connotations and negative symptoms attributed to this phenomenon.

Key words: Austrian poetry, Ingeborg Bachmann, stranger, alien, other, concept "own" and "alien".

I. Definitionen des Fremden

Das deutsche Wort , fremd" ist ausgesprochen vieldeutig, was sich laut Michael Hofmann schon daran zeigt, dass es in verschiedene Sprachen mit jeweils verschiedenen Wörtern übersetzt werden muss1. Dies betrifft auch den Begriff des Fremdlings oder des Fremden, wobei es sich in diesem Fall um den Fremden und nicht um das Fremde handelt. Wenn wir die theoretischen Ansätze von M. Hofmann in Bezug auf das Fremde etwas modifizieren, kann der Fremde aus linguistischer Sicht folgendermaßen definiert werden:

1) In erster Linie als „externum", „peregrinum", ,foreigner" — jemand, der außerhalb des eigenen Bereichts existiert bzw. wahrgenommen wird, oder, um mit den Worten von M. Hofmann zu sagen, ein „von weit her

Сухина Елена Игоревна — канд. культурологии, ст. преподаватель кафедры региональных исследований факультета иностранных языков и регионоведения МГУ имени М.В. Ломоносова; тел.: 8-965-284-54-34, e-mail: elenasu@mail.ru

1 Hofmann M. Interkulturelle Literaturwissenschaft: eine Einführung. Paderborn, 2006. S. 15.

Kommender"2. In diesem Fall spielt ein topographischer Aspekt eine entscheidende Rolle, was sich auch in der Etimologie des deutschen Wortes fremd" zeigt: das althochdeutsche ,fran" hatte die Bedeutung „fern".

2) Zweitens als „alienus", „alien", d.h. nicht zugehörig. „Fremd ist in diesem Sinne, was einem anderen gehört, wobei in diesem Verhältnis auch der Aspekt der Nationalität eine wichtige Rolle spielt"3.

3) Drittens als „étranger", „stranger" — jemand, der komisch, sonderbar, eigenartig ist oder, eher gesagt, als solcher empfunden und eingeschätzt wird. Anders ausgedrückt, jemand, der von fremder Art ist und als fremdartig wahrgenommen wird.

4) Da könnte noch eine Deutungsebene hinzugefügt werden: der Fremde als „desconocido", „unknown" — jemand, der unbekannt ist oder wirkt.

Ins Russische kann man das Wort „der Fremde" ebenfalls auf viele verschiedene Weisen übersetzen, darunter: "иностранец", "чужеземец", "приезжий", "незнакомец", "посторонний", "чужак". All diese Vokabeln unterstreichen diverse Aspekte des Fremdseins bzw. des Fremd-Wirkens.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Fremde folgende Identitäten annimmt: 1) ein Unbekannter; 2) ein „von weit her Kommender"; 3) jemand, der einer bestimmten Nationalität oder einem bestimmten Kulturkreis nicht zugehörig ist oder als solcher gilt; und letztens; 4) jemand, der „anders" und — in der Extremform — „komisch" vorkommt.

II. Unterschiede zwischen dem Anderen, dem Fremden

und dem Ausländer

Beim Vergleich mit dem Anderen und dem Ausländer weist der Fremde eine Reihe von wichtigen Merkmalen auf. Im Sinne der Begriffserklärung von Wolfgang Müller-Funk4 bezieht sich der Andere nicht (oder eher gesagt, nicht unbedingt) auf einen fremden Raum, entzieht sich aber dem Ich im entscheidenden Moment. Der Andere ist an und für sich ein Konstitutionsbegriff ohne geographische, kulturelle und symbolische Prägung, der im philosophischen Diskurs in Bezug auf das Selbst definiert wird und auf die komplexe Interaktion von Identität und Alterität zurückzuführen ist.

2 Ibidem.

3 Ibidem.

4 Müller-Funk W. Das Eigene und das Andere / Der, die, das Fremde. Zur Begriffserklärung nach Hegel, Levinas, Kristeva, Waldenfels // Habsburg postcolonial. Gedächtnis — Erinnerung — Identität / Hrsg. J. Feichtinger, U. Prutsch u. M. Csaky. Innsbruck, 2003. S. 83-95.

Im Unterschied zum Anderen und zum Ausländer wird der Fremde in einem symbolisch markierten Raum verortet oder auf eine Ebene bezogen, die dem Ich nicht zugänglich ist bzw. die sich dem Verständnis des Ich entzieht. Der Fremde existiert an der Grenze des Verstehbaren und Begreifbaren und erweist sich als durchaus rätselhaft und unheimlich.

Der Ausländer hat seinerseits einen Bezug auf einen klar umrissenen geokulturellen Raum, dessen Markierungen sich auf der realen — oder mit dem gleichen Wahrscheinlichkeitsgrad auf der imaginären — Karte befinden. Er wird außerhalb der eigenen Kultur als Mensch mit anderer Staatsangehörigkeit, anderer Sprache und anderer Denk- und Verhaltensweise positioniert. Der Ausländer gilt nicht immer und nicht unbedingt als unheimlich wie der Fremde, auch wenn er unter bestimmten Umständen in diese Rolle schlüpfen kann, besonders beim Stereotypisieren.

Vom Fremden gilt also laut Wolfgang Müller-Funk Folgendes: 1) Er ist das Ergebnis eines Ausschlusses. 2) Er hat eine kulturelle Konnotation. 3) Er ist das Andere der Vernunft, der Gegenpol zu okzidentaler Rationalität. 4) Er ist der Mensch auf Wanderschaft, der Mensch ohne festes Heim (z.B. bei Georg Simmel5). 5) Anders als der Ausländer kann der Fremde ein ethnischer Fremder sein, muss es aber nicht (in dieser Hinsicht muss man die Fremdheit der Geschlechter, Generationen, sozialen Schichten, usw. bedenken)6.

III. Die Gestalten des Fremdlings in der Lyrik von I. Bachmann

In der Lyrik von I. Bachmann nimmt der Fremde oder der Fremdling verschiedenste Gestalten an. In erster Linie erscheint das lyrische Ich als Fremdling für sich selbst und/oder für die Welt, wobei diese Ich-Instanz in Gestalt eines verlorenen und verworfenen Menschen, eines Menschen ohne Herkunft und Namen, eines Heim- und Heimatlosen, eines Flüchtlings, eines Exilierten und Toten auftritt. Als Beispiel dafür können die Gedichte „Entfremdung", „Wie soll ich mich nennen?", „Curriculum Vitae" und „Exil" dienen.

Weitere wichtige Formen des Fremdlings sind der Schatten, der häufig als entfremdetes Ich funktioniert (z. B. „Schatten Rosen Schatten"), und das Du, das seinerseits entweder als Doppelgänger des Ich auftritt oder als Fremder und „Ganz Anderer" in seiner Welt fungiert.

Dazu gesellen sich die Figuren des nahen und des fernen Fremden. Unter dem nahen Fremden versteht Georg Simmel in seinem „Exkurs über den Fremden" (Band „Soziologie") die soziale Figur des Wandern-

5 Simmel G. Exkurs über den Fremden // Simmel G. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Ges. Werke. Bd 2. Berlin, 1968. S. 509—512.

6 Müller-Funk W. Op. cit. S. 83-95.

den, „der heute kommt und morgen bleibt"7. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er ebenso wie die Armen oder innere Feinde einer Gruppe angehört, zugleich aber auch wegen seines prekären Status außerhalb dieser Gruppe existiert und in einem bestimmten Sinne dieser Gruppe entgegengesetzt bleibt. Das nahe Fremdsein wird in der Lyrik von I. Bachmann in sozialer, kultureller und geistiger Hinsicht thematisiert (und dementsprechend in den Gedichten „Paris", „Mirjam" und „Ein Monolog des Fürsten Myschkin" dargestellt).

Mit dem fernen Fremden wird dagegen die Gestalt gemeint, die von außereuropäischer Herkunft ist und mit der literarischen Verarbeitung der postkolonialen Erfahrungen verbunden ist. Das Motiv des fernen Fremdseins taucht in „ Liebe: Dunkler Erdteil" und in den aus dem Nachlass veröffentlichten Afrika-Gedichten und Gedichtentwürfen auf.

Als besondere Form des Fremdseins seien auch die personifizierten Stadtviertel, Städte und Länder erwähnt, die in der Lyrik von I. Bachmann als Fremdlinge fungieren: England als naher Fremder und Harlem als ferner Fremder.

Im Mittelpunkt des vorliegenden Kapitels wird vorwiegend ein Aspekt des Fremdseins stehen: das lyrische Ich als Fremdling.

IV. Das lyrische Ich als Fremdling für sich selbst und/oder für die Welt

Seit den positiven und lebensbejahenden Zeilen: „Ich bin immer ich" im Gedicht „Ich" vergeht nicht so viel Zeit, bis das lyrische Ich im Werk von I. Bachmann zunehmend zum Fremdling wird — für sich selbst und/oder für die Welt. Welche Merkmale weist diese Gestalt auf und wie verläuft der Prozess der Verwandlung in einen Fremdling in den Gedichten „Entfremdung", „Wie soll ich mich nennen?", „Curriculum Vitae" und „Exil"?

Im Gedicht "Entfremdung" wird das lyrische Ich einerseits von innen her in einen Fremdling verwandelt, indem es die Fähigkeit, das Nahe und das Gewohnte zu sehen, verliert. Wenn man bedenkt, dass die Poetik des Sehens eine wichtige Rolle im Werk von I. Bachmann spielt und dass das Sehen-Können eigentlich die Möglichkeit der Welt- und Selbsterkenntnis in sich birgt, wird die Bedeutung des Geschehenen klar:

In den Bäumen kann ich keine Bäume mehr sehen.

[...] Auf den Bergen werden nachts die Feuer brennen.

Soll ich mich aufmachen, mich allem wieder nähern?

Ich kann in keinem Weg mehr einen Weg sehen.

Das Nicht-Mehr-Sehen-Können signalisiert den Selbstverlust, wobei sich das lyrische Ich auch der Außenwelt gegenüber verschließt und sich von seiner Umgebung entfernt.

7 Simmel G. Op. cit. S. 509-512.

Andererseits wird das schreibende Ich von der Außenwelt (nicht von der Gesellschaft, sondern von der Natur) als Fremdling betrachtet und dadurch zu einem gemacht. Im Gegensatz zur später von I. Bachmann besungenen Gegend, wo „alles einenen Begriff von mir hat" (in „Prag Jänner 64"), wird das lyrische Ich in diesem Fall nicht als Teil dieser Welt anerkannt. Vor seinen Augen „flieht der Wald", vor seinem Ohr „schließen die Vögel den Mund", es wird ihm „keine Wiese zum Bett". In der Mitte des Gedichtes ändert sich die Fokalisierung, aber unabhängig davon, aus welcher Perspektive der innere Zustand des Ich eingeschätzt wird, — aus eigener Sicht oder aus der Sicht der Außenwelt, — fällt das Urteil gleich aus: „fremd".

Im Gedicht „Wie soll ich mich nennen?" werden weitere wichtige Merkmale des Fremdwerdens und des Fremdseins ans Licht gebracht. Das Fremdsein deutet sich zunehmend als Identitätsverlust und als „-los"-Zustand an. Das schreibende Ich gibt zu:

.. .Ich habe vergessen, woher ich komme und wohin ich geh [...] Ein Wort nur fehlt! Wie soll ich mich nennen, ohne in anderer Sprache zu sein.

Ohne klar umrissene Gestalt, ohne Herkunft, ohne Bestimmungsort, ohne Namen — so präsentiert sich das lyrische Ich. Die fehlende Herkunft und der verlorene Name erweisen sich als wichtige charakteristische Merkmale des Fremdlings sowohl in der Lyrik als auch in der Prosa von I. Bachmann. „...auch der Name von dem Fremden muss im See verschlammt sein...", heißt es im Malina-Roman. Um die eigene Identität zu bewahren und einen Stützpunkt in seiner Existenz zu haben, muss man über seine Herkunft und sein Heim im Klaren sein und beim Namen genannt werden. Doch gerade dieser „-los"-Zustand eröffnet in diesem Gedicht die Möglichkeit, viele Gesichter und viele Körper zu haben, viele Leben durchzumachen und viele Wege zu entdecken. Dabei spielen sich vor den Augen des Lesers die Szenen der fast märchenhaften Verwandlung von einem Baum in einen Vogel, von einem Ei in ein beflügeltes Ich ab:

[.] ich bin von vielen Leibern besessen, ein harter Dorn und ein flüchtendes Reh.

Interessant ist auch, dass das Fremdsein sowohl in diesem Gedicht als auch in späteren lyrischen und prosaischen Texten von I. Bachmann mit dem Motiv des stark ausgeprägten Schuldbewußtseins in Verbindung gebracht wird. Ob der Fremde dabei als Täter, als Opfer oder als beides dargestellt wird, sieht er sich in diesen „Reigen der Schuld" mit einbezogen:

Wann begann die Schuld ihren Reigen, mit dem ich von Samen zu Samen schwamm? [...] ich will dem Pfeil dieser Schuld entrinnen, der mich in Sandkorn und Wildente sucht.

Wenn wir die Klassifikation von Bernhard Waldenfels8 annehmen, handelt es sich in den oben zitierten Gedichten vorwiegend um die Entfremdung auf der intrasubjektiven Ebene, das heißt um die Spaltung im lyrischen Ich. Im Laufe der Zeit gesellen sich dazu auch zunehmend eine intersubjektive Ebene, die mit der Entfremdung zwischen Ich und Du verbunden ist, und eine interkulturelle Ebene, die die Erfahrungen der kulturellen, historischen, sprachlichen und sozialen Fremdheit umfasst. Die Gestalt des Verlorenen und Verworfenen, des Menschen ohne Herkunft und Namen entwickelt sich im Werk von I. Bachmann weiter zum Durchreisenden und Heimatlosen, zum Flüchtling und dem Exilierten. Die Bachmannsche Lyrik ist eine Odyssee, in der sich das Fremdsein mit dem Motiv der Wanderung und des topographischen und geistigen Nicht-von-Hier-Seins verknüpft:

In einer großspurigen Zeit muss man rasch von einem Licht ins andre gehen, von einem Land ins andre, unterm Regenbogen. —

sagt das lyrische Ich in „Curriculum Vitae".

Ich mit der deutschen Sprache [...] treibe durch alle Sprachen... —

redet ihm der Tote in „Exil" nach.

In „Curriculum Vitae" spricht die schreibende Instanz über sich in der ersten Strophe in der dritten Person, so dass der fremde und distanzierte Ton von Anfang an angegeben wird. In der zweiten Strophe tritt das lyrische Ich aus dem Schatten heraus und lässt sich sofort als dieser Mann mit „nackten" Augen erkennen, für den die Nacht zu lang ist. Es ändert sich dabei die Fokalisierung, aber der Eindruck, dass dieses „Ich" als „Er", als „Fremder" gelesen werden soll, bleibt erhalten.

In diesem Gedicht werden weitere wesentliche Aspekte des Fremdseins thematisiert. Der Leser hört einen Monolog des Menschen, der durch die Belastung der Vergangenheit und die Erinnerung an die „verbrämte" Geschichte zum Fremden geworden ist. Als Ergebnis kann er sich nun weder zur Vergangenheit noch zur Gegenwart bekennen und fühlt sich von der Zeit und der damit zusammenhängenden historischen und sozio-kulturellen Realität entfremdet. Wie im Gedicht „Wie soll ich mich nennen?", taucht das Motiv des Schuldbewußtseins auf, das in die-

8 WaldenfelsB. Der Stachel des Fremden. Frankfurt am Main, 1990. S. 17.

ser einen Gestalt gleichzeitig die Rollen des Täters und des Opfers zusammenbringt. Gefoltert von den Gedächtnisbildern, sieht sich das lyrische Ich als Täter — als „Häuptling", der „durch die Stadt von zehnmalhunderttausend Seelen" schritt und dessen Fuß „kalt" „auf die Seelenasseln unterm Lederhimmel" trat. Zur gleichen Zeit empfindet sich dieser Mann als Opfer mit „Disteln im Herz", das um seine Jugend beraubt worden ist und im Laufe der Zeit alles verloren hat, was zu verlieren war. Es entsteht dabei ein sehr wichtiges Motiv des Fremdseins eines Zurückgekehrten, das sehr oft in I. Bachmanns Erzählungen eine ausschlaggebende Rolle spielt (z. B. in „Jugend in einer österreichischen Stadt" und „Drei Wege zum See"). Nach der Rückkehr in das sogennante Heim wird man plötzlich für sich selber und für die Anderen zum Fremden, sogar mehr als vorher, beim Wandern in der „Außenwelt". An der Stelle des Heims findet das lyrische Ich in „Curriculum Vitae" die Ruinen der Vergangenheit:

.wach war ich,

zwischen Eisskeletten sucht' ich den Weg, kam heim [...] und weißte mit Sonnenresten die Ruinen.

Vor diesem Hintergrund entstehen auch die Motive des sozialen Fremdseins und des radikalen Fremdseins, die weiter im Gedicht „Exil" entwickelt werden.

Das Gedicht „Exil" ist die Apotheose des Fremdseins. Da wird das schreibende Ich als Fremdling im echten Sinne des Wortes dargestellt: als Unbekannter, als „von weit her Kommender", als Außenseiter und Nicht-Zugehöriger, und schließlich, als jemand, der anders ist und wirkt. Fremd wird diese Gestalt — „gemeldet nirgends mehr" und „unbekannt" — nicht nur für sich alleine oder für die Natur, sondern auch für ihre sozio-kulturelle Umgebung. Das Gedicht-Ich wird nicht nur als topographischer Fremder, eine Art von „misplaced person", sondern auch als sozialer Fremder geschildert — ohne Meldung, ohne Haus, „abgetan" und vergessen.

Der sozial Verlorene und Verworfene, als eine der Erscheinungsformen des nahen Fremden, tritt u.A. auch in „Paris", in dem „aufs Rad der Nacht geflochten" die Verlorenen schlafen, in „Curriculum Vitae", in dem das „schnapsatemblinde" und „nackte Aug" der Hauptgestalt unter Straßenlaternen schwankt, in „Böhmen liegt am Meer" auf. (In „Böhmen liegt am Meer" wird jedoch eine ganz andere Bedeutung dieser Gestalt zugeschrieben: „Ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, der nichts hält", leidet nicht unter seinem sozialen Status, sondern fühlt sich durch diesen „-los"-Zustand dazu befähigt, „das Land seiner Wahl zu sehen".)

Noch eine Erscheinung, die in „Curriculum Vitae" und „Exil" deutlich wird, ist das, was Michael Hofmann als „radikales Fremdsein"9 bezeichnet. Unter dem radikalen Fremden versteht er in seinem Band das Lebensfremde, also den Tod. In den beiden oben genannten Gedichten von I. Bachmann lässt sich diese Lebensfremdheit erkennen, die den „Häuptling" in „Curriculum Vitae" an die Schwelle des Todes bringt und den Tod für ihn begehrenswert macht und die das lyrische Ich in „Exil" in einen selbsterklärten Toten verwandelt.

In „Exil" drückt sich das Fremdsein durch die Verneinung, die Selbst-Abschaffung, den Nicht-Status aus, sowie durch die sprachliche Abgrenzung und die Verletzung der grammatischen Regeln. Das Fremdwerden wird also vom Sprachverlust begleitet, dessen Bedeutung dadurch klar wird, dass das Sprechen- zusammen mit dem Sehen-Können im Werk von I. Bachmann zu den wichtigsten Stützpunkten der Identität und Triebfaktoren der Erkenntnis zählen.

In seiner Extremform führt das Fremdsein zur Entfremdung vom eigenen Körper und zu seinem Verlust. Der Fremde als Phantom oder sogar als Schatten — das ist wohl noch eine Gestalt des Fremdlings in der Lyrik von I. Bachmann. In „Schatten Rosen Schatten" wird man durch eine fremde (oder eher gesagt, fremd wirkende) Umgebung in einen Fremden verwandelt. Wenn wir die innere Entwicklung des Gedichts nachvollziehen und vervollständigen, erweist sich auch der Schatten des fehlenden lyrischen Ich als fremdes Wesen.

V. Kurze Zusammenfassung

Wenn wir die wichtigsten Funktionen des Fremdseins in den analysierten Gedichten kurz zusammenfassen, wird klar, dass es vieldeutig ist und gleichzeitig mit negativen und positiven Erscheinungen in Verbindung gebracht wird. Das lyrische Ich wird zum Fremden im Werk von I. Bachmann:

• um dadurch zugrunde zu gehen und auf den Grund zu kommen;

• um dem Selbst und der Welt durch die entstandene Distanz näher zu kommen;

• um beim Verlust der Identität eine beliebige neue Identität annehmen zu können, um Empathie empfinden, viele andere Wege durchmachen und andere Kulturen in sich mit einbeziehen zu können (Es handelt sich dabei um eine Utopie des Alles-Sein-Könnens, wie bei der Begegnung des Ich mit Malina: „...darum exilierte ich ihn aus Belgrad, nahm ihm seinen Namen, dichtete ihm mysteriöse Geschichten an, bald war er ein Hochstapler, bald ein Philister, bald ein Spion, und wenn ich besser gelaunt war, ließ ich ihn aus der Wirklichkeit verschwinden und brachte ihn

9 Hofmann M. Op. cit. S. 16.

unter in einigen Märchen und Sagen, nannte ihn Florizel, Drosselbart...", liest man in Kapitel 1 „Die Personen");

• um das Fremdsein als Diagnose, als Folge der sozio-kulturellen und historischen Erfahrungen zu erleben.

Weitere wichtige Aspekte des Fremdseins entfalten sich in den Gestalten des nahen und fernen Fremden, die jedoch so zahlreich und vielschichtig sind, dass sie eines gesonderten Kapitels bedürfen.

Literaturauswahl

Hofmann M. Interkulturelle Literaturwissenschaft: eine Einführung. Pade-born, 2006.

Müller-Funk W. Das Eigene und das Andere/Der, die, das Fremde. Zur Begriffserklärung nach Hegel, Levinas, Kristeva, Waldenfels // Habsburg postcolonial. Gedächtnis — Erinnerung — Identität / Hrsg. J. Feichtin-ger, U. Prutsch u. M. Csaky. Innsbruck, 2003. Simmel G. Exkurs über den Fremden // Simmel G. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Ges. Werke. Bd 2. Berlin, 1968.

Waldenfels B. Der Stachel des Fremden. Frankfurt am Main, 1990.

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